»Wir sehen das Denkmal, das an Fabio Casartelli erinnert, den italienischen Radrennfahrer und Gewinner der Goldmedaille bei den Olympischen Spielen, der hier 1995 auf tragische Weise ums Leben kam«, sagte Norris.
Die Kamera zoomte auf eine glänzend weiße Steinstatue.
»Genau, Norris, die Société du Tour de France hat gemeinsam mit dem Motorola-Team dieses Denkmal an genau der Stelle errichtet, an der er damals verunglückt ist. Von hier aus lässt sich das nicht erkennen, aber es handelt sich eigentlich um eine Sonnenuhr, die genau drei Daten anzeigt: sein Geburtsdatum, sein Todesdatum und den Tag, an dem er die Goldmedaille im Straßenrennen gewann. Sein Rad steht in der Kapelle Madonna del Ghisallo, einer Kirche ganz in der Nähe seines Wohnorts, die gleichzeitig als Museum dient.«
»Damals trugen die Fahrer noch keine Helme –«
Molly versuchte, die Stimmen auszublenden, und starrte entsetzt auf das Denkmal, wo heute, mehr als dreißig Jahre später, immer noch Blumen abgelegt wurden, um den verstorbenen Radrennfahrer zu ehren. Himmel, dieser Sport war wirklich gefährlich.
Alex war beinahe am Scheitelpunkt angekommen. Die anderen hatten ihn immer noch nicht eingeholt, aber seine Führung war von dreiundzwanzig auf knapp unter vierzehn Minuten geschmolzen.
Was sich schon bald ändern sollte.
»Meine Blase kann so viel Aufregung nicht aushalten«, verkündete Mick. »Halt mal beim nächsten Café an, Damien, dann können wir uns gleichzeitig einen Kaffee besorgen.«
Sie fuhren gerade durch eine kleine Ortschaft, und Damien bog sofort von der Hauptstraße ab. Molly zog abschätzig die Nase kraus; sie wäre überrascht, wenn sie hier ein annehmbares Café finden würden. Zwar hatte sie sich mittlerweile an den Anblick von geschlossenen Fensterläden und Eisenstangen vor den Hauseingängen gewöhnt, aber dieses Dorf mit seinen heruntergekommenen Gebäuden, von deren Fassaden die Farbe abbröckelte, verströmte absolut keinerlei französischen Charme, sondern machte einen verwahrlosten Eindruck. Der ganze Ort wirkte trostlos und düster – bis sie auf einen offenen Platz mit der obligatorischen Kirche einbogen, und Molly überrascht die Luft einsog.
Sie waren in der Zeit zurückgereist! Alle Gebäude hier schienen aus dem Mittelalter zu stammen. Die oberen Stockwerke der vielen Fachwerkhäuschen stützten sich auf dicke Holzbalken, in die Lücken darunter schmiegten sich Geschäfte, Cafés und Restaurants. Es war unbeschreiblich hübsch, und sie sah sich mit großen Augen um. Wieder ein Ort, zu dem sie zurückkehren wollte – die Liste wurde wirklich immer länger.
Damien schaltete den Motor ab, und Mick eilte zum nächstgelegenen Café. Molly hüpfte schnell aus dem Wagen und lief ihm hinterher.
Als sie wieder auf die Straße trat, bezahlte Mick gerade für vier Kaffees und stopfte sich Zuckerpäckchen in die Jeanstasche. »Hier, nimmst du die?« Er reichte ihr zwei Pappbecher. Sie sog den köstlichen Duft ein und versuchte, nicht an Alex zu denken. Er hatte die Abfahrt jetzt bestimmt schon zur Hälfte hinter sich gebracht …
Bei dem Gedanken wurde ihr ganz schlecht vor Angst. Mit einem Mal war ihr Mund wie ausgetrocknet und sie schloss kurz die Augen.
»Mick! Molly! Kommt schnell zurück zum Wagen. Wir müssen sofort los!«, rief Jakob zu ihnen herüber.
Molly schlug die Augen wieder auf. Bitte nicht, nein, nicht Alex. Bitte lass ihm nichts zugestoßen sein!
Sie rannte zum Wagen, riss die Tür auf und fiel mehr oder weniger auf den Sitz. »Was ist los? Ist es Alex?«
»Pssst, Damien spricht gerade mit Greg«, zischte Jakob.
»Wir fahren gerade an Mirepoix vorbei«, hörte sie Damien sagen, der bei seiner kleinen Notlüge das Gesicht verzog, denn tatsächlich hatten sie ja dort angehalten. »Wieso?«
»Fahrt nach Pamiers«, quakte Gregs Stimme aus dem Funkgerät. »Einer von euch muss sich mit einem Verpflegungsbeutel dort aufstellen. Es gibt da eine Brücke, die über den Fluss führt. Einer muss da stehen, kurz bevor Alex durchkommt. Ich will auch noch jemanden in Belpech, einen in Fanjeaux und der Letzte wartet bei Arzens. Bitte sagt mir, dass ihr alles dabei habt?«
»Selbstverständlich«, antwortete Damien mit breitem Grinsen.
»Um was geht es?«, fragte Molly aufgeregt.
Mick schüttelte bedächtig den Kopf, ihm stand der Mund offen. »Ich fasse es nicht. Verdammt noch eins, das ist wirklich nicht zu fassen!«
»Was denn?«, rief Molly.
Nun grinste auch Mick über das ganze Gesicht. »Er ist auf dem Weg zum Etappensieg.«
»Wer?« Molly schnappte sich den Anschnallgurt, als Damien einen Schnellstart hinlegte.
»Na, Alex natürlich«, erwiderte Mick, immer noch fassungslos den Kopf schüttelnd.
»Aber du hast doch gesagt –«
»Vergiss was ich gesagt habe. Alex will den Etappensieg. Was für ein wahnsinniger, dämlicher, dickköpfiger Scheißkerl.«
Er wollte was?! Wow. Molly konnte es ebenfalls kaum glauben. »Wie stehen seine Chancen?«
»Gering bis Null«, sagte Mick fröhlich.
»Also warum versucht er dann –«
»Weil er die Möglichkeit dazu hat. Und wenn er es nicht probiert, wird er es nie herausfinden, ob er es geschafft hätte. Um ganz ehrlich zu sein, ich halte es für ein Wunder, dass er überhaupt so lange die Führung halten konnte. Er hat jetzt schon über hundert Kilometer Strecke hinter sich. Das muss ein neuer Rekord sein. Niemand, der noch alle Tassen im Schrank hat, reißt so früh aus und kämpft dann noch um den Etappensieg.«
Molly musste ebenfalls lächeln. »Alex anscheinend schon.«
»Keine Ahnung, was in den gefahren ist, aber, verdammt noch mal, bin ich froh, dass er es wagt!«, sagte Mick. »Also gut, dich setzen wir zuerst ab, dann kann dich später einer von den Teamwagen mitnehmen. Damien ist der Letzte, er sammelt den Rest von uns ein, sobald alle Fahrer an ihm vorbeigekommen sind. Du musst aber im Ziel auf Alex warten«, sagte er und schaute sie vielsagend an. »Er wird komplett zerschossen sein.«
Molly verstand nicht ganz. »Wieso werde ich abgesetzt und was soll ich dort tun?«
»Ach du Schande.« Jakob drehte sich zu ihnen nach hinten um und fing Micks Blick auf. »Sie hat das noch nie gemacht, habe ich recht?«
»Würde mir bitte jemand verraten, um was es hier geht?«, rief Molly.
»Du hast doch schon Teammitglieder gesehen, die an der Strecke stehen und Wasserflaschen verteilen oder diese kleinen Stoffbeutel?«, fragte Mick.
»Ja …«
»Also, das musst du gleich machen. Alex kann ja auf dem Rad nicht viel mitnehmen, und wenn ihm keiner von uns Swannies Wasser und Verpflegung anreicht, wird er verdammt schnell alle Energiereserven aufgebraucht haben. Die Teamwagen sind zu weit hinten, um ihm auszuhelfen, also müssen wir ran.«
»Wir sind in zehn Minuten da«, informierte sie Damien, nachdem er alles ins Navi eingegeben hatte. Er griff zum Funkgerät: »Geschätzte Ankunftszeit in zehn Minuten. Wo ist Alex?«
»Fünfundzwanzig Minuten vor Pamiers.«
»Roger. Molly steht am ersten Treffpunkt.«
Es blieb kurz still. »Sag Molly, dass sie das richtig hinkriegen muss. Der Etappensieg hängt davon ab«, hörten sie dann.
Toll, das setzt mich ja überhaupt nicht unter Druck, wollte Molly sagen, aber ihr zog sich der Magen zusammen und sie bekam kein Wort heraus.
»Okay, also, sobald der Wagen hält«, wies Mick sie an, »hole ich dir eine Musette aus dem Kofferraum und zeige dir, wie du sie so hältst, dass Alex sie im Vorbeifahren am besten greifen kann.«
Musettes, das hatte sie sich gemerkt, waren kleine, mit Getränkedosen, Reiswaffeln, Energieriegeln und Elektrolytgels bestückte Baumwolltaschen. Sie hatte schon ein paar Mal gesehen, wie die Swannies sie vorbereitet hatten, hätte sich jedoch nicht im Traum ausgemalt, dass sie selbst einmal am Straßenrand stehen und eine von ihnen übergeben würde. Was, wenn sie es falsch anstellte und Alex die Musette nicht zu fassen bekam? Du lieber Himmel, sie war wirklich nicht bereit für diese Aufgabe!
»Bieg hier links ab«, wies Jakob Damien an, »dann wieder rechts. So sollten wir von der Seite an den Streckenabschnitt heranfahren können. Molly, du wirst auf dieser Seite aussteigen und die Brücke zu Fuß überqueren müssen. Stell dich nicht zu nahe bei der Kurve hin, sonst sieht Alex dich nicht rechtzeitig. Tut mir leid, dass wir dich nicht näher ranbringen können, aber die Polizei wird mittlerweile die Straßen gesperrt haben.«
Molly beugte sich nach unten, um ihre Tasche aus dem Fußraum zu holen, dabei hielt sie sich mit einer Hand am Sitzgurt fest.
»Okay, da oben … und – los!«, rief Jakob.
Der Wagen bremste abrupt ab, Mick sprang aus der Tür, dicht gefolgt von einer sehr nervösen Molly. Mick riss den Kofferraum auf und schnappte sich eine Musette aus einer Kiste. »Du stellst dich so hin.« Er stellte sich seitwärts zum Weg und streckte den Arm im rechten Winkel aus. »Und die Tasche hältst du so.«
Molly nickte, das würde sie hinbekommen.
»Er fährt allein an der Spitze, also kann er es sich nicht leisten abzubremsen, nicht mal für eine Sekunde. Versuch einfach, so zu stehen, dass er dich gut sehen kann, und wenn du vermeiden kannst, dass Zuschauer in der Nähe sind, umso besser.« Er reichte ihr den Beutel. »Los«, drängte er sie und versetzte ihr einen kleinen Schubs.
Sie machte sich auf den Weg. Hinter sich hörte sie die Autotür zuknallen, dann den Motor aufheulen, bevor der Wagen wendete und davonraste.
Molly warf dem Polizisten mit seinem Motorrad einen besorgten Blick zu, als sie an ihm vorbeiging. Jakob hatte recht, die Polizei hatte die Brücke abgesperrt, weil die Fahrer bald eintreffen würden.
Doch als sie sich an dem Polizisten vorbeischob, hielt er sie nicht auf. Sie war schon ein gutes Stück über die Brücke gelaufen, als die Vorhut durchkam. Sie bestand aus der Polizeieskorte, Tourmitarbeitern, Kameraleuten auf Motorrädern und den offiziellen Wagen der Veranstalter. Hinter der Brücke sah Molly eine Rechtskurve, aber zwischen Kurve und Brücke lagen ein paar Meter gerade Strecke. Glücklicherweise gab es dort nur zwei Zuschauer, beides ältere Herren. Hinter ihnen lagen einige wenige versprengte Gebäude. Alex sollte also keine Probleme haben, Molly zu sehen. Aber um ganz sicherzugehen, stellte sie sich mitten auf die Straße und wartete.
Immer mal wieder musste sie zur Seite treten, um ein weiteres Motorrad durchzulassen. Das alles kam ihr völlig surreal vor. Sie hoffte nur, dass auch wirklich einer der Teamwagen später daran dachte, sie mitzunehmen. Sie wollte wirklich nicht den Rest des Tages hier mitten in der französischen Pampa gestrandet sein.
Ein mehrfaches Hupen lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die vor ihr liegende Kurve. Drei Motorräder flitzten vorbei, und dann – Oh Gott, dann war da Alex, und sie konnte nicht fassen, wie schnell er fuhr. So konnte er doch unmöglich den Beutel erwischen!
Sie riss sich zusammen, trat auf die Straße, den Arm steif zur Seite ausgestreckt, und behielt Alex fest im Blick, der direkt auf sie zusteuerte.
Seine Augen waren nicht zu erkennen, nur die untere Hälfte seines Gesichts, aber das Lächeln, das sich dort ausbreitete, sobald er sie sah, ließ sie dahinschmelzen.
Er kam näher und näher und –
»Das hier ist für dich, Molly«, schrie er, und sie spürte, wie er ihr die Musette aus der Hand riss, wirbelte herum und sah ihn über die Brücke hinweg auf den Sieg zurasen.