30

1520, Freitag, 25. Juni 2027

Brooklyn, New York

Brooklyn Bridge

 

„Sie dürfen den Sprengstoff nicht entdecken“, rufe ich zu Bumper hinüber. Dann blicke ich nach unten. Springen können wir nicht, denn der Zustrom würde uns mitreißen, sobald wir unten ankommen. Vorausgesetzt, wir brechen uns nicht schon beim Aufschlag das Genick.

„Wir könnten sofort sprengen“, meint Bumper.

Verdammt auch. Ja, das könnten wir, aber ich hatte wirklich gehofft, bald in meine Hütte zurückkehren zu können. Wenn wir die Ladungen jetzt zünden, erfährt dieser Plan einen empfindlichen Rückschlag. Außerdem sind Yoshi und Hollywood bei uns. Wir würden auch sie mit in den Tod reißen. Allerdings kannten sie die Risiken, als sie sich gemeldet haben.

Bumper zuckt mit den Achseln und klopft auf die Tasche mit der Fernzündung.

„Das ist nicht gut.“ Ich greife nach meiner Tasche.

In diesem Augenblick höre ich links in der Luft einen Knall und ein lautes Scheppern. Eine der Drohnen hat einen direkten Treffer abbekommen. Ich blicke nach Osten. Im zweiten Stock eines Gebäudes am Wasser sehe ich einen weiteren typischen Mündungsblitz.

Es ist Ghost. Gott segne diesen Mann.

Auch der zweite Schuss trifft die Drohne, woraufhin sie in Spiralen abstürzt.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich damit noch mehr Aufmerksamkeit auf die Sprengladungen lenke oder nicht, aber unser Überraschungsmoment ist sowieso dahin. Ich stemme die Füße gegen den Ring, hole mit der linken Hand das SCAR nach vorne und schieße auf die nächste Mülltonne. Die Kugeln prallen gegen die Metallhülle der Drohne, die Funken sprühen. Ich hoffe, der Lärm vom Portal und vom Einlass übertönt die Schüsse, sodass die womöglich über uns befindlichen Aliens nichts hören.

Als hätte er meine Gedanken gehört, stellt der Einlassapparat die Arbeit ein. Das Rauschen klingt ab, und das Wasser fällt wie eine Wand hinunter. Die Leuchtspurkugeln zeigen mir, dass mein Magazin fast leer ist. Das hochgesaugte Wasser landet mit lautem Tosen im East River.

„Runter“, schreit Bumper. „Sofort!“ Er löst die Bremse und saust hinab.

Hollywood folgt ihm sofort.

Ich lasse die Waffe sinken und will ebenfalls hinuntergleiten, da kracht Yoshi von oben auf mich herab. Die Erschütterung läuft durch meinen Hals und das Rückgrat. Ich drehe mich zur Seite. Der verdammte Säufer! Das Seil hat sich um meinen Arm gewickelt. Es tut schrecklich weh, aber nicht so sehr wie der Zusammenstoß mit dem Ring. Ich pralle ab und werde wieder gegen das Alien-Bauwerk getrieben. Das Seil hat sich irgendwo verfangen, ich kann nur nicht sehen wo.

„Hör auf zu strampeln“, rufe ich hinauf.

„Gib das Seil frei!“

„Kann ich nicht. Du musst wieder hochklettern.“

„Gib das Seil frei, Wik“, sagt er noch einmal.

Wieder trifft eine .50er-Kugel etwas Hartes. Ich kann es nicht sehen.

„Yoshi, hör zu, du musst …“

Ich halte inne, als ich spüre, wie er über mir zappelt. Ein rascher Blick zeigt mir, dass er das Seil durchschneidet. Tja, so kann man das Problem auch lösen, aber es wird eine teuflisch harte Landung, wenn wir nicht genügend Abstand voneinander haben.

Ehe ich ihn warnen kann, löst sich das Seil über mir. Ich stürze, aber nur einen Moment lang, und halte mit einem heftigen Ruck wieder an. Yoshi fällt an mir vorbei, während ich hilflos strampele. Ich hänge irgendwo über mir am Ring fest und stehe kopf. Aus dieser Position, festgehalten von dem mein Bein umschlingendes Seil, sehe ich zu, wie Yoshi mit den Füßen voran eintaucht. Er sieht aus wie ein professioneller Klippenspringer. Wo war diese Anmut vor ein paar Sekunden?

„Patrick“, plärrt Chucks Stimme aus dem Funkgerät. „Kannst du mich hören, wo immer du gerade rumhängst?“

Mit Mühe hebe ich die linke Hand zum Sprechknopf. „Flachwitz.“

„Ah, da bist ja. Wundervoll, hör zu …“

Wieder knallt ein Schuss aus Ghosts Gewehr. Ich kann nicht erkennen, wie viele Drohnen noch da sind und wie nahe sie uns sind, aber ich höre, dass er sie aufhalten will.

Chuck spricht weiter: „Zusammen mit Phantomwächter versuche ich, die Drohnen abzuwehren. Oh … bei allen Krümeln in Aunt Millies Brotdose, könntest du aufhören, mich zu blocken?“

Mir rauscht das Blut in den Kopf. „Ich blocke dich gar nicht. Nun schieß schon!“

„Nein, du Trottel. Ich schieße nicht auf sie. Ich bin seit mehreren Minuten unterhalb der Mindestladung für einen Schuss, weil du mir befohlen hast, deine Freunde zu verstecken. Du erinnerst dich? Ich versuche, sie zu hacken . Aber sie … oh, der da ist aber wirklich störrisch. Also wirklich, du frecher kleiner Igittkopf!“

„He, jetzt passiert etwas“, sage ich.

„Nein, ich fürchte nicht. Ich fürchte, diese kleinen Klotzköpfe sind …“

„Nein, ich … das Seil rutscht!“

„Oh, wie schön! Pass nur auf, dass du nicht in der gegenwärtigen Körperhaltung auf das Wasser prallst.“

Ehe ich antworten kann, löst sich das Seil vollends, und ich stürze ab.

Sekundenbruchteile später schlage ich gegen etwas Hartes und prelle mir das Kinn. Unter mir höre ich einen Motor heulen. Ich drücke mich hoch …

… und stelle fest, dass ich auf einer verdammten Mülltonne gelandet bin!

Das Ding schwenkt nach links, und ich packe instinktiv die Ränder und halte mich fest. Dann biegt es nach rechts ab. Ich denke nicht einmal darüber nach, ob es das Beste ist, mich festzuhalten. Ich mache es einfach.

Die Drohne kann mich nicht abschütteln und kippt nach links. Das SCAR prallt von hinten gegen meinen Helm. Dann neigt sich der Rumpf der Drohne nach rechts. Ich halte verbissen weiter fest und fühle mich sogar ganz gut dabei. Beim nächsten Manöver – sie taucht nach vorne ab – rutsche ich kopfüber ab und stürze vollends hinunter.

Der Rest des Kletterseils segelt hinter mir her, aber ich habe Beine und Hände befreit und strampele wild wie ein flugunfähiger Vogel. Das Wasser ist mehr als fünfzehn Meter unter mir. Ich versuche, die Füße nach unten zu bringen. Es klappt nicht. Das Gefühl, dass ich meinen Untergang nicht aufhalten kann, dreht mir den Magen um, genau wie das Gefühl, hilflos zu stürzen.

Mitten in der Luft spüre ich einen stechenden Schmerz in der linken Wade. Darauf folgt ein Gefühl, als hätte man mir das Bein aus dem Hüftgelenk gerissen. Auch das Fußgelenk fühlt sich an, als hätte es jemand vom Schienbein abgerissen. Auf einmal erinnere ich mich an meine erste Kampfverletzung – eine AK-Kugel in der Wade. Ich schreie auf und schnappe nach Luft. Ich hänge schon wieder am linken Bein – dieses Mal aber an einem dünnen Draht, der zur Unterseite einer Drohne führt.

„Wage ja nicht, mir einen Elektroschock zu verpassen, du …“

Ich knirsche mit den Zähnen, als ein paar Hundert Volt alle Muskeln in meinem Körper krampfen lassen. Ich stöhne und beiße die Zähne zusammen. Meine Rippen knacken. Ich schließe die Augen, um die Schmerzen zu unterdrücken, damit ich nicht …