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Nur noch drei Behandlungstage, dann war ihre Zeit als behandelnde Physiotherapeutin von Alexander Duvall vorbei. Molly war beeindruckt, welch große Fortschritte er in der kurzen Zeit gemacht hatte, und das Meiste davon war allein seiner Entschlossenheit und Ausdauer zu verdanken.

Sie war nicht restlos überzeugt, dass sein Handgelenk wieder voll belastbar war. Aber er hatte ja noch eine Woche, bis die Tour de France losging, jedenfalls hatte er das gesagt. Er reiste nur schon früh für das gemeinsame Tapering mit den anderen Fahrern an und um sich zu akklimatisieren.

Molly hatte vor, das Radsportevent aufzunehmen. Bisher hatte sie sich nicht einmal ansatzweise für diesen Sport interessiert, aber jetzt hatte sie ein persönliches Interesse entwickelt. Sie wollte unbedingt, dass Alex gewann, und das sagte sie ihm auch, als er zu seiner abendlichen Behandlung erschien.

Er machte den Oberkörper frei und richtete sich auf der Behandlungsliege ein. »Dazu wird es nicht kommen«, sagte er mit gedämpfter Stimme.

»Ich wüsste nicht, was dagegen spricht!« Molly war entrüstet. »Es gibt keinen Grund, Ihre Leistung herunterzuspielen. Wenn Sie zum Rennen zugelassen wurden, sind Sie auch gut genug, um es gewinnen zu können.«

»So funktioniert das nicht. Es ist eine Teamleistung.« Er gab ein leises Ächzen von sich, als sie mit der Massage begann.

Molly bearbeitete die Muskulatur und glitt mit den Händen über seine weiche, glatte Haut. Er trug heute ein anderes Aftershave, dessen verführerischer Duft ihr immer wieder in die Nase stieg. Sie widerstand dem Drang, das Gesicht an seinem Hals zu vergraben, um den Geruch noch tiefer einzuatmen, und sagte: »Aber das bedeutet nicht, dass Sie nicht gewinnen können, oder?«

»Doch, das tut es.«

»Wieso?«

»Weil der Sportdirektor des jeweiligen Teams immer einen Fahrer bestimmt, dem er die besten Siegeschancen ausrechnet. Die restlichen Fahrer, Domestiken so wie ich, werden dafür bezahlt, ihm zum Sieg zu verhelfen.«

Molly ließ diese seltsame Erklärung einen Moment lang sacken. »Dann hat der Teamchef sich also nicht für Sie entschieden«, sagte sie schließlich.

»Nein. Ich bin allerdings der zweite Mann des Kapitäns. Das ist Tim Anderson, er hat die besten Chancen auf einen Sieg, danach komme ich. Es ist meine Aufgabe, ihm zu helfen, so gut ich kann – das kann so aussehen, dass ich ihm mein Rad abtrete, wenn seins beschädigt ist, oder dass ich ihn den Berg hochziehe.«

»Hochziehen? Wie meinen Sie das, wortwörtlich hochziehen?« Molly tippte Alex auf die Schulter, um ihm anzuzeigen, dass der erste Abschnitt der Behandlung vorüber war und er sich aufsetzen konnte.

Alex lachte. »Nein, nicht wortwörtlich. Es hat mit dem Windschatten zu tun, und damit, jemanden vor sich zu haben, an den man sich halten kann.«

»Ich bin raus.«

»Das Hochziehen ist reine Physik. Sagen wir mal, vor Ihnen fährt ein Wagen mit knapp fünfzig Stundenkilometern. Dann müssten sie in dem Wagen dahinter mit weniger Luftwiderstand rechnen, also auf lange Sicht weniger Benzin verbrauchen. Können Sie mir folgen?«

Molly nickte.

»Genauso verhält es sich beim Rennradfahren. Der Fahrer an der Spitze ist quasi der Windbrecher, der Fahrer hinter ihm spart Energie. Diejenigen, die vorn im Peloton mitfahren, haben also einen härteren Job und werden schneller müde als die Fahrer direkt hinter ihnen.«

»Moment mal, was ist ein Peloton?«

»So wird das Hauptfeld genannt, in dem sich die meisten Fahrer befinden.«

Molly ließ ihn ein paar Übungen ausführen, wobei sie ihn immer wieder unterbrach, um etwas zu korrigieren oder die Dehnung zu verstärken.

»Rennradfahren ist viel komplexer, als ich dachte«, gab sie zu. »Sie sagten, Sie fahren als Domes–?« Sie sprach das Wort nur zögerlich aus.

»Domestik. Meine Aufgabe ist es, den GC-Fahrer des Teams zu unterstützen.«

»GC?«

»Das steht für General Classification. Hören Sie, warum gehen Sie nicht mal mit mir essen? Ich beiße auch nicht, versprochen, und dann kann ich Ihnen alles in Ruhe erklären. Außerdem gibt es da etwas, das ich Sie gerne fragen würde.«

»Ach? Können Sie mich nicht einfach jetzt fragen?«

»Ich hatte gehofft, Sie erst mit etwas Wein gütlich zu stimmen.«

»Oh nein, das werden Sie nicht. Fragen Sie mich jetzt in nüchternem Zustand.«

Alex zögerte.

»So schlimm?«, fragte sie und überlegte, um was es sich da wohl handeln mochte, wenn er einen derartig ernsthaften Gesichtsausdruck aufsetzte.

Er holte tief Luft. »Erinnern Sie sich noch an meine erste Behandlung und wie ich gesagt habe, dass ich Sie am liebsten mit nach Hause nehmen würde?«

Sie nickte.

»Das möchte ich immer noch«, sagte er.

»Ist das alles?«, lachte sie. »Das höre ich öfter.«

»Ich meine es aber ernst.«

»Wie bitte?«

»Ich möchte, dass Sie mitkommen.«

»Wohin?«

»Nach Frankreich.«

Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder, wie ein Fisch am Haken.

»Ich kenne Sie kaum und Sie fragen mich, ob ich mit Ihnen Urlaub machen möchte?«

»Nein, tut mir leid, natürlich nicht, um dort Urlaub zu machen. Ich meine, für die Tour.« Alex fühlte sich sichtlich unwohl – ganz zu Recht, fand Molly. Sie hatten sich gerade erst kennengelernt, und er bat sie, mit ihm zu verreisen. Himmel, sie hatten ja nicht einmal ein erstes Date gehabt!

Moment mal, hatte er gerade »für die Tour« gesagt? Wenn sie sich ein paar Tage freinehmen würde, dann bestimmt nicht, um sich eine Horde verschwitzter Rennradfahrer anzusehen, die in Frankreich die Berge hinauf und wieder hinunter rasten. Außerdem war das ganz schön kurzfristig, und sie war nicht sicher, ob sie überhaupt Urlaub bekommen würde. Nicht, dass sie überhaupt vorhatte mitzufahren …

»Äh, nein danke, mir sind … Strandurlaube lieber«, sagte sie.

Dieser Tag, der so normal begonnen hatte, fing an, ins Surreale abzugleiten. Es war ja durchaus nett, dass er ihr das anbot, aber auf gar keinen Fall würde sie alles stehen und liegen lassen, um mit einem Kerl, den sie vor gerade einmal zwei Wochen kennengelernt hatte, eine Spritztour nach Frankreich zu unternehmen. Sie wusste nicht einmal, wo er wohnte – doch, wusste sie. Vom Patientenformular. Nein, sie hatte nicht extra in den Unterlagen nachgeschaut. Es war ihr einfach ins Auge gestochen, als sie das Formular zum Empfang zurückgebracht hatte.

Spetchley. Foxglove Road. Nummer sechs.

Sie war erstaunt, dass sie sich so genau erinnerte.

Alex war das alles offensichtlich hochpeinlich. »Ich spreche nicht von einem Urlaub«, murmelte er. »Es ist ein Jobangebot.«

»Ein was

»Ein Jobangebot.«

»Das habe ich gehört. Aber was für ein Job? In Frankreich?«

»Frankreich, Spanien, Belgien. Wo auch immer wir Rennen fahren.«

»In Ordnung, jetzt mal ganz langsam, das müssen Sie mir genauer erklären.«

»Dass Sie mitreisen sollen, war ernst gemeint.«

Er hob die Hand, als Molly erneut den Mund öffnete. Sie schloss ihn wieder. Sie konnte ihn ja zumindest ausreden lassen, ehe sie ablehnte.

»Unser Physiotherapeut hat vor einem Monat seine Kündigung eingereicht. Er wird jetzt für Control Data arbeiten. Das ist ein Konkurrenzteam«, fügte Alex hinzu, als er Mollys Gesichtsausdruck sah. »Wir haben noch keinen Ersatz für ihn, obwohl die Tour in zehn Tagen startet. Wir sind also ziemlich verzweifelt.«

»Na, vielen Dank auch.« Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus.

Alex seufzte. »So habe ich das nicht gemeint«, erklärte er sich. »Was ich meinte, war –« Er glitt von der Liege und fasste sie an den Oberarm. »Hören Sie, Sie sind gut. Mehr als gut – Sie sind richtig toll. Und mit dem Herzen dabei. Was wahrscheinlich genauso wichtig ist. Sie hätten mir nicht all diese Extrastunden einräumen müssen, und dass Sie das alles auch noch umsonst tun wollten, einfach aus Gutherzigkeit, bedeutet mir wirklich viel. Uns allen.«

Molly starrte ihn unverwandt an. »Nun, Sie haben ja bezahlt – und wer sind bitte ›wir alle‹?«

»Das gesamte BeSpoke-Team. Die anderen Fahrer und ich. Chuck.«

»Chuck?«

»Unser Sportdirektor. Wir wären alle überglücklich, wenn Sie zu uns ins Team kämen, ganz besonders die Swannies.«

»Oh.« Das war alles ein bisschen zu viel. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Eben hatte sie noch Handgelenksübungen mit ihrem Patienten durchgeführt, und in der nächsten Sekunde wurde ihr ein leicht bizarres Jobangebot gemacht, bei dem sie mit Menschen zusammenarbeiten sollte, die die merkwürdigsten Berufsbezeichnungen hatte. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was ein Swannie sein sollte, und war auch nicht sicher, ob sie es überhaupt wissen wollte.

»Brauchen Sie ein wenig Bedenkzeit?«, fragte Alex und ließ sie los. Er sah sie besorgt an.

»Ja, bitte.« Vielleicht einen Monat, oder zwei.

»Ich werde es heute Abend erklären, ja?«

»Ja … äh … vielmehr, nein.«

»Ich dachte wir gehen zusammen essen?«

»Ich habe nie zugestimmt.«

»Oh.«

Alex wirkte am Boden zerstört, und Molly bekam sofort ein schlechtes Gewissen. »Es ist nicht üblich, mit Patienten auszugehen«, fügte sie hinzu, um die Abfuhr abzumildern.

»Dann ist es doch in Ordnung, denn es handelt sich ja nicht um ein Date«, verkündete er fröhlich.

Molly wurde feuerrot. Großartig. Jetzt hatte sie sich zur Idiotin gemacht, indem sie falsche Schlüsse gezogen hatte. »Ich halte das trotzdem für keine gute Idee.«

»Die Bezahlung ist gut, und Sie würden eine Menge toller Orte zu sehen bekommen. Würden Sie wenigstens darüber nachdenken? Beim Abendessen?« Er war wieder in sein Hemd geschlüpft und angelte jetzt nach seinem Autoschlüssel. Sie wusste inzwischen, dass er meistens morgens mit dem Rad kam, abends aber lieber das Auto nahm, um zur Praxis zu kommen.

»Aber was ist mit meinem Job hier?«, fragte sie.

»Das können wir doch beim Essen besprechen.« Er lächelte hoffnungsvoll und sah sie mit leicht schräg gelegtem Kopf an, während er auf ihre Antwort wartete.

Molly überlegte. Ach, warum nicht. Er war eh in ein paar Tagen weg, und es war unwahrscheinlich, dass sie ihn je wiedersehen würde. Außerdem waren sie beide erwachsen und würden beim Abendessen das Jobangebot besprechen. Also hatte Alex recht, es war nicht wirklich ein Date.

»Na schön«, willigte sie ein, ging zu ihrem Schreibtisch, schrieb Adresse und Telefonnummer auf und reichte ihm den Zettel. »Holen Sie mich um acht ab. Und ich erwarte ein gutes Restaurant.«

»Geht klar«, versprach er und schoss aus der Tür.

Molly sah ihm amüsiert nach. Er war wirklich niedlich. Und auch wenn sie davon ausging, dass sie sich nach Behandlungsende nicht wiedersehen würden, freute sie sich doch weit mehr auf den Abend, als sie es sich eingestehen wollte.