Molly hatte schon von Brown’s Brasserie gehört, aber noch nie selbst dort gegessen. Das Restaurant befand sich in einem kleinen Dorf am Ufer des Severn, mit einem hübschen Garten, der fast bis ans Wasser reichte. Die Tische auf der Terrasse waren mit weißen Tischtüchern und blitzendem Besteck eingedeckt, die Gläser schimmerten im schwindenden Licht des Tages. Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen, und die um die Pergola gewickelten Lichterketten verliehen der Location etwas Magisches.
Alex hatte ihre Bemerkung wörtlich genommen: Es war wirklich ein wunderschönes Restaurant, und Molly hatte von Freunden von dem hervorragenden Essen gehört. Sie freute sich drauf, denn sie war halb verhungert.
Nachdem sie Platz genommen hatten und die Karten in den Händen hielten, kam Molly gleich zur Sache. Sie hatte nicht nur auf dem Heimweg, sondern auch, während sie geduscht und sich fertig gemacht hatte, an nichts anderes als Alex und sein Jobangebot denken können. Eigentlich nur an Alex, wenn sie ehrlich war, obwohl sie sein Angebot verlockend fand. Außerdem konnte es ja nicht schaden, ein wenig mehr über ihn zu erfahren. Mehr über den Job zu erfahren, hatte sie sich selbst rasch verbessert, während sie sich die Haare abgetrocknet hatte.
»Erzählen Sie mir mehr über dieses Jobangebot«, forderte sie ihn auf, während ihr hungriger Blick über die Liste der Vorspeisen glitt. Sie alle klangen köstlich. Wie sollte sie sich da bloß entscheiden?
»Sie würden mitreisen und ins BeSpoke-Team kommen«, sagte Alex leichthin, als sei es völlig normal, ihr Zuhause und ihren bisherigen Job zurückzulassen, um für eine Firma zu arbeiten, von der sie noch nie gehört hatte. »Haben Sie gewählt?«
»Ich denke schon. Nehmen wir eine Vorspeise?«
Alex runzelte leicht die Stirn. »Nicht für mich, tut mir leid. Ich muss auf mein Gewicht achten.«
Molly zog die Augenbrauen hoch. Dennoch verkniff sie sich einen Kommentar und entschied sich, dann eben statt einer Vorspeise eine extra Beilage zu bestellen. Er konnte ja gerne auf sein Gewicht achten – sie hatte da keinerlei Bedenken. »Also, ich hätte gerne das Steak vom australischen Weiderind mit Pommes und Salat, und dazu eine Portion Zwiebelringe im Bierteig, bitte«, bestellte sie bei der Kellnerin, die an ihren Tisch getreten war. »Oh, und könnte ich ein kleines Glas von dem roten Hauswein bekommen?«
»Selbstverständlich. Und für Sie?«, wandte sich die Bedienung an Alex.
»Ich hätte gerne den Schwertfisch und einen grünen Salat. Ohne Dressing. Den Fisch ohne Soße. Und ein Mineralwasser, bitte.«
»Na los, erzählen Sie mir alles«, sagte Molly erneut, als die Kellnerin den Tisch verlassen hatte, und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie sein bestimmt mickriger Salat sich neben ihrem Riesenberg Zwiebelringe und Pommes machen würde.
»Wie ich schon sagte, hat unser Physiotherapeut gekündigt. Deshalb bin ich zu Ihnen in die Praxis gekommen. Normalerweise wäre ich jetzt schon im Trainingscamp bei meinen Teamkollegen, aber da wir keinen Physiotherapeuten hatten, habe ich mich entschieden, nach Hause zu fahren, um mich behandeln zu lassen.«
»Nach Hause bedeutet nach Spetchley?«
»Das haben Sie sich gemerkt!« Er strahlte übers ganze Gesicht.
»Es steht in Ihrer Patientenakte.«
»Oh.« Er wirkte geknickt, fing sich jedoch gleich wieder und schenkte ihr ein Lächeln. »Sie haben also nachgeschaut?«
Molly verdrehte die Augen. »Das Jobangebot?«, wechselte sie das Thema.
»Wissen Sie, ich verstehe ja, dass Sie skeptisch sind. Ich wäre das auch an Ihrer Stelle. Aber wie ich schon sagte, es ist wirklich gut bezahlt und Sie könnten gleichzeitig etwas von der Welt sehen.«
»Frankreich«, erwiderte Molly ausdruckslos. Das war wohl kaum die große, weite Welt.
Er grinste. »Da wäre auch noch die Flandern- sowie die Spanienrundfahrt, der Giro d’Italia, die Tour Down Under in Australien, die Kalifornienrundfahrt, eine Tour in den Alpen, eine in Saudi-Arabien, dann noch in der Türkei und in Südafrika. Ich könnte ewig weiter aufzählen, und falls Sie zwischendrin Heimweh bekommen – es gibt auch die Tour of Yorkshire oder die Tour of Britain.« Er sah sie hoffnungsvoll an.
»Sie haben gewonnen, das sind wirklich beeindruckend viele Orte.« Molly dachte kurz nach. »Würde das bedeuten, dass ich die meiste Zeit des Jahres unterwegs wäre?«
»Ja, aber –«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das möchte.«
Die Bedienung brachte ihre Getränke, und Molly nahm dankbar einen Schluck Wein, da sie plötzlich eine ganz trockene Kehle hatte. Alex leerte sein Wasser in einem Zug und bestellte direkt nach, noch ehe die Kellnerin sich wieder abgewandt hatte.
»Was denn?«, fragte er Molly, die ihn aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. »Ich trinke eben sehr viel Wasser.«
»Trinken Sie auch noch etwas anderes?«
Er zuckte mit den Achseln. »Energiedrinks, Fruchtsäfte, und wenn ich mich nicht gerade auf ein Rennen vorbereite auch Kaffee, außerhalb der Saison Wodka.«
Molly wurde hellhörig. »Es gibt eine Zeit ohne Rennen? Dann sind Sie also nicht das ganze Jahr über unterwegs?«
»Im Oktober ist rennfreie Zeit.«
»Das ist alles? Nur ein freier Monat?«
»Mehr oder weniger.«
»Hm.« Molly war hin- und hergerissen. Was Alex ihr da anbot, war eine einmalige Gelegenheit. Die meisten Physiotherapeutinnen und -therapeuten würden den rechten Arm hergeben, um an einen Job zu kommen, bei dem sie dafür bezahlt wurden, um die Welt zu reisen. Dennoch war Molly nicht sicher, ob sie dafür gemacht war. Sie genoss die Vertrautheit ihres Zuhauses. Es war klein, aber fein, und es gehörte ihr ganz allein. Sie fragte sich, wie schnell der Reiz des Neuen wohl verflog, wenn sie sich alle paar Wochen an einem anderen Ort wiederfinden würde. Außerdem wusste sie überhaupt nichts über den Radrennsport und wusste auch nicht, ob sie das überhaupt ändern wollte.
Das alles erklärte sie nun Alex.
»Mit Knochen, Muskeln und Sehnen kennen Sie sich doch aus, nicht wahr? Das ist Ihr Aufgabenbereich, Ihr Job. Über gewichtsbezogene Leistung oder Reifendruck müssen Sie gar nichts wissen, auch nicht über Bergkategorien – denn das ist mein Aufgabenfeld, mein Job. Jeder bei uns im Team, vom Sportdirektor bis zum Busfahrer, hat seinen eigenen Aufgabenbereich. Gut, eigentlich weiß jeder, wie man Rad fährt. Obwohl ich mir da bei Tim manchmal nicht ganz sicher bin.« Er lachte, um zu zeigen, dass er nur scherzte.
»Tim?«
»Unser Teamkapitän – der Kerl, in den wir große Hoffnung setzen.«
»Ah ja, ich erinnere mich. Sie sind sein zweiter Mann.«
Alex schaute sie überrascht an. »Sie haben wirklich zugehört.«
»Was nicht bedeutet, dass ich den Job annehme«, erwiderte Molly.
Alex seufzte. »Ich kann gar nicht glauben, dass ich Sie überreden muss. Ich dachte, Sie würden sich freuen.«
»Sie haben doch mich gefragt und nicht umgekehrt. Ich bewerbe mich nicht um einen Job. Sie versuchen, mich zu überreden.«
Er lehnte sich im Stuhl zurück, da das Essen serviert wurde, und sagte nichts mehr, bis sie wieder allein waren. Molly beäugte den schlichten Salat neben dem großen Stück Schwertfisch ohne Beilagen auf seinem Teller und verglich die Portion mit ihrem Steak und den Pommes. Ihr Essen gefiel ihr definitiv besser.
»Da gewöhnt man sich dran«, sagte Alex, dem ihr Blick nicht entgangen war.
»Essen Sie jemals Pommes, Schokolade, Kuchen oder etwas auch nur annähernd Ungesundes?«, fragte sie, denn er tat ihr aufrichtig leid.
Seine Augen blitzten. »Kuchen«, sagte er verträumt. »Ich habe eine Schwäche für Kuchen. Das scheint tatsächlich bei vielen Profiradfahrern so zu sein. Es gibt nichts Besseres, als in Italien auf dem Rad unterwegs zu sein und auf halbem Weg für Kaffee und ein Stück Kuchen anzuhalten.«
Molly musste lächeln. »Kommt das häufiger vor?«
»Ja, und nicht nur in Italien. Es könnte auch in Frankreich sein«, er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen, »Spanien oder Belgien – obwohl der belgische Kaffee nicht der beste ist –, oder in welchem Land wir zufällig gerade trainieren. Rennradfahrer freuen sich immer riesig, wenn sie ein neues Café entdecken. Wir sind bekannt dafür, unsere Trainingsrouten extra so zu legen, dass wir die besten Cafés in der jeweiligen Gegend besuchen können.«
Sie sah ihn skeptisch an.
»Sie finden, ich genieße das Leben zu wenig, stimmt’s?«, seufzte er.
»Möglich, aber so, wie Sie davon reden, klingt es faszinierend.«
»Wirklich?«
»Nein.«
»Oh.« Er legte die Gabel beiseite, denn er hatte schon fast aufgegessen. Molly hatte bisher ihr Essen kaum angerührt.
»Gibt es denn nicht irgendetwas, womit ich Sie überzeugen kann, den Job ihres Lebens anzunehmen? Einen Job, für den andere sich ein Bein ausreißen würden, bei dem sie dafür bezahlt werden, die Welt zu bereisen?«, fragte er.
»Wenn Sie das so formulieren …« Sie spießte mit unfassbar schlechtem Gewissen eine Pommes auf und biss hinein.
»Heißt das, Sie sind dabei?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Ich habe bereits einen Job und den möchte ich nicht unbedingt eintauschen.«
»Na schön. Ich schlage Ihnen Folgendes vor.« Er stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und beugte sich zu ihr vor. »Ich möchte Ihnen eine E-Mail von Greg zeigen. Er ist der Manager von unserem Team.«
»Einverstanden.«
Alex zog sein Handy hervor, suchte die Nachricht und reichte ihr das Telefon.
Molly las die Mail durch. Dann las sie sie ein zweites Mal. »Wollen Sie mich veräppeln?«, fragte sie.
»Nein. Er meint jedes Wort so, wie es da steht.«
»Das ist das Doppelte von dem, was ich jetzt verdiene.«
»Ja?« Alex sah erleichtert aus. »Ich hatte gehofft, dass es deutlich mehr wäre. Und das ist noch nicht alles. Es werden außerdem sämtliche Reisekosten übernommen, die Hotels, alle Mahlzeiten.« Alex zögerte, dann verzog er das Gesicht. »Vergessen Sie das mit den Mahlzeiten lieber wieder, denn wenn Sie nicht wie ein Profiradsportler essen möchten, organisieren Sie sich ihr Essen besser selbst.« Er lächelte sie hoffnungsvoll an. »Es ist tatsächlich ein ziemlich gutes Angebot.«
Das war es eindeutig.
Molly starrte auf ihr halb aufgegessenes Steak. Versuche, es mal ganz rational zu bewerten, sagte sie sich und überlegte, was dagegen sprach. Doch welchen Grund könnte es geben, ein solches Angebot auszuschlagen, abgesehen davon, dass sie Familie und Freunde monatelang nicht sehen würde? Wenn sie ganz ehrlich war, fiel ihr sonst nichts ein. Sie war jung, ungebunden und völlig frei in ihren Entscheidungen. Da sie noch nicht verheiratet war und keine Kinder hatte, war es sogar der perfekte Zeitpunkt, um etwas Derartiges zu wagen.
Was hielt sie also zurück?
Sie wurde sich bewusst, dass Alex sie aufmerksam beobachtete, und hob den Blick vom Teller. Mit einem Mal war sie überhaupt nicht mehr hungrig.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
Sie nickte. »Ich überlege.«
»Dann halte ich jetzt mal den Mund.«
Und das tat er. Er lehnte sich zurück, nippte nur an seinem Wasser, als hätte ihn jemand ausgeknipst. Molly betrachtete ihn einen Moment lang und fragte sich, was wohl in seinem Kopf vorging. Dann widmete sie sich wieder ihren eigenen Überlegungen.
Wenn sie diese Chance nicht ergriff, würde sie dann jemals wieder die Gelegenheit haben, die Welt zu sehen und dabei das zu tun, was sie liebte und worin sie gut war? Und auch noch dafür bezahlt werden? Sicher nicht. Wenn sie sich dieses Angebot durch die Lappen gehen ließ, würde sie also höchstwahrscheinlich den Rest ihres Lebens in Worcester verbringen. Nicht, dass das etwas Schlimmes wäre – sie liebte die kleine Stadt mit der historischen Kathedrale, dem gemächlich dahinfließenden Fluss und der wundervollen Landschaft.
Aber dieser Mann ihr gegenüber bot ihr die Welt auf dem Silbertablett an. Die Frage war nur: Hatte sie den Mut, sich darauf einzulassen?