16

»Tim Andersons zweiter Mann ist gestürzt, und er hat einige andere mit sich gerissen. Haben wir Bilder vom Sturz?«, drang die Stimme des Kommentators aus den Lautsprechern.

Oh mein Gott! Alex!

Molly verfolgte entsetzt, wie die Einstellung bis kurz vor dem Unfall zurückgespult wurde, dann wurde alles in Zeitlupe noch einmal gezeigt. Ein Fahrer von Kontrol Data war zu nahe an die dämlichen Absperrungen herangekommen und beim Versuch gegenzulenken mit seinem Rad gegen das von Alex gestoßen, der auf dem unebenen Boden zur Seite rutschte und über den Lenker geschleudert wurde. Er lag inmitten von Rädern, Armen und Beinen auf dem Pflaster.

Molly kämpfte mit den Tränen.

»Anderson ist okay. Der Kapitän von Team BeSpoke konnte dem Unfall ausweichen und drei seiner Teamkollegen fahren dicht bei ihm. Die Frage ist jetzt, wie sehr wird es ihn zurückwerfen, wenn seine größte Unterstützung wegfällt?«

Einen viel zu kurzen Moment lang zeigte die Kamera eine Nahaufnahme von Alex, dann richtete sie sich wieder auf die Spitze des Rennens.

»Geht es ihm gut?«, rief Molly außer sich.

Doch Mick bedeutete ihr, ruhig zu bleiben, da es im Funkgerät knackte. Dann war Chucks blecherne, quäkende Stimme zu hören. »Alex sitzt wieder im Sattel. Wiederhole, Alex sitzt wieder im Sattel. Er hat Schürfwunden erlitten, kann aber weiterfahren. Verstanden?«

»Verstanden«, antwortete Jakob, und alle seufzten erleichtert auf.

Nur Molly nicht. »Was meint Chuck mit Schürfwunden? Wie schwer ist er verletzt?«

»Wenn er weiterfährt, geht’s ihm gut. Keine Sorge, Liebes, ja?«

Molly warf Mick einen ungläubigen Blick zu. Er war ganz offensichtlich überhaupt nicht besorgt. Im Gegensatz zu ihr. Sie hatte selbst gesehen, wie viel Schmerz Alex aushalten und wie stark er ihn unterdrücken konnte. Er konnte sich sogar sein Handgelenk erneut verletzt haben, würde zu stur sein, um es zuzugeben, und stattdessen einfach weiterfahren, bis er zusammenbrach.

Molly knabberte an ihrer Unterlippe. Den Rest der Fahrt über war sie wie betäubt vor lauter Sorge, und nie zuvor war sie so froh gewesen, aus dem Wagen aussteigen zu können. Wenn sie auch nur eine Minute länger mit den drei anderen zusammengepfercht gewesen wäre, hätte sie vermutlich laut losgeschrien.

Die Fahrer würden erst in ungefähr zwei Stunden hier im Ziel eintreffen.

Unschlüssig, was sie bis dahin mit sich anfangen sollte, verzog Molly sich mit einem Kaffee in den Teambus.

»Ich habe gehört, Alex ist gestürzt«, sagte Tony, der Busfahrer. »Aber Tim geht’s gut.«

Molly stellten sich die Nackenhaare auf. Alle denken immer nur an Tim, wollte sie kreischen, atmete jedoch stattdessen einmal tief durch. Sie wusste, dass es durchaus berechtigt war, so zu denken, und dass Alex und den anderen sechs Domestiken ebenfalls klar war, worauf sie sich hier eingelassen hatten. Sie mussten – zumindest bei dieser ganz speziellen Tour – den Kapitän in seinen Ambitionen unterstützen. Sie selbst würden vielleicht ein anderes Mal ihre Chance bekommen, aber jetzt gerade standen sie allesamt im Dienst des Kapitäns. So wie alle hier im Team – denn dasselbe galt für Molly. Doch heute, nach Alex’ Sturz, würde sie sich von niemandem vorschreiben lassen, Tim als ersten zu behandeln, so viel stand fest.

Als BeSpoke und der Rest des Teams erschöpft im Ziel einrollten, konnte Molly kaum abwarten, bis Alex sich abgewärmt hatte. Sie beobachtete, wie er vorsichtig vom Rad stieg und gestützt von Mick zu den Turbos humpelte. Schwerfällig hievte er sich in den Sattel. Allerdings schien es den anderen Fahrern ganz ähnlich zu gehen. Nachdem Molly sie sich angesehen hatte, entschied sie dennoch, Alex als Ersten zu behandeln. Er wies als Einziger sichtbare Verletzungen auf.

Henno tauchte neben ihr auf. »Sieh dir Tim zuerst an«, riet er ihr. »Sobald Alex auf dem Turbo fertig ist, will ich, dass er duscht und sich die Schulter verbinden lässt.« Er seufzte. »Ich wusste, dass es eine harte Etappe wird. Aber sie sehen wirklich alle komplett fertig aus.«

Da musste Molly ihm zustimmen.

Die Fahrer wirkten nahezu traumatisiert, starrten allesamt mit leerem Blick in die Ferne, während sie auf den Turbos in die Pedale traten. Die blasse Haut der Männer war vom Staub verklebt, die Augen rot gerändert. Es war, als bestünde die Welt nur noch aus Schmerz und Erschöpfung.

Alex krallte sich an die Lenkstange, seine Augen lagen tief in den Höhlen, die Kiefermuskulatur war angespannt. Es war ein Wunder, dass er sich überhaupt aufrecht hielt, noch dazu auf dem Turbo in die Pedale trat.

Als Chuck das Abwärmen endlich für beendet erklärte, hörte sie ein kollektives, erleichtertes Stöhnen.

Mick half Tim vom Rad, sie selbst trat ohne groß darüber nachzudenken vor, um Alex zu helfen. Er lächelte sie dankbar an, aber sie sah den Schmerz in seinen Augen und wandte sich rasch der verletzten Schulter zu. Das Oberteil war an mehreren Stellen gerissen, doch es war die darunter liegende Haut, die Molly aufkeuchen ließ. Die Schulter war feuerrot, wie bei einer Verbrennung, die oberste Hautschicht komplett abgeschürft. Tief im Fleisch steckten kleine Steinchen und Schmutz war in die Wunden gelangt. Sie sah außerdem ein paar kleinere Schürfwunden an Knie und Ellbogen. Kein Wunder, dass Alex so mitgenommen wirkte. Er musste furchtbare Schmerzen haben.

Henno tauchte neben ihnen auf. »Lass mich mal schauen«, sagte er, und Molly sah sich gezwungen, Alex in fähigere Hände zu geben.

Sie ging zum Bus zurück und lauschte dem Duschgeräusch der zwei besten Fahrer des BeSpoke-Teams, die sich den Schmutz und Schweiß des Rennens abwuschen. Sie kam sich überflüssig vor, da ihr einziger Beitrag darin bestand, isotonische Getränke an alle zu verteilen.

Als Tim zur Massage kam, hatte sie sich ein wenig gefangen, obwohl sie immer noch nicht fassen konnte, was die Profiradfahrer auf sich nahmen, um ihren Sport auszuüben. Die Schultern des Teamkapitäns waren extrem verhärtet, die Verspannungen zogen sich über den Nacken bis in den Rücken hinunter. Arme und Hände waren in noch schlimmerem Zustand, er konnte die Finger nicht einmal mehr richtig strecken.

»Vom Kopf her weiß ich, dass ich hier im Bus liege«, verriet er ihr, als sie fertig waren. »Aber mein Körper fühlt sich so an, als säße er immer noch auf dem Rad. Diese verfluchten Pflastersteine!«

Alex hatte die Etappe noch schlechter überstanden als Tim. Er taumelte durch den Bus zu ihr nach hinten, nackt bis auf die Boxershorts, mit einem großen weißen Verband an der Schulter. Die Schürfwunden waren gesäubert, lagen aber immer noch frei.

Sie musste ihm auf die Liege helfen. »Wer wird jetzt deine Position als Zweiter im Team einnehmen?«, fragte sie kopfschüttelnd, während sie versuchte, so vorsichtig wie möglich um den Verband herum zu arbeiten.

Er lachte angespannt. »Das bin immer noch ich.«

»Aber du bist verletzt!«

Molly sah, wie er mit der unversehrten Schulter zuckte. »Das ist nichts. Morgen ist glücklicherweise eine hügelige Etappe dran und kein Berganstieg, also sollte ich es ein wenig ruhiger angehen lassen können.«

»Du nimmst also weiter am Rennen teil«, stellte sie um einen neutralen Tonfall bemüht fest. Sie hatte erwartet, dass er vom Team abgezogen werden würde. Während der letzten fünf Tage waren einige andere Fahrer nach Stürzen ausgestiegen, und heute ging das Gerücht herum, dass morgen weitere von ihnen nicht an den Start gehen würden. Selbst der Kommentator war davon ausgegangen, dass das Rennen für Alex gelaufen war.

Molly wusste nicht, was sie davon halten sollte, dass er weitermachen wollte. Sich über seine Sturheit und seinen Wahnsinn ärgern? Erleichtert darüber sein, dass sie noch ein paar mehr Tage mit ihm verbringen durfte, weil er nicht frühzeitig nach Hause geschickt wurde? War sie vorhin vielleicht nur deswegen so aufgebracht gewesen, weil sie angenommen hatte, er würde nach England zurückkehren?

Sie schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich darauf, einige der schrecklich festen Knoten in seinem Rücken zu lösen, ohne ihm zusätzliche Schmerzen zuzufügen.

Als sie getan hatte, was sie konnte, wandte sie sich dem Handgelenk zu, dem die Pflastersteine gar nicht gut bekommen waren. Er zuckte zusammen, als sie es vorsichtig beugte und dehnte. Griffkraft besaß er fast gar keine mehr, obwohl sie fairerweise sagen musste, dass das auch auf die andere Hand zutraf.

»Das wird noch ein paar Tage so bleiben«, warnte er sie, während sie die Handfläche massierte und an den Fingern zog.

»Du wirst heute Abend jemanden brauchen, der dir das Essen kleinschneidet«, scherzte sie, um die Stimmung ein wenig aufzulockern.

Er fragte sanft: »Bietest du dich an?«

»Wenn du das möchtest.« Sie hielt seine Hand fest und erwiderte seinen Blick.

»Mick wird das für mich erledigen«, sagte er seufzend und lachte dann leise in sich hinein. »Aber du wärst mir lieber. Du bist hübscher und riechst besser.«

»Herrje, vielen Dank. Du weißt wirklich, wie man einer Frau Komplimente macht«, gab Molly zurück, froh darüber, dass er wieder nach dem Alex klang, den sie kannte. Nicht, dass er sie je zuvor hübsch genannt hatte – aber ob nun scherzhaft gemeint oder nicht, sie würde es als Kompliment auffassen.

Molly und Henno waren bis weit nach dem Abendessen im Einsatz, auf das das unvermeidliche Teammeeting folgte. Aber als sie sich endlich ins Bett fallen lassen konnte, war sie viel zu aufgekratzt, um gleich einzuschlafen. Heute würde ihr auch kein starker Drink dabei helfen abzuschalten. Außerdem war Henno schon ins Bett gegangen, und sie wollte sich nicht allein in die Bar setzen. Und selbst wenn, hielt sie der Gedanke, in aller Herrgottsfrühe aufstehen zu müssen, davon ab. Stattdessen würde sie sich ein wenig die Beine vertreten.

Das BeSpoke-Team war in einem Hotel einquartiert worden, das vor den Toren der Stadt Troyes direkt an der Seine lag. Als sie den Ort auf Google Maps suchte, stellte sie fest, dass es nicht weit von ihrem Hotel bis zum Ortskern war.

Ihr war klar, dass sie diesen spontanen Einfall morgen bereuen würde. Aber sie musste unbedingt den Kopf frei bekommen. Also schlüpfte sie in die Turnschuhe und schnappte sich ihre Handtasche. Da es wahrscheinlich ratsam war, jemanden über ihren Verbleib zu informieren, sagte sie dem Mann an der Rezeption Bescheid, dass sie einen Spaziergang in den Ort unternehmen wollte, dann ging sie in Richtung Drehtür und Freiheit.

»Es ist weiter, als du denkst«, sagte Alex plötzlich in ihrem Rücken, sodass sie erschrocken einen leisen, spitzen Schrei ausstieß.

Er saß in einem der Sessel im Empfangsbereich, eine Flasche Wasser vor sich und einen iPod in der Hand. »Außerdem spricht der Mann an der Rezeption kein Wort Englisch.« Alex grinste.

»Ach ja? Macht nichts, dann sage ich es eben dir. Ich mache nur kurz einen Spaziergang.«

»Es ist sehr spät«, merkte er an.

»Ich weiß.« Sie musterte ihn prüfend. »Solltest du nicht längst im Bett sein?«

»Kann nicht schlafen. Solltest du nicht längst im Bett sein?«

»Ich bin ja nicht blöd genug, morgen über zweihundert Kilometer zu radeln«, schoss sie zurück.

»Touché. Ich kann trotzdem nicht schlafen.«

Molly bereute ihren scharfen Ton sofort. »Ist es die Schulter? Kann ich dir irgendetwas bringen? Soll ich Henno holen?«

»Ja, nein und nein. Aber ich werde dich auf deinem Spaziergang begleiten, wenn ich darf.«

Molly war entsetzt. »Das geht nicht! Nicht in deinem Zustand, außerdem brauchst du Schlaf, und mich werden sie erschießen, wenn das rauskommt.«

»Niemand wird es erfahren.«

»Tim wird sicherlich auffallen, dass du nicht im Bett liegst.«

Er lächelte und dabei bildeten sich kleine Fältchen um seine Augen. »Weil ich verletzt bin«, er hob die bandagierte Schulter an, »habe ich ein Einzelzimmer bekommen. Chuck will nicht riskieren, dass ich einen der anderen Fahrer störe. Er geht davon aus, dass ich eine eher unruhige Nacht habe.«

»Aber damit meinte er sicher nicht, dass du dich in Troyes herumtreibst.«

»Das wird mir dabei helfen, mich ein bisschen zu entspannen«, versicherte er ihr, dann zögerte er kurz. »Also, natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht, dass ich mitkomme.«

»Es macht mir nichts aus.« Ganz im Gegenteil. Kurz vor Mitternacht ganz allein durch eine fremde Stadt zu spazieren, war vielleicht ohnehin nicht die beste Idee.

Alex war alt genug, um zu wissen, was er tat, beruhigte sie sich – und wenn ihm ein gemütlicher Spaziergang dabei half, besser zu schlafen, dann sollte er das tun.

Zunächst wirkte Troyes wie jede andere Stadt, aber nach einer Viertelstunde wurden die Gassen schmaler, und die Gebäude wirkten sehr altertümlich. Viele von ihnen schienen aus dem Mittelalter zu stammen mit ihren überhängenden oberen Etagen und den Holzrahmen, auch wenn das im Dunkeln nur schemenhaft zu erkennen war.

Alex verzog das Gesicht. »Es ist einfach überall«, stöhnte er und deutete auf den Boden.

Als Molly seinem Blick folgte, musste sie ein Kichern unterdrücken.

Kopfsteinpflaster.

Er hob das Gesicht gen Himmel und sagte: »Irgendjemand da oben hat es auf mich abgesehen.«

»Immerhin sind die Gehsteige nicht gepflastert.«

»Willst du damit sagen, ich soll mich lieber auf das Positive konzentrieren?«, fragte er scherzhaft.

Sie lächelte ihn an. Es war schön, ihn so gut gelaunt zu sehen. Aber sogleich wurde das Gefühl von der Sorge verdrängt, dass er noch nicht im Bett lag und schlief.

Er schien ihre Gedanken zu erraten, denn er zog sein Handy aus der Tasche. Molly nahm an, dass er ihnen ein Taxi rufen wollte. Hoffentlich fuhren die überhaupt noch um diese Uhrzeit. Es war ja schon nach Mitternacht!

Aber Alex hatte anderes im Sinn. »Wenn wir hier rechts abbiegen und dann wieder rechts, kommen wir wieder auf den Weg, den wir hergekommen sind«, sagte er. »Siehst du?« Er hielt ihr sein Handy hin und Molly sah überrascht, wie weit sie sich vom Hotel entfernt hatten.

»Offenbar ist der Ort seit sechshundert vor Christus besiedelt«, sagte er dann. »Und auch die Römer haben hier gelebt.« Er blickte sich um. »Aber die meisten Gebäude gehen auf die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts zurück, weil die Stadt damals nach einem Feuer neu aufgebaut werden musste.«

Molly wünschte, sie könnte das alles bei Tageslicht betrachten. Andererseits war es auf den dunklen menschenleeren Straßen ziemlich romantisch.

Je weiter sie kamen, desto älter wirkten die Gebäude um sie herum, bis Molly sich tatsächlich so vorkam, als wäre sie fünfhundert Jahre in der Zeit zurückgereist – wenn sie die parkenden Autos, die Straßenpoller und -laternen ignorierte. Wie hätte ihr Leben dann wohl ausgesehen?

Als sie schließlich wieder auf die Allee stießen, die zum Hotel führte, wurde Molly ein wenig traurig. Sie wusste, dass sie besser früher als später zurückgehen sollten, weil sie beide ganz dringend Schlaf brauchten, dennoch wollte sie nicht, dass der Abend endete.

»Wie geht es dir jetzt?«, fragte sie.

»Gut«, sagte Alex, aber sein Tonfall verriet, dass das nicht stimmte.

»Ich hätte nicht gedacht, dass es so hart werden würde«, sagte sie und blieb vor dem Hoteleingang stehen.

Alex atmete tief durch. »Das ist meine Schuld. Ich habe alles ein wenig schöngeredet, weil ich unbedingt wollte, dass du meine – unsere – Physiotherapeutin wirst. Wenn es nicht das Richtige für dich ist, kann ich das komplett verstehen. Dieses Leben gefällt nicht jedem, und während wir unterwegs sind, kann die Arbeit einen regelrecht auffressen.«

»Ich meinte nicht, dass es hart für mich ist«, sagte sie sanft. »Ich meinte, hart für euch Fahrer.«

»Wir sind das gewohnt, es ist unser Leben.«

Molly blickte ihm offen ins Gesicht. »Ich habe gesehen, in welchem Zustand ihr alle nach der Etappe wart. Wie stehst du das nur jeden Tag aufs Neue durch?«

»Weil ich es liebe. Das ist es, was ich immer tun wollte.«

Er sagte das mit so viel Nachdruck, dass Molly sprachlos zurückblieb. Sie war noch nie jemandem begegnet, der so für seinen Beruf brannte, ja, für den es eben nicht nur ein Beruf war, sondern eine Berufung. Es war etwas, das er einfach tun musste; er liebte den Radrennsport mit jeder Faser seines Herzens.

»Ich beneide dich«, sagte sie leise. »Ich wünschte, ich hätte auch etwas, für das ich eine solche Leidenschaft empfinde.«

Er trat von einem Fuß auf den anderen und seufzte. Das laute Geräusch zerriss die nächtliche Stille. »Es gibt einen großen Nachteil. Es ist irgendwann zu Ende. Ich gehe auf die dreißig zu. Ich weiß nicht, wie viele Jahre ich noch auf diesem Niveau fahren kann. Und eines Tages werde ich mit dem Profirennsport ganz aufhören müssen.«

Er klang tieftraurig und sie wünschte, sie könnte ihn irgendwie trösten.

»Ich kann mir ein Leben ohne das alles gar nicht vorstellen«, sagte er. »Oder zumindest konnte ich das nicht, bis …« Er hob den Blick, die Lichter des Hotels spiegelten sich in seinen Augen.

»Bis was?«, fragte sie leise.

Er wandte sich ihr wieder zu. »Nichts. Lass uns reingehen. Ich denke, jetzt kann ich schlafen.«

»Kann ich dir irgendetwas bringen? Wasser, Saft?«

»Nein, aber trotzdem vielen Dank.«

»Danke dir, dass du mich heute Abend begleitet hast.«

Molly hatte keine Ahnung, wieso das Gespräch auf einmal so unangenehm förmlich wurde – bis eben hatten sie sich noch ganz ungezwungen unterhalten.

»Ich konnte dich ja wohl kaum allein losziehen lassen, stimmt’s?«, sagte Alex. Er schwankte leicht. Erst jetzt sah Molly, wie viel Kraft ihn ihr »kleiner Spaziergang« gekostet hatte – er war komplett abgekämpft und das war einzig ihre Schuld.

»Hier«, sagte sie, schob sanft die Schulter unter seine Achsel und stütze ihn bis zum Fahrstuhl. »Welches Stockwerk?«

»Zweites, glaube ich«, murmelte er. Er war mehr oder weniger im Stehen eingeschlafen. Würde sie es überhaupt schaffen, ihn allein bis zum Zimmer zu bringen?

»Zimmernummer?«, presste sie hervor, während sie in den zweiten Stock fuhren.

Er lehnte mit einem Großteil seines Gewichts auf ihr, und auch wenn er schlank war, bestand er größtenteils aus Muskelmasse. Er kramte schlaftrunken in seiner Hosentasche und zog den Schlüssel mit seiner Zimmernummer daran hervor. Molly nahm ihn an sich und steuerte auf die entsprechende Tür zu. Sie schloss so leise wie möglich auf und schob ihn hinein.

Alex schlurfte direkt zum Bett und ließ sich hineinfallen.

Molly zögerte kurz – sollte sie ihn einfach so liegen lassen? Sie wollte ihn nicht weiter stören, aber sie konnte ihn ja wohl schlecht mit Schuhen an den Füßen schlafen lassen.

Nachdem sie die Schuhe ausgezogen hatte, fand sie es nur logisch, auch noch die Decke über ihm auszubreiten. Sie rang mit sich, ob sie ihm auch die Jeans runterziehen sollte, brachte es aber dann einfach nicht fertig. Also schlich sie mit einem letzten sehnsüchtigen Blick auf sein Gesicht zur Tür.

»Ich fand es wirklich schön heute Abend mit dir«, hörte sie ihn flüstern, als sie behutsam die Tür zuzog.

Ja, genau da lag das Problem, dachte sie, als die Tür ins Schloss fiel – ihr war es genauso gegangen.