4

1548, Montag, 25. April 2027

Westantarktis

Grabungsstätte im Ellsworth-Subglazialhochland

Der Ring

 

Kaum dass Lewis über Funk den Befehl weitergegeben hat, zuckt ein Lichtblitz über die Innenfläche des Rings. Zu meiner Überraschung klettern die Forscher von den Gerüsten herunter. Ich bin erleichtert, denn ich will auf keinen Fall in meinem Bericht erklären müssen, dass Leute in den Tod gestürzt sind, weil sie nicht wussten, wie man ein einfaches Sicherungsgeschirr anlegt. Allerdings verrät mir der Rückzug noch nicht, was die Einleitung der Stufe Omega nun wirklich bedeutet.

„Jetzt sind wir dran.“ Aaron berührt mich an der Schulter. „Komm mit.“

„Womit sind wir dran?“, rufe ich. Aaron verlässt schon den Verschlag und läuft zur Treppe. Ich folge ihm eilig und packe ihn am Arm. „Was hast du vor?“

„Das letzte Puzzleteil.“

Wieder zuckt eine elektrische Entladung über den Ring. Meine Nasenhaare kringeln sich, als ich Ozon rieche − chlorähnlich. Der Wind wird stärker. „Aaron, weißt du überhaupt, was das für ein Ding ist?“

Er sieht mich von der Seite an und schweigt.

„Das fasse ich als ein ‚Nein‘ auf.“

„Es ist eine Gelegenheit“, sagt er schließlich. „Jemand hat es hiergelassen und uns Hinweise gegeben. Soweit ich es sagen kann, sind wir die Ersten mit den richtigen Werkzeugen und der nötigen Intelligenz, um die Teile zusammenzufügen. Und wir haben alles gelernt, was wir lernen konnten. Das da“, er zeigt mit einem Finger auf den glühenden Ring, „ist der nächste Schritt. Und wir müssen ihn tun, Pat.“

Kennen Sie diese Filmszenen, wenn die Hauptperson durch eine Tür gehen will und Sie wissen schon, dass auf der anderen Seite etwas Böses lauert? Sie schreien den Bildschirm an: „Lass das sein!“, aber er oder sie hört es nicht? So empfinde ich diesen Moment, nur dass es sich nicht um die Wiedergabe einer Aufzeichnung handelt. Wir erleben es in Echtzeit. Und im Gegensatz zu den Schauspielern und ihren Stuntleuten, die wieder aufstehen, wenn der Regisseur „Cut!“ ruft, sterben die Menschen in Situationen wie dieser – und sehr viele sind bereits gestorben. Ich war dabei und konnte es sehen. Öfter, als mir lieb ist.

Es ist der improvisierte Sprengsatz unter einem Müllhaufen, der die Vorhut ausschaltet. Es ist der Junge, den Sie gestern laufen gelassen haben und der heute ein halbautomatisches Dragunow-Scharfschützengewehr nimmt und Ihrem Gefreiten den Kopf wegbläst. Es ist das Geschoss aus dem sowjetischen 82 mm Granatwerfer, das mitten in der Nacht durch die südwestliche Ecke des vorgeschobenen Stützpunkts schlägt und die Latrine zerstört − schon gut, es war nur das Klo, denken die Leute, bis sie feststellen, dass Murphy und Higgins nicht in ihren Kojen liegen. Die beiden sind nicht gestorben, während sie die Feinde bekämpft haben. Sie sind gestorben, als sie gekackt haben. Und warum?

„Patrick, bitte lass mich los.“ Aaron starrt meine Hand an.

Ich ziehe die Hand zurück und greife nach meinem SCAR 17.

Wissen Sie was? Wenn Aaron das tun will, was zu tun er entschlossen ist, dann werde ich ihn nicht aufhalten. Das könnte sowieso niemand. Die Menschen tun eben, was sie tun wollen.

Gewiss, ich würde ihm gern sagen, dass ich dies für eine schlechte Idee halte. Dass wir ein größeres Team und mehr Ausrüstung brauchen. Vielleicht sollte ein ganzes Bataillon bereitstehen. Ich weiß nicht. Nur so wie jetzt sollte es definitiv nicht laufen.

Aber das habe nicht ich zu entscheiden. Und selbst wenn, ich glaube, es würde nichts ändern. Wenn es darauf ankommt, sterben die Menschen, ob man es will oder nicht. Und wenn man nach Hause kommt, bleiben einem schlechte Erinnerungen und dieses Gefühl von … Wie heißt das noch gleich? Hilflosigkeit.

„Sei vorsichtig“, sage ich zu Aaron.

Er nickt und steigt die alte Treppe hinauf. Mein Puls rast und ich bemühe mich bewusst, langsamer zu atmen, höchstens zwölf Atemzüge pro Minute. Wenn ich schneller atme, wird mir schwindlig.

Mit erhobenem SCAR 17 sehe ich durch das Visier zu, wie Aaron hinaufsteigt. Ich habe keine Ahnung, worauf ich zielen soll, falls etwas passiert, aber so habe ich es gelernt – ich decke mein Team und warte ab. Unweigerlich beflügeln Bilder von kleinen grünen Männchen und Pharaonen mit Plasmaspeeren meine Fantasie. Aber dieser Mist in meinem Kopf ist nicht real. Das hier schon.

Aaron greift nach einem Vorsprung mitten im unteren Bogen des Rings. Es ist der einzige Abschnitt, der noch nicht leuchtet. Das muss es sein: der letzte Zug. Stufe Omega.

Ich nehme die rechte Wange von der Waffe und blinzele zweimal, um meinen Blick zu klären. Dann sehe ich wieder durch die Zieloptik. Der Ring wird aktiv, als spürte er, dass jemand ihn wecken will. Wie ein Drachen nach einem langen Schlaf.

Aaron bearbeitet den Block und schiebt ihn nach links. Da schießt ein elektrischer Blitz aus dem Zentrum des Rings und streift ein Gerüst. Die Funken stieben in alle Richtungen, ein paar Plastikteile fangen Feuer.

Ach, jetzt reicht es mir. Ich nehme das Funkgerät und drücke auf den Sprechknopf. „Simmons, ich brauche hier zwei Teams“, rufe ich. „Sofort zu mir.“

„Bitte wiederholen?“

„Team eins und Team zwei sofort zu mir, los jetzt!“

„Roger.“

Aaron bearbeitet immer noch den Knopf, als zwei weitere Blitze durch die Luft schießen. Einer trifft einen Ausleger unter der Decke, der andere einen Stapel Vorratskisten. Beide Einschläge lösen weitere Blitze und kleine Brände aus. Trotzdem bleibt Aaron völlig ruhig. Sogar furchtlos. Vielleicht hätte er sich als Marine gut gemacht.

Mit einem Ruck bringt Aaron den Klotz in die Endstellung und tritt zurück. Schlagartig erstirbt der Wind, und auch die elektrischen Ladungen zerstreuen sich. Stattdessen bildet sich auf der gedachten Innenfläche des Rings ein schimmerndes blaues Energiefeld. Es ist halb durchsichtig, als blickte man aus einem Black-Hawk-Hubschrauber in eine Wasserfläche. Hinter der dünnen Schicht ist ein zweiter, kleinerer Ring zu erkennen, und hinter dessen Feld ein dritter Ring, der noch kleiner ist. Die Kreise scheinen sich endlos zu wiederholen und in der Unendlichkeit zu verschwinden.

Alles ist still, man hört nur noch das leise pulsierende Summen im Boden und gelegentlich ein Knistern, wenn ein kleiner Blitz wie auf Spinnenbeinen um den Ring wandert.

Aaron hebt beide Arme und ruft „Yee-haw!“ wie ein Cowboy. Er dreht sich zu mir und dann zu seinem Team um. „Wir haben es geschafft!“

Ich blicke nach links, wo inzwischen Simmons eingetroffen ist. Er reißt die Augen weit auf und starrt den Ring an. Die anderen Marines sind genauso verdutzt.

„Lewis!“, ruft Aaron und springt die Treppe hinunter. „Sensoren! Was sagen die Sensoren?“

Lewis informiert Aaron, während sich Simmons zu mir beugt. „Verdammt, Wik? Soll heißen: Was, zur Hölle?“

„Keine Ahnung. Ziele einfach weiter auf das Ding da.“ Ich zeige auf den Ring.

„Ist das echt?“

Ich nicke. „Anscheinend habe ich die Wette verloren.“

„Meinst du? Warum habe ich auf einmal den Eindruck, dass Sigourney Weaver hier als Einzige lebend rauskommt?“

„Immer mit der Ruhe, Simmons.“ Ich wedele mit einer Hand, um ihn zu beschwichtigen. „Lass uns ruhig bleiben. Ich rede mit dem Professor. Du übernimmst die Teams.“

„Roger.“

Ich ziele mit dem SCAR weiter auf den Ring und bewege mich durch den Verschlag. Es sind mehr Forscher da als je zuvor. Sie flitzen umher wie Kinder unter dem Weihnachtsbaum, die verpackte Geschenke schütteln und dem Geräusch zufolge raten, was darin sein könnte. Nur, dass sie in diesem Fall auf Bildschirme tippen und ihre Theorien miteinander abgleichen.

„Aaron, was ist los?“, frage ich. Ich bin weit davon entfernt, das Staunen und Entzücken seiner Mitarbeiter zu teilen.

Aaron rückt die Brille zurecht und winkt mich zu einem der größeren Monitore. „Schau her. Siehst du diese Linien?“

Es sieht aus wie der Querschnitt eines Aktienindex, der stetig von links nach rechts steigt. Verschiedenfarbige Linien überkreuzen einander, aber alle weisen aufwärts.

„Das ist die Darstellung unterschiedlicher Strahlungsarten. Wie du sehen kannst, steigen die Werte mit jeder Stufe, die wir aktiviert haben.“ Er zeigt mir die Stufen Ypsilon, Phi, Chi und Psi.

„Und was ist das?“ Ich deute auf einen steilen Anstieg einiger Farben, die aus dem Fenster ausbrechen, während andere ebenso steil nach unten weisen. „Das sieht dramatisch aus.“

„Oh, das. Das ist passiert, als wir die Stufe Omega aktiviert haben.“

„Und was hat das zu bedeuten?“

„Zuerst einmal, dass der Ring viele verschiedene Arten von Strahlung aussendet, die wir größtenteils überwachen können. Es entspricht der Bandbreite des ionisierenden und nichtionisierenden Spektrums.“

„Kannst du das laienhaft ausdrücken?“

„Äh …“ Aaron denkt kurz nach. „Nicht-ionisierende Strahlung tötet dich nicht, ionisierende schon.“

„Also die Fernbedienung meines Fernsehers im Vergleich zu einer Atombombe.“

„So ungefähr, ja. Wir sehen, dass beide Arten mit jeder Stufe, die wir aktivieren, langsam ansteigen. Natürlich nicht so stark, dass es dich töten könnte. Aber stark genug, dass man nicht den ganzen Tag ohne Schutzanzug an den Knöpfen herumspielen will. Genau das haben wir auch bei den vorherigen Tests beobachtet.“

„Und dann kam das da?“ Ich zeige auf den abrupten Ausschlag und die stark abfallenden Werte, nachdem Omega aktiviert wurde.

„Das ist der Grund für die Aufregung. Die gesamte ionisierende Strahlung – also die gefährlichen Varianten –, all das fällt auf null, während die nichtionisierende Strahlung durch die Decke geht.“

„Und was hat das zu bedeuten?“

Aaron blickt zu Lewis und dann zu einigen anderen Forschern, die unser Gespräch mitangehört haben. Sie ziehen lächelnd die Augenbrauen hoch, als wäre ihnen längst bekannt, welche Pointe gleich auf den Witz folgen muss.

„Es bedeutet, dass das, was sich jenseits dieser Fläche befindet, eine erstaunliche Menge Energie abstrahlt, die für lebende Organismen nicht schädlich ist.“

„Also handelt es sich um eine Energiequelle?“ Ich hoffe, das ist dann auch wirklich alles.

„Nein, das kann man so nicht sagen. Jedenfalls nicht in einer Weise, die für uns als Zivilisation nützlich wäre. Vergiss nicht, es ist Uran, das Atomkraftwerke antreibt, nicht deine Fernbedienung.“

„Also, wenn es keine Energiequelle ist“, ich blicke zum Ring hinauf, „was ist es dann?“

Aaron rückt seine Brille zurecht und blickt zu seinen Kollegen. Mein Gott, die sind alle so aufgedreht, das geht mir auf die Nerven.

„Wir glauben, es ist ein Portal in eine andere Dimension“, behauptet Aaron.

Ich muss lachen, und zwar richtig laut. Die führen mich doch an der Nase herum. Mein Ausbruch hat auf sie allerdings eine interessante Wirkung – ihre Gesichter sind auf einmal wie versteinert, als wollten sie mich mit Blicken erdolchen und als fehlte ihnen leider bloß die Superkraft, um es auch zu tun.

„Mein Gott, das ist wirklich dein Ernst.“

„Und ob.“ Aaron reckt das Kinn und streicht seinen Mantel glatt. „Und wir erwarten, dass sich alle hier bei dieser Angelegenheit, die, wie ich dich erinnern möchte, die nationale Sicherheit betrifft, möglichst professionell verhalten.“

Will mir der Collegeprofessor wirklich einen Vortrag über die nationale Sicherheit halten? Jesus, Jakobus und Josef, ich muss wohl den Beruf wechseln.

Ich streiche mir mit einer Hand, die in einem Handschuh steckt, über den Bart. „Na gut, also ist es ein Portal. Wohin führt es denn?“

„Da können wir auch nur raten“, entgegnet Aaron. Er beäugt mich wachsam, scheint zufrieden und fährt fort. „Aber nicht dem Ziel gilt unser größtes Interesse.“

Hinter Aaron räuspern sich zwei Mitarbeiter.

„Oder jedenfalls nicht, was mich selbst angeht“, schränkt er sofort wieder ein. „Die Astrophysiker dagegen …“

„Uns ist das sogar sehr wichtig“, erklärt ein Sterngucker. Nein, das ist die Astronomie. Egal, ist für mich sowieso das Gleiche.

„Das primäre Ziel dieses Forschungsvorhabens ist tatsächlich nicht die Frage, wohin das Portal führt“, bekräftigt Aaron. Damit wendet er sich vor allem an die Astrophysiker, als wollte er sie an die Realität erinnern. „Die Frage ist, wer es hierhergesetzt hat, und ob sie immer noch bereit sind, mit uns zu reden.“

„Also Vorrang für die Anthropologie und dann erst das Sternegucken. Verstanden.“

Die Astrophysiker stellen die Stacheln auf, als sie meine Worte hören, aber Aaron scheint richtig stolz zu sein, woraufhin ich frage: „Und was wollen wir jetzt tun? Durchgehen?“

„Meine Güte, nein“, wehrt Aaron ab. „Wir sind doch nicht im Film.“

„Äh, doch.“ Ich zeige auf den Ring. „Beweisstück A.“

„Patrick, wir wissen nicht, was mit unserer Physiologie passiert, wenn wir versuchen, diese Schicht zu durchdringen.“

„Ich dachte, sie gibt nur nichtionisierende Strahlung ab.“

„Richtig. Aber das heißt nicht, dass wir einfach jemanden reinschicken. Das wäre ein mögliches Todesurteil und mit unseren ethischen Maßstäben keinesfalls zu rechtfertigen. In Nordkorea hätte man wohl keine Skrupel, aber wir arbeiten anders.“

„Was wollen wir dann tun? Einfach nur herumsitzen und warten?“

„In der Tat, genau das haben wir vor.“ Wieder scheint Aaron stolz auf meine Schlussfolgerung zu sein. Er entspannt sich sichtlich. „Die Logik sagt uns, dass die intelligente Spezies, die diesen Ring erschaffen und hier platziert hat, dazu fähig ist, auf diesem Weg jederzeit hierherzukommen.“

„Warum haben sie es noch nicht getan? Ich meine nicht heute, sondern die ganze Zeit über.“

Aaron schiebt die Brille auf dem Nasenrücken hoch. „Wer sagt denn, dass sie das nicht getan haben?“

Ich erstarre und weiß nicht, was ich darauf antworten soll.

„Nehmen wir im Augenblick einfach mal an, dass sie es noch nicht getan haben. Übrigens, unsere Forschungen weisen darauf hin, dass dieses Gelände seit Jahrtausenden unberührt geblieben ist. Weißt du eigentlich, wie lange wir gebraucht haben, um diese subglaziale Höhle zu öffnen? Sei einfach froh, dass du gleich bis zum spannenden Teil springen konntest.

Aber egal, ich schweife ab. Es gibt mehrere Erklärungen dafür, warum die für diesen Ring verantwortliche Spezies noch nicht aufgetaucht ist. Erstens …“

„Äh, erstens, das sollten Sie lieber SETI überlassen“, unterbricht ein Mann mit einem Vollbart, der eine orangefarbene Latzhose über einem Wollpullover trägt. Er gibt mir die Hand. „Hallo, Sergeant Finnegan.“

„Es heißt Master Gunnery Sergeant“, berichtigt Aaron ihn.

Ich sehe meinen Freund anerkennend an. Da hat er aber gut aufgepasst.

„Tut mir leid, Sergeant.“ Der Wissenschaftler räuspert sich. „Dr. John Walker vom SETI-Institut in Mountain View, Kalifornien.“

„Freut mich.“ Ich schüttele ihm die Hand. „Ich mag Ihren Whisky.“

„Was? Oh, richtig, ich auch.“

Ich kann immer noch nicht glauben, wie entspannt alle angesichts der gegenwärtigen Situation sind. Allerdings, wenn man lange genug mit irgendetwas lebt, wird es Alltag. „Was wollten Sie gerade sagen, Dr. Walker?“

„Ah ja, die meisten plausiblen Erklärungen beruhen auf dem Fermi-Paradoxon, auch wenn mehrere Ideen inzwischen als widerlegt gelten. Die Ableitungen sind noch viel interessanter.“

„Entschuldigung, was ist das Furby-Paradoxon?“

„Fermi“, antwortet er. „Enrico Fermi, ein italienischer Physiker, der den ersten Atomreaktor erschaffen hat. Nein?“

Ich starre ihn an und weiß nicht, was mir das sagen soll.

„Egal“, fährt Dr. Walker fort. „Es soll hier reichen zu erwähnen, dass Fermi der Erste war, der eine Hypothese dazu aufgestellt hat, warum wir in einem so großen Universum noch keinem extraterrestrischen intelligenten Leben begegnet sind.“

„Warten Sie mal – reden Sie jetzt über Aliens, Doc?“

„Wir sprechen lieber von extraterrestrischem Leben.“

„Also von Aliens, ja?“

Walker seufzt gereizt. „Ja, meinetwegen, Aliens .“

Ich streiche mir den Bart glatt. Ich brauche was zu trinken. Das ist übel. Es ist … es ist völlig verrückt. Die Tatsache, dass es ganze Gruppen von Menschen gibt, die auf einen solchen Augenblick nur gewartet haben, macht es noch beunruhigender.

„Fahren Sie fort.“

„Eine Hypothese, die wir hier anwenden könnten, ist die Überlegung, dass eine Spezies untergehen könnte, ehe es ihr gelingt, den Kontakt mit der Erde herzustellen oder in diesem Fall erneut herzustellen. Genau wie wir sind sie womöglich großen Naturkatastrophen ausgeliefert oder könnten sich selbst vernichten.“

Ich betrachte den Ring, dann wieder Dr. Walker. „Also wollen Sie mir sagen, diese andere Spezies hat das Ding vor Tausenden Jahren hier abgestellt und sich später ausgelöscht, weil sie wegen Gebietsstreitigkeiten einen Atomkrieg geführt hat?“

„Das ist eines von mehreren denkbaren Szenarien.“

Aaron kommt ihm zu Hilfe. „Das würde auch erklären, warum der Ring niemals wieder von ihrer Seite aus aktiviert wurde.“

„Wieder? Haben Sie denn Beweise dafür, dass er überhaupt schon einmal aktiviert worden ist?“

„Ich muss mich entschuldigen, ich habe diesen Teil übersprungen. Es gibt viele kausale Erklärungen, und ich wollte nicht andeuten, der Ring sei aus eigener Kraft hierhergekommen. Wir müssen jedenfalls davon ausgehen, dass ein Mechanismus dieser Größe nicht unbenutzt bleibt, nachdem er konstruiert wurde.“

„Alles klar. Jetzt möchte ich wissen, für wie groß Sie die Wahrscheinlichkeit halten, dass durch dieses Tor etwas Feindliches kommt.“

Aaron und Dr. Walker wechseln einen Blick und grinsen.

„Feindlich?“ Aaron kichert leise. „Absolut nicht. Wenn eine alte extraterrestrische Zivilisation uns hätte erobern wollen, dann hätte sie es längst getan, als die Menschheit noch … − wie hattest du das ausgedrückt? Als wir Bärenfelle getragen haben?“

Jetzt lachen die meisten Wissenschaftler im Verschlag.

„Na gut“, antworte ich, „aber während es Ihre Aufgabe ist, sich vorzustellen, dass alle gelben Ziegelsteinwege in die Smaragdstadt zum Zauberer von Oz führen, muss ich davon ausgehen, dass alle Dorothy töten wollen. Also werden Sie es mir hoffentlich verzeihen, wenn ich Ihre Begeisterung nicht teile.“

„Sergeant Finnegan.“ Dr. Walker legt die Hände aneinander wie ein betender Hippie. „Bitte begreifen Sie, dass hier die besten und klügsten Köpfe arbeiten.“

„Und Griechenland hatte Aristoteles. Wissen Sie, wer Straßen mitten durch die Weingüter gebaut hat? Die Römer waren das.“

„Sergeant Finnegan, ich …“

„Hören Sie, Sie machen einfach weiter. Das geht mich nichts an. Aber wenn durch dieses Ding etwas kommt, das einen von uns auch nur schief ansieht, dann befolge ich meine Befehle und beschütze alle in diesem Stützpunkt mit allen verfügbaren Mitteln. Und das schließt die Möglichkeit ein, den Ring ohne Herumgerede auf der Stelle abzuschalten. Verstanden?“

Aaron sieht seinen Kollegen nicht einmal an. „Aber natürlich, Patrick. Das haben wir alle begriffen.“

„Schön. Wann rechnen Sie denn mit einem Kontakt?“

„Das … wir können uns nicht auf eine Zeit festlegen.“ Er zuckt mit den Achseln und lächelt mich verlegen an. „Wir haben ja keine Präzedenzfälle.“

„Also könnte es in drei Minuten oder in drei Tagen geschehen.“

„Oder in drei Jahrzehnten“, antwortet er. „Wir wissen es einfach nicht.“

„So läuft das nicht“, sage ich zu Aaron. „Ihr werdet mich nicht überreden, auch nur einen Tag länger zu bleiben als den einen Monat, den ich dir zu bleiben versprochen habe.“

„Du hast gesagt, maximal sechs Wochen.“

Der Mistkerl. „Japp, habe ich.“

„Also bleiben uns noch zwei Wochen mehr.“

„Ich kann selbst rechnen, Aaron.“

„Gut. Dann bitte ich dich jetzt ganz offiziell und deinem Auftrag für die nationale Sicherheit entsprechend, Wachen einzurichten, wie du es für angemessen hältst, bis du abgelöst wirst.“

„Vergessen Sie nicht, unsere Kameraden mit einzuteilen“, sagt ein Forscher mit starkem russischem Akzent.

„Und auch nicht unsere Spezialisten“, ergänzt ein Wissenschaftler, der einen aufgeplusterten Mantel trägt. Wenn ich mich nicht irre, spricht er britisches Englisch.

Ich bekomme den Eindruck, dass Aaron sich gegen jede andere militärische Präsenz außer unserem eigenen Team gesträubt hat. Da die Sache eskaliert und die Forscher vor demjenigen stehen, der von jetzt an das Sagen hat, wollen sie natürlich dafür sorgen, dass auch ihre eigenen Militärabteilungen die Hand in die Keksdose stecken können. Das kann ich ihnen nicht zum Vorwurf machen. Wären die Rollen vertauscht, dann würde ich vermutlich auch Türen eintreten, damit Uncle Sam hereindarf.

Am Ende bin ich aber einfach nur ein Ledernacken auf seinem letzten Einsatz. Was kümmern mich kleine grüne Männchen und Professoren in Laborkitteln? Was mich angeht, so können sie alle hier unten bleiben, sich die Eier abfrieren und über Strahlungswerte kichern, bis ihre Schwänze glühen.

„Wir sorgen dafür, dass alle mal drankommen“, sage ich, „aber ich bin der Befehlshaber. Wenn hier unten etwas passiert, während ich nicht da bin – ganz egal was –, dann erfahre ich es als Erster. Nicht Ihre Tante Sarah oder Ihr bester Freund auf Twitter. Sagen Sie es mir. Und ich werde alle einsperren, die sich nicht daran halten. Verstanden?“

Sie nicken und unterhalten sich nervös. Anscheinend redet man auf dem College anders miteinander.

„Wenn du etwas brauchst, sag Bescheid“, erklärt Aaron.

„Es wäre ein guter Anfang, wenn meine Männer etwas Warmes zu trinken und ein paar Stühle bekämen.“

„Natürlich.“

„Und wenn du noch ein paar Tische hast, könnte ich sie gebrauchen, um Ausrüstung abzulegen. Simmons?“ Ich sehe mich über die Schulter um und winke ihn zu mir. „Sergeant Simmons gibt Ihnen eine Materialliste, um einen Schildwall zu bauen.“

„Einen Schildwall?“, fragt Dr. Walker. Er sieht Aaron an. „Ist das wirklich nötig, Campbell?“ Dann wendet er sich an mich. „Wir haben es hier mit einer Forschungseinrichtung zu tun, nicht mit Ihrem persönlichen Spielplatz, um …“

„Hören Sie, Dr. Whisky“, sage ich und baue mich vor ihm auf. „Sie haben Ihr Fachgebiet, ich habe meins. Und ich gebe Ihnen mein Wort − wenn durch dieses Ding nichts Feindseliges kommt, dann werden wir Sie nicht stören. Das verspreche ich Ihnen. Doch wenn es schiefläuft, dann muss ich bereit sein. Und die Bereitschaft für einen Kampf schließt es ein, eine Deckung zu haben, hinter der Sie Ihren mageren Arsch in Sicherheit bringen können, falls die Aliens doch eher wie ein Xenomorph statt wie Marvin der Marsmensch aussehen.“

„Damit kann ich leben“, entgegnet Dr. Walker.

„Wunderbar. Dann haben wir das ja geklärt.“ Ich sehe Aaron an. „Ich lasse dich jetzt wieder arbeiten, und wir kümmern uns um unsere Aufgaben.“

„Klingt wie ein Plan“, antwortet Aaron. Dann gibt er mir die Hand, und ich schlage ein. Keine Umarmung, kein freundschaftliches Nicken. Ein Handschlag zwischen Profis. „Patrick, danke, dass du gekommen bist. Ich bin froh, dass du hier bist.“

„Klar.“ Eigentlich würde es sich gehören, ihm zu sagen, dass ich mich auch freue, aber ich sage nichts. Mir ist nicht danach, zu lügen, nur um höflich zu sein. Alles, was ich herausbringe, ist daher: „Freut mich, dass wir dir helfen können.“ Schon diese Worte fallen mir ausgesprochen schwer.

Ich marschiere mit Simmons aus dem Verschlag heraus und gehe zu den Teams eins und zwei.

„He“, sagt Simmons. „Das war eine nette Ansprache. Ich denke, sie lassen uns jetzt in Ruhe.“

„Das wollen wir doch hoffen.“

„Bei dem, was du gesagt hast, gibt es aber ein Problem.“

„Welches denn?“

„Sogar Marvin der Marsmensch hatte eine böse Strahlenkanone.“

Der Mistkerl.