Mick fluchte und schaltete den großen Fernseher ganz vorn im Bus ein.
»Oje, oje, das sieht nicht gut aus für Tim Anderson«, hörten sie den Kommentator sagen. Unpassenderweise zeigte die Kamera gerade die Anführer des Rennens, wie sie eine Abfahrt nahmen. »Ich glaube nicht, dass Duvall mitbekommen hat, wie sein Teamkapitän gestürzt ist. Moment, jetzt fasst er sich an den Knopf im Ohr und wird langsamer. Der sportliche Leiter muss ihm aber geraten haben weiterzufahren, denn schon ist der Kopf wieder über dem Lenker. Was sagst du dazu, Eamon?«
»Sehen wir uns diesen schrecklichen Sturz noch einmal an. Wissen wir schon, wie es ihm geht?«
Molly wurde ganz schlecht, als Alex und dicht hinter ihm Tim eingeblendet wurden, wie sie auf eine Kurve zusteuerten. Für sie unterschied sich diese Kurve kein bisschen von all den bisherigen – auf einer Seite eine Felswand, auf der anderen Seite der Abgrund. Bei vielen dieser Straßen gab es nicht einmal eine Leitplanke oder ein Geländer neben der Fahrbahn, hier jedoch schon. Sie sah zu, wie Alex ausschwenkte, um so gerade wie möglich zu fahren. Tim lag nur wenige Radlängen hinter ihm.
Plötzlich schien er auszurutschen. Sie sah in Zeitlupe, wie das Rad unter ihm wegschlidderte und er auf die niedrige Seitenmauer zusteuerte … Er knallte direkt in sie hinein. Die Wucht des Aufpralls katapultierte ihn über die Absperrung, dann war er verschwunden.
»Oh mein Gott!«, schluchzte Molly auf.
Mick griff nach dem Funkgerät. »Chuck? Chuck? Hier ist Mick.«
Das Gerät erwachte mit lautem Knacksen zum Leben. »Das wissen wir nicht, wir wissen es nicht. Der Tourarzt ist vor Ort. Wir kommen nicht an ihn heran.«
»Was ist los? Was passiert jetzt?«, rief Molly mit tränenüberströmtem Gesicht. Den Anblick, wie Tim über die Mauer geschleudert worden war und Gott weiß wie tief den Abhang hinunterstürzte, würde sie nie wieder vergessen.
»Chuck und Greg stecken hinter irgendwelchen Fahrern fest und kommen nicht zu ihm durch. Glücklicherweise war der Arzt näher dran«, erklärte Mick.
»Aber wie geht es ihm?«, wollte Molly wissen.
»Wir wissen auch nicht mehr als du, Liebes«, sagte Mick mit aschfahlem Gesicht.
»Frag ihn, frag Chuck«, drängte sie ihn.
»Wir müssen die Leitung freihalten. Sobald sie etwas wissen, werden wir es erfahren.«
»Wieso ist Alex nicht zu ihm zurückgefahren, um ihm zu helfen?«, schluchzte Molly. »Er kann doch nicht einfach so weiterfahren, als sei nichts passiert.«
»Hör mal, Moll, zu dem Zeitpunkt, als Alex von dem Sturz erfahren hat, war er schon einen Kilometer weiter, vielleicht mehr. Selbst wenn er wollte, kann er nicht einfach umdrehen und zurückradeln, wenn die anderen Fahrer ihm entgegengeschossen kommen. Er würde sich selbst und alle anderen in Gefahr bringen.«
»Aber er hat nicht einmal angehalten!«
»Nein, hat er nicht. Greg hätte ihm auch geraten weiterzufahren. So läuft das eben.«
»Und wenn Tim nun …?« Sie konnte es nicht aussprechen.
»Das darfst du nicht einmal denken«, warnte Mick mit wütendem Blick. »Er wird schon okay sein.«
Es dauerte weitere quälende Minuten, bis sie endlich mehr erfuhren, und in denen wusste keiner von ihnen etwas mit sich anzufangen. Immer mal wieder kam jemand aus dem Team vorbei, nickte mitfühlend oder klopfte ihnen auf die Schulter. Auch einige Journalisten lungerten in der Nähe herum, gut zu erkennen an ihren gelben Bändern um ihren Hals. Wieder einmal wunderte Molly sich, dass sowohl Presse als auch Zuschauer ungehindert Zugang zu den Teambereichen hatten.
Während ein Fahrer nach dem anderen im Ziel eintraf, hielt Molly aufgeregt nach Alex Ausschau. Sobald er die Ziellinie überquert hatte, raste Mick auf die Straße und führte ihn zusammen mit dem Rad zu den Turbos. Irgendeiner der Mechaniker hatte eine der Abwärm-Maschinen weggeräumt, sodass nur noch sieben dastanden. Bei dem Anblick setzte Mollys Herz einen Moment lang aus.
Sie sah zu, wie Alex den Helm abnahm, und stieß einen leisen Schrei aus. Er war kreidebleich. Langsam humpelte er zu den Turbos hinüber und setzte sich mit gesenktem Kopf auf den Sattel.
Das war zu viel für Molly. Sie ging zurück zum Bus. Sie würde dort auf ihn warten. Es würde noch ein wenig dauern, das wusste sie, erst musste er sich wiegen, dann kam der Dopingtest, er musste duschen … und wahrscheinlich heute auch noch Interviews geben. Irgendein Idiot würde ihn garantiert fragen, wie er sich fühlte.
Nach ungefähr einer halben Stunde kam Keiron zu ihr.
»Und?«, wollte sie wissen.
»Vermutlich ein Beckenbruch, dazu kommen eine Kopfverletzung und ein gebrochenes Bein. Er wird ins Krankenhaus nach Toulouse gebracht. Henno ist bei ihm.«
Molly schloss die Augen. Armer, armer Tim.
Als sie die Augen wieder öffnete, stand Alex vor ihr. Der Schock von vorhin war einem erschöpften, bekümmerten Gesichtsausdruck gewichen.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie leise.
Er nickte langsam.
»Dann wollen wir dich mal ansehen«, sagte sie, woraufhin er sich gehorsam auf der Liege niederließ.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie nach ein paar Minuten, in denen nichts bis auf Summen der Ultraschallgeräte zu hören gewesen war.
Sie fühlte sein Schulterzucken eher, als dass sie es sah. »Wir fahren morgen nach Montréjeau. Es ist ein weiterer Ruhetag«, murmelte er.
Es war nur logisch, zum nächsten Hotel zu fahren, da es ohnehin gebucht war. Außerdem hatten Chuck und Gregg so genug Zeit, um alles Organisatorische zu klären, da sie die Fahrer und den Rest des Teams nun viel früher als geplant nach Hause bringen mussten.
Wenngleich sie entschieden hatte, nach dem Job in ihr altes Leben zurückzukehren, versuchte Molly, nicht groß darüber nachzudenken, wie sie sich angesichts dieses verfrühten Endes der Tour fühlte. Es gelang ihr nicht. Es waren immerhin noch sechs Renntage übrig, und besonders enttäuscht war sie darüber, den letzten davon in Paris zu verpassen.
Dass sie Alex nach dem morgigen Tag wohl kaum wiedersehen würde, lastete ihr jedoch noch viel mehr auf der Seele, obwohl sie sich angesichts von Tims Verletzungen dafür schämte. Sie sollte nicht so selbstsüchtig sein! Es ging hier um viel mehr als ihre angeschlagene Gefühlswelt.
»Vielen Dank für heute«, flüsterte sie. Eigentlich hatte sie nichts sagen wollen, aber wenn sie sich morgen zum letzten Mal sahen, spielte es wohl ohnehin keine Rolle mehr.
Als die Behandlung vorbei war, setzte Alex sich auf, ließ die Beine über den Rand der Liege baumeln und griff nach seinem T-Shirt. Er drehte den Kopf zu ihr. »Hat Mick es dir verraten?«
»Nicht wirklich«, sagte sie, da sie Mick nicht reinreiten wollte. »Ich habe es eher erraten. Und er ist einfach nicht gut darin, etwas geheim zu halten.«
»Es tut mir leid, dass ich dir nicht Lourdes zeigen konnte. Wie fandest du die Basilika? Ich habe sie selbst noch nicht gesehen.«
»Ich auch nicht. Ich habe Mick überredet, mich zur Festung zu bringen.«
»Es gibt eine Festung?«
»Ja. Eine riesengroße, die auf einem Berg mitten im Ort thront.« Sie zögerte. »Hat mich ein wenig an Mont Saint Michel erinnert.«
»Nur, dass du diesmal mit einem unattraktiven, schnoddrigen Australier da warst und nicht mit einem kultivierten Briten«, gab er mit schwachem Lächeln zurück. Er stand auf und sah ihr direkt in die Augen. In dem engen Raum blieb nicht viel Platz zwischen ihnen. »Ich habe das wirklich so gemeint. Ich wünschte, ich hätte mit dir dort sein können.«
Ach, verdammt! »Ich auch«, gab sie zu, auch wenn das selten dämlich war, da sie wahrscheinlich schon morgen in ihrem eigenen Bett zu Hause liegen würde.
Molly wusste nicht, wie es dazu kam, aber plötzlich war er bei ihr, nahm sie in die Arme und küsste sie.
Sie löste sich mit brennenden Wangen aus seiner Umarmung und trat einen Schritt zurück. Ihr Herz schlug wild und sie zitterte am ganzen Körper.
»Es tut mir leid«, sagte er und ging zur Trennwand.
Während der Behandlung waren alle anderen in den Bus gestiegen, der kurz darauf losgefahren war, aber erst jetzt nahm Molly die Bewegung war und hörte das Motorengeräusch.
Alex hielt mit der Hand an dem kleinen Türgriff inne und wandte sich noch einmal zu ihr um. »Eigentlich tut es mir überhaupt nicht leid. Ich wollte das seit dem Tag, an dem wir uns begegnet sind, machen.« Damit war er fort. Die Tür fiel mit leisem Klicken hinter ihm ins Schloss.
»Genau wie ich«, sagte sie in die Stille hinein.
Eine einzelne Träne formte sich in ihrem Augenwinkel und rann ihr die Wange hinab. Was hatte sie bloß getan? Und wie um alles in der Welt sollte sie nach diesem Kuss wieder in ihr altes Leben zurückkehren?