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1335, Freitag, 25. Juni 2027

Brooklyn, New York

Upper Bay

 

Das Team schwieg, nachdem wir Staten Island verlassen hatten. Alle blickten hinter dem Heck des Boots ins Wasser, während wir in die Upper Bay und in den Hafen von New York fuhren.

Die Abenteuerlust und die Siegesgewissheit schwanden, sobald wir die Menschenmassen sahen, die auf dieser Seite der Kuppel am Ufer entlangliefen. Sie winkten und schrien etwas zu uns herüber. Sie hofften wohl, wir würden nach Westen abdrehen und ihnen helfen.

Abgesehen vom Anblick der zusammengedrängten, wie Tiere gefangenen Menschen wurde mir übel, als ich an die armen Seelen dachte, die sahen, was wir taten, und vielleicht das Gleiche umgekehrt tun wollten. Noch schlimmer, ich fragte mich, wie viele vielleicht schon vor Stunden versucht hatten, unter der Barriere hindurchzuschwimmen und gescheitert waren. Wahrscheinlich war es ein Wunder, dass wir nicht überall treibende Körperteile sahen.

Am Ende gab Bumper mehr Gas, und die Best of Boat Worlds zog nach Nordosten in Richtung Brooklyn davon und ließ die Schrecken von Staten Island hinter uns zurück. Die Teammitglieder wechselten sich die ganze Zeit mit Ferngläsern ab und beobachteten die Menschenmenge, bis ich mich gezwungen sah, die Ferngläser einzusammeln. Niemand sollte so genau zusehen, wie unsere Spezies litt, denn dazu wird später noch genügend Zeit sein. Wenn ich nach Nordosten in Richtung Brooklyn blicke, schaudere ich, weil ich weiß, dass der Ort meiner Kindheit ein Kriegsgebiet geworden ist.

Allerdings übt der Anblick der vielen Tausend Menschen, die zur Verrazzano-Narrows Bridge strömen, eine eigenartige Wirkung auf das Team der Phantome aus. Es ist nicht das erste Mal, dass sie so etwas sehen. Immer wenn eine Einheit eine ernüchternde Begegnung mit den Menschen hat, für die sie kämpft, wird das manchmal nur theoretische Warum auf einmal sehr akut und persönlich, nachdem es zuvor nur durch eine Flagge oder ein Mantra symbolisiert wurde. Man sieht Personen, eine Stadt, Namen und Gesichter – auch die Toten. All das trägt dazu bei, in den Herzen der Soldatinnen und Soldaten den Grund dafür einzubrennen, warum sie sich eigentlich der Bedrohung in den Weg stellen.

Dabei besteht natürlich die Gefahr, dass sich die Kämpfer, sofern niemand ihren unausgesprochenen Gefühlen eine Richtung gibt, in vergessenen Schützengräben verirren, aus denen sie manchmal nicht mehr herauskommen.

Ich habe mich wieder angezogen und meine Ausrüstung angelegt. Chuck und mein SCAR liegen gegenüber von Bumper auf dem Armaturenbrett, und den Helm habe ich mir unter den Arm geklemmt. Mit der anderen Hand halte ich mich an einer Rückenlehne fest, damit ich im rhythmischen Auf und Ab des durch die Wellen gleitenden Boots nicht das Gleichgewicht verliere.

„Leute, hört zu“, sage ich laut, um den unter unseren Füßen wummernden Motor zu übertönen. „Wir sind noch etwa zwanzig Kilometer …“

„Fast dreißig“, korrigiert mich Bumper.

„Wir sind noch dreißig Kilometer von einem möglichen Ziel entfernt.“ Ich zeige auf das bemerkenswerteste Objekt im Norden: auf den dünnen blauen Trichter, der in Lower Manhattan mehrere Kilometer emporsteigt und sich dann weitet, um die Kuppel zu erzeugen. „Bis dahin bereiten wir uns auf die Landung vor. Das bedeutet, dass wir gegenseitig unsere Ausrüstung überprüfen, ruhig bleiben und uns darauf einstellen, alle auftauchenden Probleme zu lösen. Sobald wir an Land sind, müssen wir im Laufen denken und schnell sein.

Mir ist klar, dass wir uns noch nicht einmal richtig kennengelernt haben. Mensch, es sind ja noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden vergangen. Aber wie die meisten von euch wissen, entsteht beim Kampf eine Bindung. Die ist kaum zu brechen, selbst wenn sie zwischen bekloppten Ledernacken und Flipflops tragenden Militärtouristen entsteht.“

„Du solltest mal mein Skizzenbuch sehen“, wirft Yoshi ein.

Alle lachen, was ein gutes Zeichen ist, doch mir entgeht keineswegs, wie angespannt sie sind.

„Es kommt jetzt erst einmal darauf an zu erkennen, was wir tun können, und nicht darauf, was uns unmöglich ist, und dann zu klären, was wir wissen, statt nur auf das zu schauen, was uns unbekannt ist.“

Ich halte inne und vergewissere mich, dass sie mir bis hierher folgen konnten, was auch Bumper einschließt. Er steht am Steuerruder und nickt.

„Erstens können wir uns selbst kontrollieren. Wir können klar im Kopf bleiben, unsere Gefühle im Zaum halten und uns dafür entscheiden, uns auf unsere Jobs und auf die Verfassung derjenigen Menschen links und rechts von uns zu konzentrieren. Wenn wir das tun, erreichen wir viel mehr. Es wird die Hölle werden, das ist klar, aber wir werden bezahlt, damit wir schwierige Aufgaben übernehmen und die Mission nicht aus den Augen verlieren. Einverstanden?“

„Einverstanden“, sagen sie ein wenig entschlossener als zuvor.

„Zweitens wissen wir, dass wir zusammenarbeiten können. Wenn das alles wäre, was beim nächsten Kampf für uns spricht, dann würde mir das schon reichen. Wir kommunizieren miteinander, wir kämpfen hart, wir sind schnell …“

„Und wir haben die Todesengel zur Schnecke gemacht“, wirft Z Lo ein.

„OTF“, sagt Hollywood.

Sie nicken und sagen: „OTF“.

„Das bringt mich zum nächsten Punkt. Diese Feinde bluten.“

„Ja, das tun sie.“ Z Lo klatscht in die Hände und reibt sie aneinander, als wollte er gleich einen Ringkampf beginnen.

Lächelnd nicke ich ihm zu, denn sein Kampfgeist beflügelt uns alle. Ich erinnere mich an die vielen Gelegenheiten, bei denen die Jüngeren die Älteren mitgerissen haben. Gewiss, Jüngere brauchen die Klugheit und Erfahrung von uns Älteren, aber wir brauchen für den Kampf die Begeisterung und Energie der Jüngeren – Gott möge ihnen beistehen.

„Wir haben bewiesen, dass wir sie ausschalten können. Und nicht nur, weil Chuck bei uns ist.“ Ich tätschele den Partikelstrahler mit der Typenbezeichnung SR-CHK 4110 behutsam.

„Danke für die Anerkennung“, sagt er.

„Wir lieben dich, Sir Charles“, ruft Hollywood. Sie singt es fast und legt eine Hand an den Mund.

„Ihr seid ja so reizend. Das wisst ihr doch, oder?“

Ich tätschele Sir Charles noch einmal und fahre fort. „Die Anderkins …“

„Die Androchider“, berichtigt mich Chuck.

„Die Anderkins.“

„Hör auf damit, denn so heißen sie ja nicht. Das klingt fast so, als wären sie niedliche Plüschfiguren für Kinder.“

Es mag den anderen und vor allem Chuck nicht bewusst sein, aber ich habe diesen Ausdruck absichtlich gewählt, weil die Militärverbände aller Zivilisationen ihren Feinden schon immer Spitznamen gegeben haben, um die Ziele in den Augen der kämpfenden Truppe lächerlich zu machen. Eigentlich wollte ich nur eine komische Verballhornung für den seltsamen Namen der Aliens finden, aber Chuck bringt das mit seiner Reaktion auf eine ganz neue Ebene, auch wenn es ihm gar nicht bewusst ist.

„Plüschfiguren“, bekräftige ich nickend, „ja, das ist völlig richtig.“

„Und sie sind hässliche Hundesöhne“, fügt Bumper hinzu.

„Ich verstehe nicht, was das jetzt soll“, beklagt sich Chuck. „Es kommt mir vor, als hättet ihr mir überhaupt nicht zugehört.“

Hollywood lächelt. „Oh, wir haben es verstanden, süßer Fratz. Laut und deutlich. Vielen Dank dafür.“

„Ich … was ist? … habt ihr nicht gehört, was ich gesagt habe?“

„Übernimm dich nicht, Kichererbse.“ Ich wische mir etwas Salzwasser von der Nase ab und spreche weiter. „Wie gesagt, die Anderkins haben vielleicht eine überlegene Technologie, wie auch Sir Charles hier zeigt, und sie haben Bots und Drohnen und die BPF, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr auch dies bemerkt habt: Sie haben keine Strategie.“

„Ich weiß nicht, ob ich dir folgen kann“, wendet Z Lo ein.

„Der Todesengel, der Wik verfolgt hat“, erklärt Ghost. „Das hätte er nicht tun sollen.“

„Und die Art und Weise, wie die Einheit auf dem Rutgers Campus ganz offen über die Wiese gefahren ist“, ergänzt Hollywood. „Das war dumm. Mensch, auch die Art und Weise, wie sie sich dem Gebäude genähert haben, war …“ Sie legt den Kopf schief. „Es war frech. Und es war dumm.“

„Ja, klar, das verstehe ich.“ Z Lo nickt lebhaft. Er könnte verlegen reagieren, aber er meint es wohl ehrlich und hat etwas dazugelernt.

„Ich glaube, wir könnten alle Auseinandersetzungen mit ihnen genauer untersuchen und würden einige schwere Fehler finden“, fahre ich fort. „Hollywood, du hast damit etwas Wichtiges angesprochen. Sie treten viel zu selbstsicher auf. Sie betrachten uns als Handelsware. Das bedeutet, dass wir diesen Kampf gewinnen können, wenn wir wollen. Der schlimmste Fehler, den eine Armee machen kann, ist es, den Feind zu unterschätzen. Und diese Ärsche?“ Ich nicke und lasse den Blick über das Team wandern. „Sie haben die falschen Hundesöhne unterschätzt.“

„OTF, Baby“, sagt Bumper mit seinem tiefen Bariton.

„OTF“, antworten alle anderen.

Die Stimmung auf dem Boot bessert sich erheblich. Das ist gut.

„Vor diesem Hintergrund bin ich der Ansicht, dass wir es hier nicht mit einer militärischen Truppe zu tun haben.“

Die Teammitglieder sehen mich neugierig an, schließlich fragt Bumper: „Wie kommst du darauf?“

Ich antworte mit einer Gegenfrage. „Hattest du als Navy Seal schon einmal mit der Festnahme und Unterbringung von Kriegsgefangenen zu tun?“

Er schüttelt den Kopf. „Nein.“

„Wir haben das erlebt“, wirft Hollywood ein und zitiert den Slogan der Army: „Sei alles, was du sein kannst.“

„Gut. Und Hut ab vor der Truppe, die für Uncle Sam die Schmutzarbeit erledigt“, sage ich lächelnd.

Sie salutiert lässig. „Wenn es dem Land dient.“

„Lasst uns noch einen Schritt weitergehen.“ Ich zeige in Richtung Staten Island. „Die Menschen da drüben sind keine Kriegsgefangenen, denn für die Aliens scheint mir dies gar kein Krieg zu sein. Es ist ein geschäftliches Unternehmen. Im Grunde sind die Dreckskerle nur Rancher, die für den Boss das Vieh zusammentreiben. Sie wissen nicht, wie sie ein Operationsgebiet mit Patrouillen gegen Gefahren sichern. Sie sind keine Kampftrupps, die Feinde ausfindig machen, verfolgen und vernichten. Sie sind Schäfer mit großkotzigen Stöcken, die eine Herde zusammentreiben.“

„Ich möchte aber schon anmerken, dass ich erheblich wertvoller bin als ein großkotziger Stock.“

Die anderen lachen, was meiner aufmunternden Ansprache noch mehr Schwung verleiht. Auf dem Boot macht sich allmählich der Kampfgeist breit, den wir so dringend brauchen − die Art Kampfgeist, die tapfere Männer und Frauen daran erinnert, aus welchem Holz sie geschnitzt sind, und dass nichts und niemand sie aufhalten kann, solange sie sich an ihre Ausbildung erinnern, zusammenarbeiten und kluge Entscheidungen treffen – eine nach der anderen und immer weiter, bis die Schlacht gewonnen ist.

Jeder Taktiker, der seine Ärmelstreifen wert ist, kann Ihnen sagen, dass eine Einheit, die einen guten Grund für ihren Kampf sieht, auch dann besser dasteht, wenn alles andere dagegenspricht. Das Team, das bereit ist, für sein Anliegen zu sterben − dieses Team ist psychologisch immer im Vorteil, und das gilt eben nicht für die Anderkins. Historiker haben beschrieben, dass eine Streitmacht, die eine feste Heimatbasis angreift, fünfmal so viele Kräfte braucht wie die Verteidiger, und das glaube ich. Mensch, ich habe das sogar selbst gesehen – ich weiß von Angriffen, bei denen sich die Befehlshaber besser an den Geschichtsunterricht auf der Militärakademie erinnert hätten. In der Schlacht von Bunker Hill gab es bei der britischen Armee fast zweieinhalbmal so viele Gefallene wie bei den Amerikanern. Wir haben dort nur verloren, weil uns die Munition ausging.

„Ich sage es noch einmal: Für die Gegner ist dies kein Krieg.“ Ich zeige nach Norden. „Wir werden aber einen Krieg gegen sie führen.“

„Ja, und ob“, antwortet Z Lo. Die anderen stimmen ein, sogar Ghost nickt weise.

„Rancher zählen Vieh, Krieger kämpfen.“ Ich trete einen Schritt vor. „Und wir sind in diesem Kampf die Kriegerinnen und Krieger.“

„Verdammt richtig.“ Ghost zeigt ausnahmsweise etwas Gefühl. Es muss wohl an den Medikamenten liegen.

Ja, das ist verdammt richtig.

 

In den nächsten fünfzehn Minuten überprüfen wir unsere Ausrüstung, ersetzen Magazine, die wir in Rutgers verloren haben, und trinken noch etwas. Alle pinkeln an der Seite über das Boot, bis auf Hollywood. Als Yoshi ihr anbietet, wir würden uns alle umdrehen, lacht sie.

„Das habe ich schon im Wasser erledigt, du Genie“, erklärt sie.

„Ach, das war die warme Stelle“, antwortet Z Lo grinsend.

„Nein, nein, das war meine Pisse“, widerspricht Bumper.

„Ach, Mann, Bro. Warum ärgerst du mich immer so?“ Z Lo schüttelt sich. „Bäh.“

Ich bemerke es: Bumper zwinkert Hollywood zu.

Sie lächelt und senkt den Blick.

Wir sprechen verschiedene Szenarien für die Landung durch, darunter auch eines, bei dem wir das Boot am Anker festmachen und ans Ufer waten, wobei wir riskieren, das Boot an Beobachter zu verlieren, die verzweifelt nach einem Fluchtweg suchen. Eine andere Möglichkeit wäre es, dass jemand an Bord bleibt und auf den verbliebenen Teil der Ausrüstung aufpasst, aber damit fehlt uns ein Kämpfer.

Als Fragen aufkommen, ob wir dem Epizentrum dessen, was uns im Norden erwartet, überhaupt nahe genug kommen können, versichert Chuck uns, dass sein ESFG das Boot zwar schützen kann, aber eben erst in den letzten Minuten vor der Landung aktiviert werden sollte. Sir Charles behauptet auch, die Anderkins beobachteten das Wasser kaum, weil sie sich darauf konzentrierten, die Menschen zusammenzutreiben. Dieser Umstand und die Nachmittagssonne mindern die optische Wahrnehmungsfähigkeit der Aliens. Falls wir uns zurückziehen müssen, sollten wir seiner Ansicht nach im Hafen abtauchen, weil das kühle Wasser unsere Wärmesignaturen stark dämpft oder zumindest die Ortung stört.

Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Ich weiß im Augenblick nicht, was ich mehr fürchte: durch feindlichen Beschuss zu sterben oder durch das, was im Hudson ist.“

Alle, die wissen, wie verseucht die Gewässer in New York sind, pflichten mir lachend bei.

„Die verdammten Flundern“, flüstert Chuck.

Als wir die Narrows-Meerenge hinter uns haben und in die New York Bay einschwenken, bemerke ich, dass das blaue Glühen am Fuß des Trichters steuerbord voraus und oberhalb von Red Hook am stärksten ist. Damit wäre das Epizentrum nicht direkt in Manhattan, sondern im East River.

Bumper steuert unser Boot durch den Red Hook Channel und hält langsam auf Governors Island zu. Als er dann nach Steuerbord abbiegt und zwischen Governors Island und Brooklyn durch den Buttermilk Channel fährt, haben wir zum ersten Mal klare Sicht auf die berühmteste Brücke der Stadt, auf der sich die außerirdische Monstrosität niedergelassen hat.

Die Brooklyn Bridge.