»Wann bist du das letzte Mal Fahrrad gefahren?«, fragte Alex.
Molly hatte vorgehabt, heute ein paar liegen gebliebene Dinge zu erledigen – zum Beispiel ihre Sachen zu waschen, besonders den weißen Behandlungskittel. Das Team würde endlich Mal zwei Nächte lang im selben Hotel bleiben. Es lag außerhalb von Brioude, einer Stadt im Herzen der Auvergne-Region, da die Tour sich langsam den Pyrenäen und den Bergetappen näherte. Eine der Teamwaschmaschinen nutzen zu können, war Mollys Tageshighlight – das, und zwei Tage lang nicht Koffer packen zu müssen.
»Wieso fragst du?«, erwiderte sie zurückhaltend.
»Weil ich finde, du solltest dich langsam mal wieder in den Sattel schwingen.«
»Wohl kaum. Ich muss etwa zehn Jahre alt gewesen sein, als ich das letzte Mal auf einem Fahrrad gesessen habe.«
»Höchste Zeit, dass du dich wieder damit vertraut machst.«
»Wieso?«
»Mit dem Rad kannst du dir alle Sehenswürdigkeiten ansehen.«
Molly stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn finster an. »Musst du kein Trainingsrennen fahren oder so?«
»Schon erledigt«, gab er verschmitzt zurück und zupfte an seinem BeSpoke-Trikot.
Heute war der erste von zwei Pausentagen, die es während der Tour gab, und genau dafür wollte Molly den Tag auch nutzen – um eine Pause einzulegen, die Wäsche zu waschen und vielleicht noch eine halbe Stunde in einem Buch zu schmökern. Außerdem war der Morgen eh schon fast um.
Alex hatte ihr vorm Speisesaal aufgelauert, womit sie nicht gerechnet hatte, da sie die letzten Tage bis auf die Behandlungen nach jeder Etappe kaum Kontakt gehabt hatten.
»Alex«, warnte sie ihn. »Ich halte das für keine gute Idee.«
»Es stimmt, was man sagt, Fahrradfahren verlernst du nie. Sobald du erst mal draufsitzt, wirst du dich an alles erinnern.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
Sein schalkhafter Gesichtsausdruck verflog. »Ich weiß.«
»Nun dann«, gab sie zurück und ging davon aus, dass sich die Angelegenheit damit erledigt hätte.
Doch sie hatte die Rechnung ohne Alex gemacht. Sobald sie mit dem Mittagessen fertig war, stand er wieder vor ihr. »Wir könnten auch Mick als Anstandswauwau mitnehmen, wenn du dich dann besser fühlst?«
Sie sah ihn aus schmalen Augen an. »Wieso willst du unbedingt, dass ich mich auf ein Fahrrad setze?«
»Ich möchte dir Brioude zeigen, und das ist der schnellste und einfachste Weg.«
»Du musst nichts wiedergutmachen, das ist dir klar, oder?«
Er zuckte mit den Achseln und hielt den Blick fest auf ihre linke Schulter gerichtet. »Ich weiß, aber es wäre wirklich schade, nur ein paar Kilometer von einem der hübschesten Städtchen der Auvergne entfernt zu sein und sie sich nicht anzusehen.«
»Könnten wir nicht den Wagen nehmen oder laufen?«
»Ich kann die Wagenschlüssel nicht finden. Ich glaube, Chuck hat sie versteckt. Und zu Fuß ist es zu weit. Wir haben nur ein paar Stunden Zeit.«
Molly spielte ihren letzten Trumpf aus. »Ich habe aber kein Rad, und ich nehme nicht an, dass die Mechaniker sonderlich erfreut wären, wenn ich eines der BeSpoke-Räder ausleihe.«
Ein Lächeln breitete sich auf Alex’ Gesicht aus. »Und wenn ich stinknormale Fahrräder auftreibe, kommst du dann mit mir nach Brioude?«
»Du hast schon welche, stimmt’s?«
»Genau.«
»Woher?«, wollte Molly wissen.
»Es gibt einen Fahrradverleih vorn an der Straße. Ich war so frei, uns dort zwei Räder auszuleihen.«
»Wie kann man nur so das Geld zum Fenster rauswerfen …«
»Ist das ein Ja?«
Molly wusste wirklich nicht, warum sie sich auf diese lächerliche Idee einließ, aber zwanzig Minuten später holperte sie unsicher hinter dem fest im Sattel sitzenden Alex die Straße entlang. Bis jetzt war sie nicht besonders begeistert, weder von ihren Radfahrkünsten noch von dem, was Brioude ihr bot – wenn sie es mal kurz wagte, den Blick schweifen zu lassen.
Nach ein paar Minuten fühlte Molly sich sicherer. Sie lockerte den angespannten Kiefer und die verkrampften Schultern. Den Lenker jedoch hielt sie immer noch so fest umklammert, als hinge ihr Leben davon ab, jederzeit bereit, die Bremsen zu betätigen. Aber so langsam fing es an, Spaß zu machen.
Glücklicherweise war nur wenig Verkehr, und die wenigen Autos, die an ihnen vorbeifuhren, hielten großen Abstand. Als ihr Selbstbewusstsein weiter wuchs, ignorierte sie den leicht schmerzhaften Druck des Sattels und schloss zu Alex auf, um neben ihm herzuradeln.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte er, und sie nickte.
Morgen würde sie das hier möglicherweise bereuen, aber jetzt gerade genoss sie den Fahrtwind im Haar und die Sonnenstrahlen auf dem Gesicht.
Bisher unterschied sich Brioude nicht von all den anderen französischen Kleinstädten.
Als sie in eine kleine Seitenstraße abbogen, musste Molly plötzlich lachen. Kopfsteinpflaster. Sie wurde derartig durchgeschüttelt, dass sie befürchtete, vom Rad zu segeln.
»Das ist nicht lustig«, rief Alex lachend, während sie über die kleinen, rauen Steinchen ruckelten.
Der arme Alex und auch die armen anderen Fahrer – von jetzt an würde sie definitiv mehr Mitleid mit ihnen haben. Selbst ein kurzer Abschnitt dieser verdammten Pflastersteine bei gemächlichem Tempo war mehr als unangenehm. Was mussten die Männer da erst aushalten?! Unvorstellbar.
Schließlich gab Molly sich geschlagen, stieg ab und schob. Alex umkreiste sie ein paar Mal, bevor er ebenfalls abstieg.
»Wie gefällt es dir bis jetzt?«
»Brioude? Es ist hübsch hier.«
»Nicht Brioude, wobei ich dir zustimme, es ist eine hübsche Stadt. Ich meine die Tour.«
»So langsam finde ich Gefallen daran«, musste sie einräumen.
Er nickte einmal. »Gut. Das hatte ich gehofft.«
»Oh, sieh nur, was für eine wunderschöne alte Kirche!«, rief sie aus, um das Thema zu wechseln. Was sollte sie auch sagen?
»Bist du mir aus dem Weg gegangen?«, fragte er und ignorierte ihre vorgetäuschte Begeisterung für die Kirche.
»Ein wenig«, gab sie zu. Sie redete sich ein, dass sie ihre verräterischen Gefühle für ihn besser unterdrücken konnte, wenn sie so wenig wie möglich mit ihm zu tun hatte.
Was nicht der Fall war.
Und das hier half nicht gerade. Was hatte sie nur geritten, sich auf einen Ausflug mit ihm einzulassen?
»Verstehe«, sagte er nüchtern. Wie konnte er nur so vernünftig sein? Sie selbst verstand überhaupt nichts mehr.
Ab da hielten sie sich an harmlosere Themen und plauderten über das Rennen, natürlich, über Musik und Filme, während sie durch malerische alte Gassen schlenderten. Aus den Cafés am Straßenrand zog ein köstlicher Duft nach Kaffee und Gebäck zu ihnen herüber, und obwohl sie gerne vorgeschlagen hätte, sich kurz hinzusetzen und etwas zu trinken, verkniff sie es sich.
Als sie genug hübsche Straßen und kleine Plätze gesehen hatte, stiegen sie wieder auf die Räder und radelten langsam zurück.
»Danke, das war wirklich schön«, sagte Molly, als sie zum Hotel kamen. Und das war es tatsächlich gewesen, obwohl ihr Hintern ein wenig schmerzte und sie ein leichtes Ziehen in den Waden spürte.
Auf einem Fahrrad zu sitzen, hatte sie Alex irgendwie noch mal näher gebracht. Was gefährlich war. Sich Alexander Duvall nahe zu fühlen, war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Jedenfalls nicht, wenn sie die nächsten zwei Wochen ohne ein gebrochenes Herz überstehen wollte.