Utah Beach war einer der fünf Küstenabschnitte, an denen die alliierten Truppen im Sommer 1944 beim sogenannten D-Day gelandet waren. Die riesige Fläche war von einer Unmenge an Reisebussen, Lastwagen, Autos und Menschen bevölkert. Damien schien aber genau zu wissen, wo er hinmusste, und hielt sich unbeirrt links, bis er nach ein wenig Herummanövrieren neben dem Teambus hielt. Einer der beiden BeSpoke-Lastwagen war auch schon da, und ein paar Mechaniker. Hinter den Fahrzeugen war ein großes Zelt errichtet worden, und Molly sah, wie etwas, das wie halb zusammengebaute Fahrräder aussah, hineingetragen wurde. Das mussten die Turbos sein, auf denen die Fahrer sich auf- und abwärmten.
Stöhnend kletterte sie aus dem Wagen und streckte den Rücken durch. Sie brauchte eine Toilette, eine Tasse Tee und etwas zu essen, und zwar genau in dieser Reihenfolge.
»Nimm die im Bus«, sagte Mick. »Es gibt auch Dixie-Klos, aber die werden mittlerweile ganz schön stinken. Sag nur Greg oder Chuck nichts, denn eigentlich ist das Busklo nur für die Fahrer.«
Als sie wieder aus dem Bus stieg, hielt ihr Jakob einen Kaffee und ein Sandwich hin. Dankbar lächelte sie ihn an.
»Wir essen lieber jetzt«, sagte er. »Wenn die Fahrer eintreffen, wirst du keine Zeit mehr dafür haben.«
Molly hätte den Bereich hinter dem Ziel als organisiertes Chaos beschrieben, denn die herumschwirrenden Zuschauerinnen und Zuschauer mischten sich einfach unter all die Tour-Offiziellen und überall standen Journalisten herum – es schienen Tausende zu sein; sie hatten ihre eigenen Zelte. In einem besonders großen Zelt stand ein Büffet, ein anderes bot jede Menge Arbeitsplätze. Sie sah Leute vom BBC und von ITV und bekam einen Moment lang Heimweh. Sei nicht albern, schalt sie sich, du bist erst ein paar Tage unterwegs. Es fühlte sich allerdings viel länger an. So viel war in diesen wenigen Tagen geschehen, dass Molly jetzt am Ende der ersten Etappe das Gefühl hatte, schon sehr, sehr lange von zu Hause weg zu sein.
Bis die Fahrer in etwa einer Stunde eintrafen, gab es nicht viel für sie zu tun. Also machte Molly einen kleinen Spaziergang. Als sie morgens auf dem Handy gegoogelt hatte, hatte sie von einem kleinen Museum hinten bei den Dünen am Ende vom Strand gelesen. Das würde sie sich anschauen.
Das Utah Beach Museum, errichtet auf genau dem Strandabschnitt, an dem die amerikanischen Truppen am sechsten Juni 1944 gelandet waren, dokumentierte die Vorbereitung, Durchführung und den Erfolg des D-Day. Molly war fasziniert. Es gab jede Menge Originalfahrzeuge, Erinnerungsstücke und andere Exponate. Gedankenverloren blieb sie vor einem B-26 Marauder Bomber stehen und gedachte voller Trauer und Dankbarkeit den vielen Soldaten, die ihr Leben hier geopfert hatten. Es war eine intensive Erfahrung, und sie wäre gerne länger als nur eine Stunde geblieben, doch ihr rannte die Zeit davon, also eilte sie zurück zum BeSpoke-Bus. Nachdem sie sich erkundigt hatte, ob sie schon gebraucht wurde, stellte sie sich vor einen der riesigen Monitore, die überall aufgestellt worden waren, und verfolgte das Rennen. Dabei blendete sie den ganzen Trubel um die vielen Sponsorenwagen aus, die gerade eintrafen, und konzentrierte sich ganz auf die Übertragung. Wieder versuchte sie, die BeSpoke-Fahrer im dahinwogenden, sich ständig wandelnden Peloton auszumachen. Anscheinend waren drei Fahrer ausgebrochen. Molly verstand das so, dass einige wenige sich vom Hauptfeld absetzen und weiter vorfahren konnten. Als Molly sich wieder dem Rennen zuwandte, wurden die drei gerade wieder dem Peloton einverleibt, das rasend schnell wieder zu ihnen aufgeschlossen hatte.
Wie es sich wohl anfühlen mochte, einige Kilometer lang das Rennen anzuführen, vielleicht mit dem Gedanken, die anderen ganz abgehängt und Chancen auf den Tagessieg zu haben? Nur um dann über die Schulter auf eine unaufhaltsam heranrollende Welle aus Fahrern zu blicken, die einen unweigerlich wieder in sich hineinzog und jede Hoffnung auf den Etappensieg unter sich begrub. Es zerriss einem bestimmt das Herz, dachte Molly. Die Kommentatoren scherzten allerdings recht abgebrüht darüber, dass die drei nun durch die viele ihnen eingeräumte Sendezeit ihren Teil der Sponsorenarbeit erledigt hätten.
»Da ist der Teufelslappen«, drang die Stimme von Kommentator Norris an ihr Ohr, als die Fahrer unter einem großen, aufblasbaren roten Bogen hindurchfuhren. »Die Streckenmarkierung zeigt an, dass es nur noch tausend Meter bis zum Ziel sind, also bringen sich jetzt die Sprinter in Position. Cambert hat seinen Teil für das Braconti-Alba-Team erledigt und lässt sich zurückfallen, damit Del Ray loslegen kann.« Er klang aufgeregt; seine Stimme wurde lauter und schriller, als sich alle dem Ziel näherten.
Molly konnte selbst vor Aufregung kaum noch atmen, als die Fahrer eine Rechtskurve nahmen und –
»Oh, es gab wieder einen Unfall!«, schrie Norris jetzt. »Del Ray liegt am Boden, Frontera auch, und damit hat sich der Sprint für diese beiden erledigt. Wer ist noch im Rennen? Danny Penman, so wie es aussieht. Das wird das Feld aufmischen!«
Insgesamt sieben Fahrer waren in den Unfall verwickelt, die anderen umfuhren sie vorsichtig, um nicht auch zu stürzen. Molly versuchte, die BeSpoke-Leute zu erkennen, doch die Kamera schwenkte bereits wieder zu den wenigen glücklichen Fahrern an der Spitze des Rennens, die dem Unfall entgangen waren und jetzt wie wild in die Pedale traten, wobei sich ihre Räder gefährlich weit hin und her neigten. Die Gesichter spiegelten die Kraftanstrengung und den Schmerz der Männer wider. Als sie die Ziellinie überquerten, realisierte Molly mit einem Mal, dass BeSpoke kurz nach ihnen eintreffen würde und sie selbst deshalb ganz woanders sein sollte – und zwar sofort!
Sie ging also auf schnellstem Wege zum Bus zurück, wo ihr Team bereits zu den Turbos geführt wurde, um sich abzuwärmen, was unter anderem zu einer Abnahme der Lactatkonzentration in den überbeanspruchten Muskeln führte.
Henno gesellte sich zu ihr.
»Irgendwelche Verletzungen?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, glücklicherweise nicht. Für Carlos war es einmal ganz schön eng, und ich dachte, es hätte ihn erwischt, aber es geht ihm gut.«
»Alex?«
Henno warf ihr einen schnellen Blick zu. »Ihm geht es auch gut, denke ich.«
»Gut. Ich habe mir Sorgen wegen seines Handgelenks gemacht. Ich bin immer noch nicht überzeugt, dass es wieder voll belastbar ist.«
»Kühlen Sie es«, wies Henno sie an, und Molly nickte.
»Das habe ich vor.« Sie beobachtete, wie die Mechaniker angerannt kamen, um den Fahrern die Räder abzunehmen, während sich die Swannies um Helme, Handschuhe und alles andere kümmerten und sie zu den Turbos führten.
Molly sah jeden aus dem Team prüfend an, der an ihr vorbeiging. Sie hatten verständlicherweise alle einen etwas steifen Gang, und vermutlich brannten die Muskeln, aber ansonsten war rein äußerlich nichts zu erkennen, was ihr Sorgen bereiten würde. Sie atmete erleichtert aus.
Alex betrachtete sie genauer, da er der Einzige im Team war, der sich vor Kurzem verletzt hatte. Er sah erschöpft aus. Schweiß rann ihm über das schmutzige Gesicht und hinterließ dünne, helle Streifen auf der Haut. Er stürzte hastig das isotonische Getränk hinunter, das Mick ihm reichte.
»Da leider keiner aufs Podium muss, können wir gleich loslegen, sobald sie die Dopingtests hinter sich gebracht haben«, sagte Mick, der plötzlich neben ihr aufgetaucht war.
»Aufs Podium?«
Mick zuckte mit den Achseln. »Jeder, der etwas gewonnen hat, darf am Ende der Etappe auf dem Podium stehen, bekommt ein Trikot, einen Blumenstrauß und einen Siegerkuss von einer sehr großen, hübschen Frau, dann muss er Interviews geben. Alle anderen machen sich währenddessen auf den Weg ins nächste Hotel.«
Nach den Dopingtests musste Molly nicht fragen – darüber wusste sie Bescheid. Henno hatte sie über die Voraussetzung der Veranstalter informiert, dass sich alle Fahrer regelmäßig Kontrollen unterwerfen mussten; es gehörte einfach zum täglichen Ablauf des Rennens dazu.
Ein BeSpoke-Fahrer nach dem anderen machte sich auf den Weg von den Turbos zum Bus, um kurz zu duschen und sich etwas Frisches anzuziehen, während die Mechaniker die Räder aufluden und die Swannies die Ausrüstung verstauten. Molly war angewiesen worden, sich mit Chuck und Greg im Bus bereitzuhalten, während Henno mit einem der Teamwagen wegfuhr. Es war ein komplettes Chaos, und doch schien jeder ganz genau zu wissen, was zu tun war, und kam seiner Aufgabe nach. Genau das würde sie jetzt auch tun.
Da Tim als Kapitän einen Sonderstatus innehatte und sie keinen der anderen Fahrer verletzungsbedingt vorziehen musste, rief sie ihn zu sich nach hinten in den Bus, sobald alle eingestiegen waren und er sich in Bewegung setzte. »Mal abgesehen von allem anderen«, begann sie, »gibt es eine Stelle, die mehr schmerzt als der Rest des Körpers? Irgendetwas, das dich beunruhigt?«
»Nein, danke, mir geht’s gut«, erwiderte er.
Also wies sie ihn an, sich auszuziehen und auf den Behandlungstisch zu legen.
Zuerst nahm sie sich die Beine vor, da er furchtbare Schmerzen haben musste, dann arbeitete sie sich über den Rücken weiter nach oben vor bis zu den Schultern und nahm sich besonders viel Zeit für den Nacken.
»So, das sollte erst mal ausreichen«, sagte sie nach einer Weile. »Wenn wir ankommen, wirst du ein Eisbad nehmen, anschließend machen wir noch eine Ultraschallbehandlung.«
Tim glitt von der Liege und rollte mit den Schultern. »Fühlt sich schon besser an«, befand er.
Sie bat ihn, Alex zu ihr zu schicken. Während sie wartete, wusch sie sich gründlich die Hände und lauschte dabei auf die Geräusche der letzten Fahrer, die gerade noch duschten und sich fertig machten. Wie seltsam, in einem fünfzig Kilometer schnell fahrenden Bus zu duschen.
»Hallo«, hörte sie eine Stimme.
Sie blickte auf und sah Alex in der Tür stehen. Wieder geriet ihr Herz leicht aus dem Takt.
»Hallo«, erwiderte sie verlegen.
»Wo soll ich hin?«
»Auf die Liege. Du kennst das ja schon.«
Er verzog die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln, zog sich aus und schwang sich auf die Liege.
»Was macht das Handgelenk?«, fragte sie.
»Alles in Ordnung, schätze ich.«
Sie sah ihn prüfend an, da sie sich gut daran erinnerte, wie Henno ihr erzählt hatte, dass die Fahrer Verletzungen gerne herunterspielten. »Nur in Ordnung?«
»Ja?«
Das klang für Molly mehr nach einer Gegenfrage, also antwortete sie: »Das werte ich als ein Nein. Lass mal sehen.«
Er streckte den Arm aus und Molly tastete das Handgelenk ab, dehnte die Hand, bog sie in alle Richtungen, dann den ganzen Arm. Alex ließ alles ohne den kleinsten Schmerzenslaut über sich ergehen. Sie nahm sich zum Vergleich das andere Handgelenk vor. Das frisch geheilte fühlte sich ein wenig wärmer an, und auch wenn er sich keine Schmerzen anmerken ließ, hieß das noch lange nicht, dass er tatsächlich keine hatte.
»Ich massiere und kühle das Handgelenk. Später nimmst du ein Eisbad und wir machen noch eine Behandlung«, sagte sie und wies ihn an, sich hinzulegen, damit sie sich die Verhärtungen in Waden und Oberschenkeln vornehmen konnte. Er zuckte ein wenig zusammen, als sie die Finger in den Muskeln vergrub, aber sie war zufrieden zu sehen, dass es eine ganz normale Reaktion war, nichts, weswegen sie sich Sorgen machen musste.
Sie massierte ihm Rücken und Schultern, dann forderte sie ihn auf, sich umzudrehen, damit sie die Vorderseite der Schenkel und die riesigen Muskeln ausmassieren konnte, die ihn mit vierzig Kilometern pro Stunde stundenlang durch die französische Landschaft getragen hatten.
Sie war so konzentriert, dass ihr zunächst entging, wie er sie auf dem Rücken liegend anstarrte. Als sie es plötzlich aus den Augenwinkeln bemerkte, war sie schlagartig abgelenkt und begann zu grübeln. Er war definitiv mehr als ein Patient für sie. Nur … was genau war er?
Sie fand keine Antwort, hatte aber wohl etwas zu fest zugepackt, denn Alex japste plötzlich laut auf.
Dafür wurde er mit jeder Menge Häme aus dem vorderen Bereich des Busses überschüttet, die lautstark zu ihnen drang.
»Tut mir leid«, murmelte sie. Es war ihr unendlich peinlich. So ein blöder Fehler war ihr seit ihrer Ausbildungszeit nicht mehr unterlaufen. Das kam davon, wenn sie mit den Gedanken woanders war!
Die restliche Behandlung über zwang Molly sich, sich einzig darauf zu konzentrieren, was ihre Hände taten, und zu verdrängen, wer da bei ihr auf der Liege lag.
»Fertig«, sagte sie nach einer Weile und tippte Alex auf den Oberarm, um ihn zu bedeuten, dass er aufstehen konnte. Als er sich von der Liege rollte, drängte sie sich in dem engen Raum an ihm vorbei zu dem winzigen Handwaschbecken, ohne ihn anzuschauen.
Erst als er sich vorn zu den anderen gesetzt und sie ein weiteres Opfer auf dem Behandlungstisch hatte, gelang es ihr, ihren Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen. Aber die ganze Zeit über, während sie die Muskeln eines anderen Mannes bearbeitete, konnte sie nur an Alex’ warme Haut denken und daran, wie er sie angesehen hatte. Wenn sie sich nicht komplett täuschte – was natürlich durchaus sein konnte –, empfand Alex offenbar dasselbe für sie wie sie für ihn.
Die Frage war nur: Wie sollte sie damit umgehen und noch drei weitere Wochen durchstehen, ohne dass sich ihre Gefühle Bahn brachen?