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Von Arras nach Roubaix waren es hundertfünfundvierzig Kilometer Rennstrecke, zweiundzwanzig davon über Pavé, wie es in der Radsportwelt hieß: fünfzehn verschiedene Streckenabschnitte mit Kopfsteinpflaster, von fünfhundert Metern zu knochenbrecherischen zweieinhalb Kilometern, dazwischen geteerte Straßen.

Nichts, wirklich nichts hätte Molly auf die damit verbundenen dramatischen Ereignisse vorbereiten können. Ereignisse, auf die sie lieber verzichtet hätte.

Wenngleich die Einzelzeitfahrt sehr intensiv gewesen war, starteten die Fahrer dank der etwas kürzeren Strecke am Vortag recht frisch in die Pflasteretappe. Tim hatte sich gut geschlagen, Alex noch besser. Sie hatten in der Platzierung mehrere vor ihnen liegende Fahrer überholt und wertvolle Sekunden gewonnen. Nicht, dass es für den Sieg einen Unterschied machte. Dennoch freute sich Molly für Alex, als sie zufällig einige Leute von Westmore DBN darüber sprechen hörte, wie gut er sich bei seiner ersten Tour de France machte.

Gestern Abend hatten sie sich beide bemüht, sich ganz normal zu verhalten. Molly gab sich besonders Mühe. Es reichte ja, dass Alex um ihre Gefühle wusste. Da musste es nicht auch noch der Rest des BeSpoke-Teams mitbekommen. Wenngleich Chuck, Mick und Henno etwas zu ahnen schienen. Aber keiner der drei hatte etwas gesagt, also ging sie davon aus, dass das auch so blieb, wenn sie einfach weitermachte wie bisher.

Deswegen hatte sie Alex heute Morgen schweigend das Handgelenk stabilisiert, und auch er hatte kein Wort gesagt. Er war mit den Gedanken sowieso bei der vor ihm liegenden Etappe, das spürte sie. Dabei hätte Molly in Wahrheit nichts lieber getan, als ihn zu küssen, bis er all seine Sorgen vergaß, und ihm gesagt, dass alles gutgehen würde.

»Keine Sorge«, brach er schließlich das Schweigen. Molly hob ruckartig den Kopf und sah zu ihm auf.

»Das wird schon. Ich komme klar. Die größeren, schwereren Fahrer kommen generell besser mit Kopfsteinpflaster zurecht.«

»Ach ja?«

»Sie erzeugen mehr Kraft und Schwung als die kleineren, leichteren Fahrer, die deswegen im Nachteil sind, weil sie ein bisschen mehr durchgeschüttelt werden.« Er dehnte das Handgelenk, um zu sehen, ob er es unter all dem Tape noch bewegen konnte. Das Kinesiotape war pink, wie die Hauptfarbe der Trikots – wie cool war das denn? Molly war ein bisschen stolz auf sich. Okay, vielleicht hatte sie es ein wenig zu gut gemeint, aber Henno und Chuck hatten deutlich gemacht, dass Alex’ Handgelenk so viel Unterstützung wie möglich brauchen würde.

»Wahrscheinlich ist das einer der Gründe, warum ich überhaupt für die Tour zugelassen wurde«, sagte er mit schwachem Lächeln. »Beim Pflasterfahren geht es vor allem um die Wattleistung.« Er fing an, ihr das genauer zu erklären, doch Molly hörte gar nicht mehr richtig zu. Sie starrte fasziniert auf seinen Mund, die sich bewegenden Lippen und stellte sich vor, wie sie sich wohl auf den ihren anfühlen mochten …

»Es ist, als ob du über einen verdammten Schotterweg fährst«, sagte er gerade. »Bei jedem Hüpfer, jedem Wegrutschen verliert das Rad an Geschwindigkeit, und … Du hörst mir gar nicht richtig zu, habe ich recht?«

»Doch«, murmelte sie kleinlaut. Sie hatte ja hingehört. Allerdings mehr auf den Klang seiner wunderschönen Stimme als auf die einzelnen Wörter.

»Ich gehe dennoch davon aus, dass ich ganz gut abschneide, wenn ich es unfallfrei bis zum Ziel schaffe«, fügte er an. »Warte nur ab, alle werden wild durcheinander stürzen, dann noch die ganzen geplatzten Reifen und Einzelteile, die sich lockern und vom Rad abfallen …«

»Ist es wirklich so gefährlich?«, fragte sie besorgt.

»Unter Umständen. Es kommt oft zu Unfällen, aber seltener zu ernsthaften Verletzungen, dafür sind wir einfach nicht schnell genug unterwegs. Mir wird nichts passieren«, versprach er erneut. »Tim und ich können eventuell ein paar Sekunden wettmachen, vielleicht sogar Minuten.«

»Tim ist kleiner als du – sagtest du nicht eben, die leichteren Fahrer hätten es schwerer auf dem Kopfsteinpflaster?«

»So ist es auch, aber wenn er ganz nahe bei mir bleibt, sollte es gehen. Obwohl bei den Pflasteretappen eher jeder für sich kämpft.« Er drückte sich von der Liege hoch. »Ich werde mich dann mal auf den Weg machen. Ich muss schließlich noch ein Rennen fahren – auch wenn ich viel lieber hierbleiben und mich den ganzen Tag mit dir unterhalten würde.«

»Das meinst du nicht ernst«, lachte sie, aber das Lachen blieb ihr im Halse stecken, als sie seinen Gesichtsausdruck sah.

»Doch, ich glaube schon«, sagte er ganz ernst. Dann war er verschwunden, ehe Molly sich eine Antwort überlegt hatte.

Verdammt – er machte es ihr aber auch nicht gerade leicht!

Sie dachte über seine Worte nach, während sie rasch ihren Koffer packte und den Swannies dabei half, alles in die Teamfahrzeuge zu verladen. Als der Bus abfuhr, hätte sie schwören können, Alex im Fenster gesehen zu haben, wie er ihr zulächelte. Unmöglich, die Scheiben waren ja alle getönt.

Dann machten sie sich auch auf den Weg, Molly und Mick wie immer auf der Rückbank, den Bildschirm fest im Blick.

»Meine Güte!«, rief sie entsetzt, als die Kameras den Startbereich aus der Vogelperspektive zeigten. »Wollen die uns veräppeln, oder was?«

Sie konnte einfach nicht glauben, was sie da sah. Das Rennen sollte eigentlich bei der Zitadelle Arras beginnen – einer wunderschönen alten Festungsanlage mit großem Innenhof, umgeben von weitläufigen Parklandschaften. Die Anlage für sich war schon beeindruckend. Aber was Mollys Blick gefesselt hatte, war der Boden, der komplett mit kleinen Kopfsteinpflastersteinen bedeckt war. Da hatte aber jemand einen ganz bösen Sinn für Humor!

Eine der Kameras richtete sich auf die BeSpoke-Fahrer, was Molly einen quälend kurzen Blick auf Alex’ Gesicht gewährte, bevor der Kameramann sich dem Anführer des Rennens zuwandte, Del Ray, der immer noch das gelbe Trikot trug.

Was sich heute ändern konnte, spekulierte Molly, während das Peloton langsam über die Pflasterfläche zur Straße rollte, auf der das Rennen dann richtig losging.

Molly wandte den Blick das erste Stück der gut fünfzig Kilometer langen Fahrt nicht einmal vom Bildschirm ab, schenkte der am Fenster vorbeiziehenden Landschaft keinerlei Beachtung. Doch als nicht sonderlich viel passierte, begann sie sich zu entspannen.

Der Landstrich war nicht besonders reizvoll, abgesehen von einigen malerischen Dörfern. Wenn Molly sich nach Alex’ Ausführungen über all die fantastischen Orte, die sie sehen würde, einen Urlaub gebucht hätte, würde sie jetzt ihr Geld zurückverlangen. Das Einzige, was ihr geboten wurde, waren Hotels, von denen eins dem anderen glich, und nicht enden wollende Autofahrten. Einzig die Kameraleute im Helikopter verschafften ihr eine Vorstellung von dem, was Frankreich an Sehenswertem zu bieten hatte.

Das Rennen führte zunächst durch die kleine Stadt Arras, dann ins Umland mit seinen Ackerflächen und kleinen Wäldern. Ab und an kam ein Bauernhof ins Bild, und nach ein paar weiteren kleinen Städtchen fragte sich Molly, ob das ganze Gerede um die Pflasteretappe vielleicht etwas übertrieben gewesen war. Doch genau in diesem Moment schrie der Moderator laut auf, weil der erste Pavé-Abschnitt direkt bevorstand. Die Fahrer an der Spitze bogen unvermittelt links von der asphaltieren Straße ab auf etwas zu, was für Molly nach einem winzigen Feldweg aussah, und fuhren dort holpernd über das alte Pflaster.

»Sie werden sich um ein paar Kurven mit Absperrungen auf beiden Seiten kämpfen müssen, die errichtet wurden, damit niemand dort auf den Rand ausweichen kann. Ganz schön raffiniert, Eamon, oder was meinst du?«, sagte Norris, der Kommentator.

Eamon war seiner Meinung und fügte hinzu: »Ich denke, der Wind stellt heute die größte Herausforderung dar. Dieser Abschnitt ist völlig ungeschützt, und es scheint ordentlich zu wehen. Wind und enge Wegführung sollten das Peloton ordentlich in die Länge ziehen. Dann besteht jedoch wiederum die Gefahr, dass einige der Fahrer versuchen werden, sich abzusetzen, also werden wir wohl einige Stürze sehen.« Dabei klang Eamon bemerkenswert fröhlich, wie Molly entrüstet feststellte.

Für die Zuschauer mochte das durchaus spannend sein. Molly konnte jedoch nur an Tim und die anderen sechs Fahrer denken – und an Alex. Was würde ein Sturz mit weiß Gott was für Verletzungen für ihn bedeuten?! Sie schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass sein Handgelenk der Belastung standhalten würde.

»Oh! Es hat Cambert erwischt! Ein heftiger Sturz, der einige andere Fahrer mitgerissen hat. Ist das Jan Bracher von Xeno Portal da am Boden? Ja. Es ist Bracher, und so wie er sich den Arm hält, würde ich auf ein gebrochenes Schlüsselbein tippen … Das wird für ihn wohl das Ende der Tour bedeuten.«

Damien fuhr mittlerweile fast im Schritttempo, und nachdem sie mehrmals wild hupend überholt worden waren, fuhr er schließlich rechts ran, und sie starrten alle vier gebannt auf den Bildschirm.

»Da ist Alex, Tim vor ihm. Sie haben auch Elias und Carlos bei sich. Die anderen kann ich nicht sehen«, sagte Jakob. »Aber wir hätten es inzwischen mitbekommen, wenn sie gestürzt wären.«

Chuck und Greg waren ständig über Funk sowohl mit den beiden anderen Teamwagen verbunden, die neben dem Peloton herfuhren, als auch mit den Fahrern selbst. Käme es also zu einem Sturz, konnten sie sowohl die Fahrer als auch jedes andere Teammitglied anfunken, wenn Henno und Molly oder Mechaniker gefordert wären, die bis morgen ein zerbeultes Rad herrichten müssten.

Vier Augenpaare richteten sich auf das Funkgerät, doch es blieb glücklicherweise stumm.

Als das Rennen in bewohnte Gebiete und somit auf befestigte Straßen zurückführte, stieß Molly den Atem aus – sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie ihn immer wieder angehalten hatte –, und Damian fädelte sich in den Verkehr ein.

Doch für die Fahrer gab es kaum eine Verschnaufpause, denn der nächste Abschnitt war nicht weit.

»Und weiter geht’s«, quakte der Lautsprecher. »Dieser Abschnitt ist sogar noch ein klein wenig schmaler als der vorangegangene, die Böschung höher, dadurch werden alle dichter zusammengedrängt.«

»Oh, das wird ihnen aber gar nicht gefallen.« Eamon war entzückt. »Da auf beiden Seiten offene Felder liegen, muss auch hier der Wind berücksichtigt werden.«

Erneut fuhr Damien rechts ran, und sie verfolgten allesamt mit klopfendem Herzen das Rennen, bis alle BeSpoke-Fahrer heil am Ende des Abschnitts angekommen waren.

»Es wird heißer«, sagte Mick, als Staubwolken hinter den letzten Fahrern aufstoben, die sich über das Kopfsteinpflaster kämpften. Er zeigte auf die Temperaturanzeige vorn im Wagen – dreißig Grad Außentemperatur.

Großartig, dann mussten sie also auch noch mit Hitzeerschöpfung rechnen, dachte Molly und war froh, dass Henno notfalls zur Stelle war.

Der nächste Pavé-Abschnitt war etwa einen Kilometer lang, mit einigen scharfen Kurven. Es gab drei Unfälle, mehrere Stürze, und zwei Fahrer mussten ganz aus dem Rennen aussteigen.

Der folgende Abschnitt war dann der wahre Höllenritt – mit knapp drei Kilometern war es die längste Pflasterstrecke dieser Etappe. Die Fahrer waren müde und litten Schmerzen, und Molly hoffte, sie würden Alex einblenden, damit sie besser abschätzen konnte, wie es ihm ging. Aber die Kameras richteten sich nur auf die Anführer des Rennens, immer wieder durchbrochen von Luftaufnahmen.

Die Kommentatoren beschrieben die Tücken des unebenen Pflasters in schillernden Farben. Molly wünschte, sie würden endlich die Klappe halten, da sie sich bei jedem Wort nur noch mehr Sorgen machte.

»Dieses Kopfsteinpflaster ist zerklüftet, uneben und rau. Die Straße selbst fällt rechts und links steiler ab, die Fahrer werden dichter zusammengedrängt. Gut, um Wasser vom Weg ablaufen zu lassen, aber nicht so gut für unsere Fahrer«, klärte Norris sie auf.

Ja, vielen Dank auch für diese Information, dachte sie. Dann blieb ihr Herz stehen, als all ihre schlimmsten Befürchtungen wahr wurden.

»Alex Duvall ist gestürzt!«