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Mick bestand darauf, dass Molly sich auf dem Weg zum Flughafen selbst hinters Steuer setzte. Es half ihr sehr, dass er einfach dabei war, wenngleich es ihr immer noch ein wenig Angst machte, auf der anderen Seite der Straße fahren zu müssen. Nachdem morgens alle Fahrer gewogen worden waren, offenbar, um die Flüssigkeitsversorgung zu überprüfen, hatten sie und Mick es Henno überlassen, seine »Runden« zu drehen, und waren nach einem hastigen Frühstück bestehend aus Haferflocken und Früchten losgeeilt, um Elias abzuholen. Danach ging es zurück zum Basislager, wie Molly ihr Hotel getauft hatte, um den Neuankömmling gemeinsam mit Henno zu untersuchen. Anschließend unternahmen alle Fahrer eine Trainingstour, um sich körperlich ein wenig zu fordern und den Kopf freizubekommen. Ein Teamwagen folgte ihnen mit mehreren Ersatzrädern auf dem Dach. Molly sah zu, wie sich alle gemeinsam auf den Weg machten. Chuck und Greg saßen vorn im Teamwagen, Henno und ein Mechaniker auf dem Rücksitz.

Sie fragte sich, was sie mit sich anfangen sollte, bis alle zurückkamen. Vielleicht ein wenig durch das kleine Örtchen Dinan schlendern? Doch ehe sie ihre Pläne in die Tat umsetzen konnte, wurde sie bereits von Mick eingespannt, der ihr zeigte, wie sie die Snacks und Getränke vorbereitete, die die Fahrer immer vor und nach dem Rennen bekamen. Besonders nach dem Rennen war wichtig, dass alles aufgefüllt war, wenn die Jungs hungrig und dehydriert in den Bus kamen. Jeder Swannie kümmerte sich um einen bestimmten Fahrer, Mick beispielsweise um Alex, obwohl er nicht müde wurde zu betonen, dass jeder im Team flexibel und jederzeit einsatzbereit sein musste, um notfalls kurzfristig woanders einspringen zu können.

Bis sie das alles erledigt hatten, waren die Fahrer auch schon wieder zurück, und Molly untersuchte mit Henno jeden einzelnen von ihnen sorgfältig, gefolgt von einer Massage und einer Reihe von Dehnübungen. Danach bekamen sie ihre Snacks.

Am späten Nachmittag hatte Molly dann endlich ein zwei Stunden für sich. »Wie weit ist es bis zum Ortskern?«, fragte sie Mick.

»Höchstens zehn Minuten, mit Parkplatzsuche.«

»Ach so, ich wollte eigentlich nicht fahren, sondern laufen.«

»Dann etwa eine halbe Stunde.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich würde ja mitkommen, aber Chuck will noch ein letztes Mal die Ausrüstung durchgehen. Das kann Stunden dauern. Hast du eine Vorstellung davon, wie viele Dinge dazugehören? Nein, woher auch. Vertrau mir, es ist eine ganze Menge: die Radlerhosen, Trikots, Leggings, Beinwärmer, Armwärmer …« Er zählt weiter Kleidungsstücke auf, während er sich Richtung Parkplatz aufmachte, wo der riesige Bus stand.

Bib Shorts? Beinwärmer? Molly kicherte in sich hinein.

»Worüber lachst du?«

Molly schnappte nach Luft und wirbelte herum. Alex stand vor ihr. »Äh, Leggings und Beinwärmer«, sagte sie. »Klingt irgendwie nach Achtziger-Jahre-Mode. Als Nächstes wirst du mir erzählen, dass ihr einteilige Turnanzüge tragt.«

»Es gibt da diese Fahrradshorts mit Hosenträgern. Sieht richtig stylisch aus.«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

»Glücklicherweise bedecken die Trikots – du würdest sie als T-Shirts mit durchgängigem Reißverschluss bezeichnen – den schlimmsten Teil, dennoch wirst du früher oder später jeden von uns etwas Derartiges tragen sehen«, warnte er sie. »Bereite dich mental schon mal darauf vor.«

»Ich freue mich auf den Anblick«, versprach sie und versuchte, nicht an einen halbnackten Alex zu denken. Seine Nähe verwirrte sie schon genug, ohne dass sie sich ihren Fantasien hingab.

»Für was haben sie dich gerade eingespannt?«, wollte er wissen.

»Ich habe ein wenig frei«, sagte sie, »also dachte ich, ich laufe nach Dinan und schaue mir den Ort an. Das wird ja wohl meine letzte Chance sein, etwas anderes von Frankreich zu sehen als die Schnellstraße aus dem Autofenster.« Sie sah ihn gespielt vorwurfsvoll an.

»Sobald die Bergetappen kommen, ändert sich das«, sagte er. »Da gibt es viele malerische Serpentinen, die den Berg hinaufführen. Richtig hübsch.«

»Hm. Na, wie dem auch sein, ich muss dann mal los, wenn ich bis zum Abendessen wieder hier sein will.«

»Moment. Warte. Ich bin sofort wieder da.« Und damit war er verschwunden. Molly sah ihm aus leicht zusammengekniffenen Augen hinterher. Was hatte er vor?

Als er wiederkam, trug er Jeans, Turnschuhe, ein T-Shirt und wedelte mit Autoschlüsseln in der Luft.

»Nein, danke«, sagte sie. »Ein bisschen Laufen wird mir guttun.«

»Mir nicht«, sagte er. »Außerdem ist es ein bisschen zu weit, um zu laufen.«

»Mick sagte, bis nach Dinan bräuchte ich etwa eine halbe Stunde.«

»Wir fahren nicht nach Dinan. Nicht, dass es nicht schön wäre«, beeilte er sich hinzuzufügen, »und du solltest dir den Ort wirklich anschauen. Es heißt, es sei die hübscheste Kleinstadt der ganzen Bretagne. Aber ich kann dir etwas noch viel Beeindruckenderes zeigen.« Als er sich zu ihr beugte, roch sie das Duschgel, das er offenbar vorhin beim Duschen benutzt hatte, und sein Parfüm. Und darunter seinen eigenen Duft. Ihr wurde ganz anders.

»Falls irgendjemand Fragen stellt, sag ihnen, dass ich mir den Startbereich genauer ansehen wollte und dich gebeten habe, mich hinzufahren«, flüsterte er.

Molly stutzte. »Darfst du das?«

»Selbstverständlich.« Er zog eine Schulter hoch. »Hier, du fährst.« Er hielt ihr die Wagenschlüssel hin, die sie zögerlich entgegennahm. Der Ausflug zum Flughafen war für sie eigentlich genug Zeit hinterm Steuer gewesen.

»Wo fahren wir hin?«, fragte sie, sobald sie im Wagen saßen.

»Das hab ich doch schon gesagt, zum Startbereich des Rennens.«

»Mont Saint-Michel?«

»Genau der.« Er nahm sein Handy in die Hand. »Bieg nach links ab, als würdest du zum Flughafen fahren«, wies er sie an, »und dann fährst du auf die N176.«

»Wie lange brauchen wir dorthin?«

»Etwa eine Stunde.«

»Oh.« Dann würden sie mindestens zwei Stunden verschwunden sein. Ein besorgter Ausdruck huschte über ihr Gesicht, doch dann entspannte sie sich. Alex wusste bestimmt, was er tat, und bis zum Abendessen waren es mehr als vier Stunden. Das Team aß immer weitaus später, als sie es gewohnt war. Zu Hause hatte sie meist um halb sieben schon gegessen und alles abgespült.

Während der Fahrt hielten sie ein wenig Smalltalk. Sie fuhren über eine Hängebrücke, unter der sich kleine Boote im glitzernden Wasser tummelten, ansonsten war die Strecke eher reizlos. Nach etwa fünfzig Minuten navigierte Alex sie auf eine kleinere, von flachen Feldern umgebene Landstraße, nur ab und an durchbrach ein kleineres Gehöft die Eintönigkeit.

Irgendwann kamen sie durch ein kleines Dorf, in dem es einige Hotels, Restaurants und Campingplätze gab, und Molly stellte überrascht fest, wie viele Menschen hier unterwegs waren.

»Da ist alles wegen des Grand Départ«, erklärte Alex. »Der Start der Tour de France. Morgen um die gleiche Zeit kommst du hier nicht mehr durch, es ist also unsere einzige Chance.«

»Auf was?«

»Auf das da.«

In der Ferne erhob sich ein massiver Hügel, zu dem eine lange, gerade Straße führte. Molly konnte ihn noch nicht deutlich erkennen, weil die Sommerhitze die Luft flimmern ließ, sodass der Mont wie ein gräulich lilafarbener Brocken aus der ansonsten flachen Landschaft herausragte.

»Mit dem Auto dürfen wir ab hier nicht mehr weiter«, sagte Alex und zeigte auf einen großen Parkplatz, auf dem ein Sightseeing-Bus wartete. »Wir könnten laufen, aber …«

»Du willst deine Kräfte schonen?« Sie lächelte ihn an, und er grinste zurück.

»Du hast also schon davon gehört, was für Faulpelze wir Rennradfahrer sind?«, sagte er, als sie einstiegen und sich einen Sitzplatz suchten.

»Das habe ich, aber in diesem Fall verstehe ich es voll und ganz. Scheint ganz schön weit zu sein.« Sie sah aus zusammengekniffenen Augen zum Mont hinüber und konnte gerade so ein Gebäude sowie einen hoch aufragenden Kirchturm auf seinem Gipfel erkennen. »Das ist ja wie ein Märchenschloss!«, rief Molly begeistert, als der Bus näher herangefahren war. »Weißt du, an was mich das erinnert?«

»Nein?« Alex lachte über ihre Begeisterung.

»Es sieht aus wie ein Riesentörtchen mit einem Klecks Buttercreme obendrauf, der ganz spitz zuläuft.«

Alex spähte nach draußen. »Du hast recht, er sieht tatsächlich ein bisschen so aus. Wenn man die Augen ganz doll zusammenkneift.«

»Das sagst du jetzt nur mir zuliebe.«

Er lachte wieder. »Ich hab dir versprochen, dass du etwas zu sehen bekommst von der Welt. Doch wenn ich dich zu einem der Wahrzeichen der Normandie führe, vergleichst du es mit einem Sahnetörtchen. Mal sehen, ob dir immer noch nach Scherzen ist, sobald wir oben angekommen sind.«

Molly schluckte. »Wir wollen da rauf?« Je näher sie dem massiven Berg kamen, desto höher wirkte er, und sie wollte wirklich nicht ganz dort hochkraxeln. »Das dauert doch ewig.«

»Wir haben nur etwa eine Stunde«, sagte Alex. »Dann vielleicht ein anderes Mal?« Er sah sie hoffnungsvoll an, während er aus dem Bus stieg und die Hand ausstreckte, um ihr die Stufen hinab zu helfen.

Als sie seine Hand berührte, durchfuhr sie ein heftiger Stromschlag. Hatte er das auch gespürt?

Eine Sekunde lang standen sie einfach so da, Hand in Hand, ohne etwas zu sagen. Dann drängte sich irgendjemand von hinten an Molly vorbei, und sie trat zur Seite. Gleichzeitig ließ sie mit einer, wie sie hoffte, natürlichen Geste seine Hand los. Hitze stieg in ihr auf, ihre Wangen brannten. Also drehte sie sich peinlich berührt weg und kramte in der Tasche nach ihrer Sonnenbrille, damit er nicht sah, wie sie rot anlief.

»Es wird alles überflutet«, sagte Alex unvermittelt.

»Was wird überflutet?«

»Das hier.« Er deutete auf den Damm, auf dem sie gerade standen. »Wenn die Flut kommt, ist der Mont vom Festland abgeschnitten.« Er wich ihrem Blick aus und betrachtete die Landschaft. Tat er das absichtlich oder war er tatsächlich fasziniert von den hohen Mauern, die das Wasser im Zaum hielten?

Auch Molly war beeindruckt von dem Anblick, der sich ihnen bot: Um sie herum erstreckten sich Salzwiesen, und in der Wattlandschaft vor ihnen thronte ein mittelalterliches Kloster auf einer felsigen Insel. Das war schon eher so, wie sie sich Frankreich ausgemalt hatte!

Sobald sie sich auf dem Klostergelände mit seinen dicken Mauern und den runden Türmchen befanden, kam Molly sich vor wie an einem Filmset. Die kleinen Gebäude standen kreuz und quer, die engen Kopfsteingassen waren winzig. Die Fassaden der Geschäfte, Restaurants und Museen strahlten in bunten Farben. Überall hingen Blumentöpfe mit farbenfrohen Blüten, deren süßlicher Duft sich mit dem scharfen Geruch des Salzwassers mischte. Und mit dem von Alex. Immer wieder stieg Molly sein Aftershave in die Nase, der frische, leicht moschusartige Duft seines Körpers, und jedes Mal begann ihr Herz zu flattern. Hör auf damit!, rief sie sich zur Ordnung. Es war nicht richtig, Gefühle für ihn zu entwickeln … egal, welcher Art. Sie hatte hier einen Job zu erledigen, das galt für sie beide, und sie konnten es sich nicht leisten, dass eine lächerliche Anziehungskraft alles verdarb. Außerdem waren diese Gefühle wahrscheinlich ohnehin einseitig, also nahm Molly sich fest vor, sich zusammenzureißen. Es würde ihr sowieso nichts anderes übrig bleiben. Sie mussten ja zusammenarbeiten.

Der Mont stöhnte unter der Last der vielen Menschen, die seine schmalen Gassen bevölkerten, in die kaum drei Personen nebeneinander passten. Als Alex nach ihrer Hand griff, sog sie erschrocken die Luft ein. Sie drehte sich mit fragendem Blick zu ihm, doch dann begriff sie: Er wollte einfach nur verhindern, dass sie sich im Gedränge verloren.

Es war unerwartet heiß hier oben. Die Sonnenstrahlen fingen sich in den engen Gässchen, der uralte Stein sog die Hitze auf und warf sie zurück. Molly spürte, wie ihr der Schweiß den Rücken hinabrann. Ihre Hand lag feucht und warm in seiner, dennoch löste sie den Griff nicht und genoss die Berührung. Sie hätten auch einfach ein junges Paar auf einem Ausflug sein können.

»Ich glaube nicht, dass die Zeit reicht, um bis zur Kirche hochzusteigen«, sagte er. »Das müssen wir uns fürs nächste Mal aufheben.«

Es würde ein nächstes Mal geben? Bei dem Gedanken geriet ihr Herz erneut ins Stolpern, aber sie zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Er war einfach nur nett; es war eben das, was man so sagte. Er meinte es sicher nicht ernst. Außerdem wusste sie nur zu gut, dass es von jetzt an bis zum Ende der Tour keine freie Minute mehr geben würde. Das hier war lediglich ein kleines Zwischenspiel, eine kurze Verschnaufpause vor dem Rennen. Und laut Henno würde das für sie Achtzehn-Stunden-Tage bedeuten, sodass sie am Ende des Rennens zu müde sein würde, um auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Als der Teamarzt gestern mit ihr einen typischen Tagesablauf durchgegangen war, damit sie wusste, worauf sie sich gefasst machen sollte, war ihr kurz der Gedanke gekommen, dass es eigentlich nicht das war, was Alex ihr versprochen hatte. Dass er die harte Arbeit ein wenig schöngeredet hatte. Aber jetzt war sie nun mal hier und fest entschlossen, das Beste draus zu machen. Und es waren nur drei Wochen, eine überschaubare Zeit. Vielleicht gefiel es ihr und sie gewöhnte sich an diesen Lebensstil. Und falls nicht, war nichts verloren – sie hatte immer noch eine Stelle und ihr Haus, die auf sie warteten. Sie könnte die Tour unter Erfahrungen verbuchen.

Alex hielt ihre Hand immer noch ganz fest. Und sie versuchte weiterhin, nicht darüber nachzudenken, was das in ihr auslöste.