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Molly stieg erleichtert aus dem kleinen Flugzeug. Eigentlich machte Fliegen ihr nichts aus. Aber die Maschine von Birmingham nach Dinard war winzig. In einem derartig kleinen Flieger hatte sie noch nie zuvor gesessen. Immerhin hatte es Kaffee und Croissants gegeben, womit sie gar nicht gerechnet hatte, und sie hatte das von Alex gleich mit verdrückt. Denn wenn sie jetzt so viel Zeit unter Radrennfahrern verbringen würde, musste sie jegliche vermeintlich vornehme Zurückhaltung, was das Essen anging, ohnehin aufgeben.

Glücklich sog sie die Luft des fremden Landes ein und spürte, wie ihre Brust vor Aufregung vibrierte. Sie war hier! Sie war tatsächlich in Frankreich. Die letzten Tage hatte sich alles ein wenig unwirklich angefühlt, fast wie ein Traum oder als würde sie eine andere Person dabei beobachten, wie sie alles für einen Monat Abwesenheit vorbereitete. Die ganze Zeit über hatte Molly befürchtet, irgendjemand würde »Reingefallen!« rufen und dann lachend wegrennen.

Erst als sie Alex in der Abflughalle des Flughafens von Birmingham getroffen hatte, war ihr klar geworden, dass das alles tatsächlich passierte. Sie hatte ihn vor einem glänzend schwarzen Auto entdeckt (der Flughafen übertrieb es wirklich im Duty-Free-Bereich), wo er anerkennend vor sich hinmurmelte.

Vor lauter Aufregung und weil sie froh darüber war, nicht allein reisen zu müssen, hatte sie sowohl vor als auch während des Fluges ein wenig zu viel geplappert. Alex war jedoch bereitwillig auf alles eingegangen, und so hatte sie herausgefunden, dass er einen älteren Bruder hatte und seine Eltern geschieden waren, ihn aber beide in allem unterstützten und sehr stolz waren auf das, was er erreicht hatte. Dass er gerne einen Hund hätte, aber die vielen Reisen das nicht erlaubten; dass er ein Haus besaß, aber dort nicht so viel Zeit verbrachte, wie er eigentlich wollte. Und dass eine Rede auf der Hochzeit eines Freundes zu halten ihm mehr Angst eingejagt hatte als alles andere im Leben.

Der Flughafen von Dinard war winzig klein, also hatten sie schon kurz nach der Landung ihr Gepäck und die Sicherheitskontrolle hinter sich. Vor dem Gebäude hob Alex eine Hand, um die Augen vor der Sonne abzuschirmen, und ließ den Blick suchend über den Parkplatz schweifen. »Da drüben«, sagte er und streckte den Finger aus.

Molly sah in die angegebene Richtung und bemerkte ein grell pink und grün bedrucktes Auto, aus dessen Fahrertür sich ein Mann beugte und wie wild winkte.

»Mick! Gut, dich zu sehen, Kumpel!« Alex ließ seine Tasche neben dem Wagen fallen, ging auf den Mann zu, klopfte ihm auf den Rücken und umarmte ihn herzlich. Molly hielt sich schüchtern im Hintergrund.

Nach ein paar Sekunden löste sich der andere Mann aus der Umarmung und betrachtete Alex prüfend. »Und, bist du wieder fit?«, fragte er mit leicht australischem Akzent, hielt Alex’ Arm hoch und besah ihn sich gründlich.

»Ja, endlich. Und das nur dank dieser reizenden Dame hier.« Alex wandte sich zu ihr um, und Molly spürte, dass sie errötete. »Das ist Molly Matthews, unsere neue Physiotherapeutin.«

Mit zwei großen Schritten war Mick bei ihr und schüttelte ihr schwungvoll die Hand. Sein Händedruck war so fest, als könne er Steine mit bloßen Händen zerquetschen, sodass sie leicht vor Schmerz zusammenzuckte, während sie sich um ein Lächeln bemühte.

»Tut mir leid, Liebes«, sagte Mick und gab ihre Hand frei. »Ich vergesse manchmal, wie man sich Damen gegenüber verhält.« Mick hatte ein offenes, freundliches Gesicht und Molly mochte ihn sofort.

»Mick ist einer unserer Swannies. Er ist schon ein paar Tage hier«, sagte Alex.

»Ja, zusammen mit Greg und Chuck, Jakob und Keiron und Damien –«

Molly hörte zu, als Mick eine Reihe von Namen abspulte. Wer waren diese Menschen, was war ihre Aufgabe im Team und wie sollte sie sich bloß jemals all die Namen merken?

»Entschuldige«, sagte sie zu Alex. »Wahrscheinlich hast du es mir schon mal gesagt, aber was ist noch mal ein Swannie?«

»Das kann ich beantworten, darf ich?«, schlug Mick vor. »Swannie ist angelehnt an das französische Verb soigner, das bedeutet, sich um jemanden kümmern, und genau das ist es, was wir Swannies tun: Wir kümmern uns um die Fahrer. Ob es nun eine Massage ist, wir die Ausrüstung reinigen, für sie packen oder ihnen am Ende des Rennens vom Rad helfen – was auch immer sie brauchen, für gewöhnlich sind wir diejenigen, die ihnen dabei helfen, es zu bekommen.«

»Oh, verstehe.« Das klang nach sehr viel Arbeit, und Molly war froh, dass das nicht ihre Aufgabe war.

Nachdem das Gepäck im Kofferraum verstaut war, hielt Alex ihr eine der hinteren Wagentüren auf, und sie ließ sich auf die Rückbank gleiten. Alex stieg vorn ein und war schon bald mit Mick in Diskussionen um Menschen und Orte vertieft, von denen Molly noch nie gehört hatte, zu denen sie folglich auch nichts beitragen konnte. Also entspannte sie sich und betrachtete die französische Landschaft, die am Fenster vorbeizog. Sie wies eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Devon und Dorset auf, vielleicht nicht ganz so hügelig. Doch sobald sie auf der Schnellstraße waren, hätte Molly sich auch in England wähnen können, mal abgesehen davon, dass sie auf der anderen Straßenseite fuhren und die Straßenschilder alle auf Französisch waren.

Einige Gesprächsfetzen von vorn ließen sie aufhorchen.

»Wo sind wir untergebracht?«, fragte Alex.

»In Dinan. Wir sind in fünfzehn Minuten da.«

Alex seufzte. »Wie weit sind wir vom Mount entfernt?«

»Ungefähr sechzig Kilometer. Eine Stunde Fahrt.«

»Das geht ja noch. Ich hatte Schlimmeres erwartet.« Alex drehte sich im Sitz zu ihr um. »Ich kenne Teams, die drei Stunden bis zum Etappenstart fahren müssen.«

Molly wusste durch ihr ständiges schon leicht zwanghaftes Googeln inzwischen, dass eine »Etappe« jeweils ein bestimmter Tag des Rennens war. Die Tour de France bestand aus einundzwanzig Renntagen – oder Etappen – mit zwei Pausentagen in der Mitte.

»Warum so weit entfernt? Müsst ihr an bestimmten Orten unterkommen?«, fragte sie.

Mick lachte. »Das ist deine erste Grand Tour?«

Ihre Blicke trafen sich im Rückspiegel, und Molly nickte.

»Dann mach dich auf etwas gefasst«, sagte er mit einem Lächeln. »Es ist die größte draußen stattfindende Feier der Welt, zusammen mit einer Art Wanderzirkus. In diesem Jahr nehmen zweiundzwanzig Teams an der Tour teil. Bei acht Fahrern pro Team macht das insgesamt hundertsechsundsiebzig Teilnehmer. Dann noch all die Teammanager, Sportdirektoren, Techniker, Swannies – also all diejenigen, die das Gleiche wie ich machen –, Ärztinnen, Köche, Physiotherapeuten … und da habe ich die ganze Pressemeute noch gar nicht mitgezählt, oder Motorradfahrer, die Organisatoren der Tour, die Sicherheitskräfte … Da kommst du auf Tausende Menschen, die alle irgendwo unterkommen müssen. Nimm die Touristen hinzu, und dann kannst du von Glück reden, wenn du irgendwo noch ein Zelt zum Übernachten findest!«

»Und wie ist es da so?«, fragte Alex, bevor er sich wieder Molly zuwandte: »Wir werden nur zwei Nächte dort bleiben, und von da an heißt es: jeden Tag ein neues Hotel.«

Na toll, dachte Molly, die sich nicht gerade darauf freute, mehr als zwanzig Mal ein- und wieder auszupacken.

»Ist schon in Ordnung so weit«, sagte Mick gedehnt. »Halt ein Schuhkarton mit Bett. Wir sind bereits ein paar Tage hier«, wandte er sich wieder an Molly. »Die anderen Swannies, Mechaniker und Fahrer sind alle mit dem Eurostar gekommen. Keine schicken Flieger für uns.«

Molly wollte ihm gerade erklären, dass der Flieger kaum als schick gelten konnte, aber Alex kam ihr zuvor. »Du kannst froh sein, dass sie dich nicht herradeln lassen, Kumpel, damit du mal ein Gefühl dafür bekommst, was wir Fahrer durchmachen.«

Es folgte ein gutmütiger Schlagabtausch zwischen den beiden, der erst endete, als Mick auf einen Parkplatz voller Fahrzeuge im selben Pink-Grün-Mix wie ihr Wagen einbog.

Molly stellte leicht enttäuscht fest, dass das Hotel selbst ein nichtssagender, niedriger und in weiß gehaltener Klotz war. Aus irgendeinem albernen Grund hatte sie etwas Französischeres erwartet, einen umgebauten Bauernhof vielleicht, oder ein Chateau. Und nicht so ein unpersönliches Budgethotel wie jedes andere in England. Tatsächlich könnte man nach dem, was sie bisher vom Land gesehen hatte, fast annehmen, sie sei noch in Großbritannien – nichts war bisher auch nur annähernd typisch französisch gewesen. So viel dazu, dass sie die Welt kennenlernen würde. Da hätte sie auch in den Midlands bleiben können!

Obwohl sie protestierte, trug Mick ihre Koffer und die von Alex ins Hotel. »Ich will nicht, dass er sich noch was zerrt«, erklärte er. »Und du bist schließlich ein Mädchen.«

Molly riss entsetzt die Augen auf, weil er sich derartig politisch unkorrekt äußerte, beließ es aber dabei; als einziges weibliches Wesen unter Männern würde sie sich wahrscheinlich noch ganz andere Dinge anhören müssen.

»Lass dich nicht täuschen«, sagte Alex, während sie Mick zur Rezeption folgten. »Sie hat mehr Kraft als ich.«

»Trotzdem ist sie eine Frau, und meine Mutter würde sich im Grabe umdrehen, wenn ich sie ihre Koffer selbst tragen ließe.«

»Deine Mutter ist quicklebendig«, gab Alex zurück, »und lass uns mal abwarten, wie schnell sich deine Einstellung ändert, nachdem du zehn Tage lang Koffer geschleppt hast. Du wirst Molly anflehen, ihren selbst zu tragen!«

»Da seid ihr ja! Ich dachte schon, ich müsste eine Suchmeldung rausgeben«, rief eine männliche Stimme.

Molly sah einen großen, dünnen Mann mit grauem Wuschelkopf auf sie zukommen.

»Greg!«, rief Alex, gefolgt von einer weiteren Runde Umarmungen. »Das ist Molly«, stellte er sie vor und trat zur Seite, um sie Greg zu präsentieren. »Molly, das ist Greg Easthope, der Teammanager.«

Greg streckte die Hand aus.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Molly und schüttelte sie.

»Mich auch.« Er musterte sie von oben bis unten. »Sie sind also diejenige, die Alex in den höchsten Tönen lobt. Ich kann verstehen, warum.«

»So ist das nicht.« Alex schüttelte vehement den Kopf, was Greg ein Lachen entlockte.

»Das weiß ich doch«, sagte er. »Wollte nur sichergehen, dass du dich voll und ganz auf den Job konzentrierst.«

Alex zwinkerte ihr zu, um zu zeigen, dass Greg ihn nur aufzog, aber Molly war nicht überzeugt. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, das Angebot anzunehmen. Was, wenn Greg sie tatsächlich für eine zu große Ablenkung hielt?

Ein weiterer Mann gesellte sich zu ihnen. Molly schätzte ihn auf Anfang vierzig, und er war genauso schlank wie Alex.

»Das ist Chuck Griffiths. Er ist der Sportdirektor. Gemeinsam mit Greg hat er hier das Sagen, entscheidet über unsere Taktik, unsere Ernährung bis hin zu unserem Tagesablauf«, erklärte Alex.

Molly schüttelte auch ihm die Hand und lächelte. Noch ein neues Gesicht und noch ein Name, den sie sich merken musste.

»Kommt in die Hotellounge, wenn ihr eingecheckt habt – alle anderen sind schon da«, sagte Chuck. »Nur Elias ist noch nicht angekommen. Er soll morgen früh eintreffen. Vielleicht kann Molly ihn abholen?« Er hob fragend die Augenbrauen.

Molly musste schlucken, nickte aber. Sie war noch nie im Ausland Auto gefahren und wollte auch jetzt nicht unbedingt damit anfangen. Gehörte das überhaupt zu ihrem Aufgabenbereich?

»Wir sind ein kleines Team, da springt jeder mal für den anderen ein, gerade jetzt, wenn noch nicht so viel Physiotherapie ansteht«, erklärte Alex, als spüre er ihren inneren Widerwillen.

»Ist schon in Ordnung«, erwiderte sie, ohne es wirklich so zu meinen. Zumindest konnte sie das als neue Erfahrung verbuchen. Deswegen war sie schließlich hier, oder nicht?

Mick wartete mit den Koffern, bis sie und Alex eingecheckt hatten. »Keine Sorge, es gibt ein Navi. Gib einfach den Flughafen ein und es wird dich hinführen. Der Wagen fährt sich praktisch von allein.«

Molly lächelte schwach. Sie glaubte ihm kein Wort. Natürlich würde sie sich verfahren – angenommen, sie schaffte es überhaupt vom Parkplatz. Denn wie sollte sie mit Schaltung und Handbremse auf der anderen Seite klarkommen? Tja, das würde sie wohl gleich morgen früh herausfinden. Vielleicht durfte sie ja mal Probe fahren, ehe sie sie auf die Schnellstraße schickten?

Leicht überfordert freute sie sich auf nichts mehr, als in ihr Zimmer zu gehen und sich frischzumachen, bevor sie sich ein wenig hinlegen würde. Sie brauchte Zeit, das alles zu verdauen. Es war schon jetzt so viel passiert! Und sie musste noch Nachmittag und Abend überstehen, obwohl sie jetzt schon ziemlich müde war.

»Gut, also unterschreibe hier und hinterlege deinen Pass an der Rezeption. Morgen früh kannst du ihn wieder abholen«, wies Chuck sie an. Molly unterschrieb und erhielt im Gegenzug ihre Schlüsselkarte. »Du hast ein Zimmer für dich allein«, fügte er hinzu.

War das etwa nicht üblich?

»Weil du die einzige Frau im Team bist«, erklärte Alex. »Greg ging davon aus, dass du dir kein Zimmer mit den anderen Swannies teilen möchtest. Apropos Swannies, gib einfach Mick den Schlüssel, er kann deinen Koffer hochbringen. Ich möchte dich den Jungs vorstellen. Besser, du lernst gleich alle kennen, denn morgen um diese Zeit hast du sie auf deiner Liege.«

»Ich dachte, das Rennen beginnt erst am Samstag?«, fragte Molly.

»Tut es auch, aber wir werden bis dahin ein paar Touren fahren, um die Muskeln geschmeidig zu halten.«

»Ah ja, verstehe.«

»Da sind sie ja!«, rief er begeistert, und wieder einmal stand sie ein wenig abseits, während Alex und die anderen sich stürmisch begrüßten. Einer von den Männern gab Alex zwei Wangenküsschen. Alex lachte. Er drehte sich zu Molly um und formte ein stummes Italiener! mit den Lippen.

Alle lachten und redeten durcheinander, als wären sie auf Klassenfahrt. Die Anspannung und Vorfreude war beinahe greifbar.

»Leute, das hier ist Molly Matthews«, stellte Alex sie dem Team vor. »Seid nett zu ihr, sie kann erwachsene Männer zum Weinen bringen. Ich würde es mir also lieber nicht mit ihr verscherzen.« Er trippelte mit erhobenen Fäusten wie ein Boxer auf der Stelle und zwinkerte vielsagend in die Runde.

Es folgte ein Chor aus »Hallo Molly!«, und sie schaute in lauter freundlich lächelnde Gesichter, die ihr zunickten. Ob die Männer immer noch so gut gelaunt und entspannt sein würden, sobald das Rennen losging? Noch waren alle quietschvergnügt, aber nach einigen Tagen starker körperlicher Belastung konnte das bestimmt schnell anders aussehen. Wenn sie auch nicht sehr viel über das Rennen an sich wusste (obwohl sie viel gegoogelt und sich unzählige YouTube-Videos vergangener Touren angesehen hatte), so war ihr doch klar, welcher Anstrengung sich die Fahrer damit aussetzten, und welche körperlichen Probleme oder gar Verletzungen dadurch begünstigt wurden. Sie würde hart arbeiten müssen – das stand außer Frage. Und sie würde auch sofort loslegen, sobald sie geduscht und ein paar Minuten für sich allein gehabt hatte.

Als sie sich gerade auf den Weg zu ihrem Zimmer machen wollte, legte Chuck ihr eine Hand auf die Schulter. »Schauen Sie nicht so besorgt. Erledigen Sie einfach ihren Job, dann wird das alles. Der Teamarzt Henno und ich sind mehr als zufrieden mit Ihrer Behandlung von Alex. Wir sprechen uns später noch, ach ja, und dann werde ich Sie Henno vorstellen. Bis dahin lernen Sie erst mal die Jungs kennen. Ich suche alle Unterlagen heraus, damit Sie sich mit den jeweiligen medizinischen Vorgeschichten vertraut machen können.«

Dann würde sie lieber gleich jetzt damit anfangen, entschied Molly. Denn je eher sie auf dem neuesten Stand war, desto schneller konnte sie mit ihrer Arbeit beginnen. Und ihr erstes Opfer würde Alex sein. Bei dem Gedanken bekam sie ein wenig Herzklopfen.