Für gewöhnlich saß Molly um sieben Uhr morgens an ihrem Küchentisch, hörte Nachrichten und starrte in eine Tasse Kaffee, während sie versuchte, sich zu einer Dusche aufzuraffen.
Doch an diesem Morgen schloss sie die Tür der Praxis auf und huschte mit ihrem Milchkaffee und einer Tüte Croissants hinein. Seltsamerweise freute sie sich auf ihren ersten Termin, obwohl sie nichts daran verdiente und es sehr, sehr früh war.
Nur wenige Augenblicke, nachdem sie den Mantel ausgezogen und den Kaffee zur Hälfte hinuntergestürzt hatte, hörte sie die Tür erneut ins Schloss fallen. Schnell warf sie einen Blick zur Tür und stellte erleichtert fest, dass es nur Alex in voller Radlermontur war. Gerade manövrierte er ein grellbuntes Rennrad durch den Empfangsbereich. Sie konnte nur heilfroh sein, dass keiner ihrer Kollegen heute zufällig früher zur Arbeit gekommen war.
»Ist es hier sicher oder soll ich es mit reinnehmen?« Alex deutete auf den Behandlungsraum mit Mollys Namen an der Tür. »Ich will nicht, dass es geklaut wird. Ich habe es gerade erst bekommen.«
»Guten Morgen«, sagte Molly trocken. »Schickes Fahrrad. Ich werde die Tür abschließen, ja? Dann sollte es im Wartezimmer sicher sein.«
»Das wäre großartig«, sagte er und hielt inne. »Und, genau, guten Morgen. Ja, BeSpoke, also mein Team, hat mir ein neues Rad gestellt. Mussten sie ja, wenn ich am Rennen teilnehmen soll. Das andere werden sie für Ersatzteile ausschlachten. Bin gleich wieder da.«
Sie sah verdutzt zu, wie Alex mit vorsichtigen Schritten über den gefliesten Boden klackerte. Es klang wie die Krallen eines riesigen Hundes. Sie starrte ihm auf die Füße, während er sich hinsetzte und die Schuhe abnahm. »Cleats«, erklärte er. Er hielt eines der seltsamen, turnschuhartigen Dinger hoch und zeigte ihr die Sohle, an der ein kleines Metallrechteck befestigt war. »Die rasten in die Pedale ein.«
»Ach ja?«
»Effizientere Kraftübertragung, wissen Sie. Wenn Sie keine Klickpedale verwenden, gibt nur die halbe Drehbewegung wirklich Schwung. Mit den Klickies wird auch die Aufwärtsbewegung genutzt. Verstanden?«
Sie nickte. »Schön, aber wie schaffen Sie es, nicht umzukippen, wenn Sie an einer Ampel stehenbleiben oder ganz langsam fahren müssen?«
Mit einem Schuh am Fuß ging Alex zu seinem Rad zurück und stieg in den Sattel. Er hakte den Fuß mit einer kaum wahrnehmbaren kurzen Drehbewegung ein. Ein weiterer Dreh aus dem Fußgelenk nach außen und der Schuh war wieder frei. »Da hat man sich schnell dran gewöhnt. So wie man beim Autofahren auch nicht mehr darüber nachdenkt, den Gang einzulegen. Man tut es einfach.«
Wieder etwas gelernt, dachte Molly. Sie sah auf die Uhr. Es blieb nicht mehr viel Zeit, bevor ihre Kollegen kommen würden. »Sollen wir anfangen?«, schlug sie vor und führte Alex in den Behandlungsraum.
Eine Dreiviertelstunde später war ihr Patient nicht mehr annähernd so fröhlich wie bei seinem Eintreffen. Tatsächlich war er ein bisschen blass um die Nase. Wahrscheinlich hatte er ziemliche Schmerzen. Obwohl sie ihn ziemlich malträtiert hatte, hatte er sich nichts anmerken lassen, nur manchmal etwas schwer geatmet.
Nach der abschließenden Massage zog sich Alex sein Sportoberteil an. Molly fiel auf, dass er mit dem rechten Arm dabei eine Schonhaltung einnahm. »Ich nehme an, Sie wollen jetzt noch auf dem Rad trainieren?«, fragte sie. Vielleicht hatte er das Rad ja heute nur mitgenommen, weil es sein einziges Transportmittel war.
Pustekuchen. »Selbstverständlich«, sagte er leichthin, als sei es völlig normal, mit einem eben erst vom Gips befreiten Arm und starken Schmerzen aufs Rad zu steigen. Was stimmte bloß mit diesem Kerl nicht?
»Ich muss heute noch hundert Kilometer schaffen«, sagte er.
Molly verlor die Fassung. »Das sind über sechzig Meilen!«, rief sie.
»Jawoll.«
»Mit einem gebrochenen Handgelenk?«
»Es ist ja nicht mehr gebrochen.«
»Wird es aber bald wieder sein, wenn sie eine derartig absurd dämliche Distanz zurücklegen, bevor Muskeln und Bänder dafür bereit sind. Und der Knochen hat sich auch gerade erst wieder zusammengefügt, das Gelenk ist noch sehr schwach.«
Alex zuckte die Schultern. »Wird schon gut gehen.« Er klang kein bisschen besorgt und fügte sogar hinzu: »Ich kann es ehrlich gesagt kaum erwarten, wieder da rauszukommen.«
»Sie sind ja wahnsinnig.«
»Nein, nur professioneller Rennradfahrer. Wir sind alle so.«
»Dann müssen Sie alle eine ziemlich hohe Schmerztoleranz haben«, stellte Molly fest, während sie sich die Hände wusch. Dabei fiel ihr Blick auf die Tüte mit den Croissants, die sie vorhin auf ihrem Tisch abgestellt hatte. Sie konnte es kaum erwarten, eines davon zu essen und einen Kaffee dazu zu trinken. Der frühe Start in den Tag hatte sie hungrig gemacht.
Alex lachte. »Was das angeht, bin ich mir nicht so sicher. Es ist eher ein hohes Maß an Entschlossenheit und Wahnsinn. Ich kenne einen Kerl, der hat eine Tour mit gebrochenem Becken zurückgelegt.«
Molly verzog das Gesicht.
»Dürfte ich ein Glas Wasser bekommen?«, fragte Alex. »Ich habe zwar zwei Wasserflaschen dabei, die würde ich aber gerne für später aufheben, und bevor ich loslege, muss ich gut hydriert sein.«
»Selbstverständlich.« Molly hielt ein Glas unter den Wasserhahn. »Ich hätte auch Kaffee da, falls Sie möchten.«
»Frisch aufgebrüht oder Instant?«
»Natürlich frisch.«
Er zögerte. »Das würde ich gerne, aber ich nehme gerade kein Koffein zu mir.«
»Ich könnte Ihnen einen entkoffeinierten machen.«
Alex schüttelte den Kopf. »Danke, nein. Ich nehme das Wasser.« Er hockte sich auf den Patientenstuhl, und Molly sah noch, wie er ein paar Tabletten einwarf, ehe sie sich ihren Kaffee holte. Sollte er ruhig auf Koffein verzichten, sie würde das ganz sicher nicht tun. Die Schmerzmittel, die er gerade genommen hatte, würden nicht lange wirken. Resigniert schüttelte sie den Kopf. Es war nun mal sein Körper und er wusste offensichtlich, was er da tat. Sie würde ihn nicht weiter behandeln, wenn er sich absichtlich ernsthaften körperlichen Schaden zufügte oder weitere Verletzungen in Kauf nahm.
Vielleicht sollte sie ihm ein Croissant anbieten. Er sah aus, als könnte er ein paar Kalorien gebrauchen. Zu dünn war er nicht, aber doch sehr schlank und dabei extrem muskulös und durchtrainiert.
»Nein danke«, lehnte er ab und beäugte das Croissant wie eine Maus die Schlange. »Ich muss auf mein Gewicht achten.«
»Ach, kommen Sie«, spöttelte Molly. »Schauen Sie sich an. Da kann eins hiervon wirklich nicht schaden.«
»Kann es doch«, beteuerte er. »Denn ich kann vielleicht nach einem nicht aufhören, und ich habe mein morgendliches Kalorienlimit bereits erreicht.«
Molly senkte die Hand, die gerade noch das Gebäck an die Lippen führen wollte, und legte das Croissant zurück in die Tüte. Auch wenn sie hungrig war, auf keinen Fall würde sie vor ihm etwas essen!
»Nur zu«, forderte er sie auf. »Das macht mir nichts aus.«
Aber sie hatte genau gesehen, wie er das Croissant argwöhnisch beäugt hatte, also verschloss sie die Papiertüte und verstaute sie in ihrer Schreibtischschublade. Mochte sie erbarmungslos sein, wenn es um seine Handgelenksübungen ging – sadistisch genug, um ihn auch noch Tantalusqualen wegen eines Croissants leiden zu lassen, war sie nicht.
Er trank das Wasser aus und griff hinter sich. Dann hielt er ihr eine Kreditkarte hin. »Ich kann gerne bezahlen.«
Molly schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihnen doch gesagt, ich behandele Sie kostenfrei.«
»Nein, wirklich, ich kann das übernehmen. Oder vielmehr, BeSpoke übernimmt es. Das hier ist die Firmenkreditkarte. Allerdings wäre es denen lieber, wenn Sie das nächste Mal eine Rechnung stellen könnten«, sagte er verlegen.
»Eine Rechnung stellen?«, wiederholte Molly. »Oh, na schön. Einverstanden. Mache ich. Wobei … würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir an unserer ursprünglichen Abmachung festhalten? Denn ich möchte Sie wirklich gerne zweimal täglich behandeln, bis sie nach Frankreich reisen, und ich möchte nicht, dass Sie oder Ihr Sponsor denken, das tue ich nur, um mehr Geld an Ihnen zu verdienen.«
Alex hielt ihr weiterhin die Karte hin. »Das denkt bestimmt niemand, ich schon gar nicht, also bestehe ich darauf zu bezahlen. Sie können nicht umsonst arbeiten. Aber vielen Dank trotzdem. Ihre Großzügigkeit …« Er sprach nicht weiter, sah ihr aber tief in die Augen, und sein Blick verriet, wie dankbar er ihr war. Ihr Angebot hatte ihm offensichtlich viel bedeutet.
»Ein Abendessen«, sagte er dann unvermittelt. »Ich würde Sie gerne zum Abendessen einladen.«
Molly war sprachlos. Das kam völlig unerwartet. Und auch wenn sie die Einladung gerne angenommen hätte, würde sie ganz sicher nicht mit einem Patienten ausgehen. Das wäre nicht nur unprofessionell, sondern auch unmoralisch.
Alex deutete ihren Gesichtsausdruck jedoch ganz anders. »Oh, äh, vergessen Sie es«, stotterte er. »Sie haben bestimmt einen Ehemann oder einen Freund, und ich möchte nicht, dass Sie denken, ich würde Sie anmachen oder etwas in der Art.« Er schob ihr die Kreditkarte hin. »Bitte, nehmen Sie die hier.«
Molly zögerte, dann nahm sie die Karte. So gab es wenigstens keine Heimlichtuerei mehr, und Finley war bestimmt hellauf begeistert (oder verwundert?) über ihren Arbeitseifer.
»Fahren Sie vorsichtig«, sagte sie, als Alex sein Fahrrad zur Tür schob.
»Mache ich«, gab er über die Schulter zurück, während er sich den Helm aufsetzte.
»Oh, und es gibt übrigens weder Ehemann noch Freund«, platzte Molly heraus. Sie hatte keine Ahnung, wieso sie das unbedingt klarstellen wollte. Doch, das weißt du ganz genau, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf.
Als sie das Lächeln sah, dass sich auf dem Gesicht von Alex ausbreitete, war sie dennoch froh, es gesagt zu haben. Er hatte wirklich ein schönes Lächeln. Ihre Knie wurden für einen Moment weich …
Dann riss sie sich zusammen.
Trotzdem sah sie ihm durchs Fenster nach, wie er die Hauptstraße entlangradelte – und das nicht aus rein therapeutischem Interesse.