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Alex wurde es am Ende nicht, obwohl er die Etappe gewann. Insgesamt stand er damit an dritter Stelle, und als Nächstes stand die achtzehnte Etappe mit einem erneuten Riesenanstieg bevor. Zwischen Del Ray, der immer noch in der Gesamtwertung führte, und Alex lagen nur siebzehn Sekunden. Siebzehn lange, unüberwindbare Sekunden.

Unüberwindbar, weil derselbe Plan nicht auch noch ein drittes Mal aufgehen würde. Die anderen Fahrer, die Anwärter auf den Gesamtsieg und diejenigen, die alles zu verlieren hatten, wenn Alex noch mehr Zeit herausfuhr – sie alle würden künftig an ihm haften wie Sekundenkleber. Weder Alex noch einer der anderen fünf auf den ersten Rängen durften die achtzehnte Etappe mit dem ikonischen Alpe d’Huez eröffnen, sondern jemand, der im Ranking viel weiter unten stand und gerade erst nach einem Unfall wieder ins Rennen zurückgekehrt war.

Insgesamt stand Alex jetzt an dritter Position, und sollte sich nicht noch etwas Gravierendes ereignen, würde er wohl auf diesem Platz bleiben.

Nicht, dass Alex oder das BeSpoke-Team sich darüber beschweren würden. Ein Platz auf dem Podium war mehr als sie sich vor der Tour erträumt hatten! Jetzt musste er diesen Platz nur noch halten.

Das war einfacher gesagt als getan.

»Weißt du, was ich wirklich gerne hätte?«, fragte er sie später am Abend.

Molly schüttelte den Kopf.

»Ein großes, saftiges Steak mit richtigen Pommes. Nicht diese Fertigpommes, sondern hausgemachte. Ohne auch nur ein einziges Salatblättchen daneben.«

Sie saßen auf einer Hotelterrasse irgendwo in Megève. Der Ausblick auf die Alpen war fantastisch, aber weder Molly noch Alex hatten Augen für die Schönheit der Berge. Molly war viel zu sehr damit beschäftigt, Alex anzuhimmeln, und Alex damit, an Essen zu denken. Nicht, dass sie ihm das verübelte. Der arme Kerl lebte seit Wochen von magerem Hühnchen, Fisch, Reis, Salat und Gemüse.

»Und Kuchen«, fügte er verträumt hinzu. »Schokoladenkuchen, mit einem Klacks Sahne.«

»Nur noch ein paar Tage, dann kannst du alles haben, was du willst«, munterte sie ihn auf.

»Versprochen?« Er wackelte bedeutsam mit den Augenbrauen.

Molly zögerte. Wie sollte sie ihm irgendetwas versprechen? Er ging davon aus, dass sie weiter als Physiotherapeutin im BeSpoke-Team arbeitete. Sie aber würde nächste Woche nach England zurückkehren. Sollte er tatsächlich, wie sie für ihn hoffte, als Drittplatzierter die Tour de France beenden, würde das seine Karriere als professioneller Rennradfahrer auf ein ganz neues Level heben. In einigen Wochen wäre er wieder unterwegs, würde für ein weiteres Rennen trainieren. Sie sollte ihm wirklich sagen, dass sie ernsthaft erwog, in ihr altes Leben zurückzukehren, aber Molly wollte die wenige Zeit, die ihnen blieb, nicht verderben. Diese ganze Erfahrung war surreal, und seit sie sich dem Team angeschlossen hatte, kam es ihr so vor, als existiere nichts mehr als die Fahrer und die Tour. Der Rest der Welt war vergessen, war unwichtig geworden. Ihre Tage wurden vom Rennen bestimmt, davon, sich auf die nächste Etappe vorzubereiten, sich von der vorherigen zu erholen. Und dann ging alles wieder von vorne los. Molly war so in diesem Kreislauf gefangen, dass sie nicht weiter als bis Paris denken konnte.

Alex ging es bestimmt genauso, wenn auch aus anderen Gründen. Paris war für ihn die Chance auf den dritten Platz bei der Tour de France.

So oder so war es für sie beide der Tag der Entscheidung.

Molly sah ihm mit gemischten Gefühlen entgegen. Wieder nach Hause fahren zu können, war schön und schrecklich zugleich. Schön, weil sie es vermisste, jeden Abend am selben Ort einschlafen zu können, nicht mehr aus dem Koffer zu leben, weil sie ihre Familie vermisste, ihre Freunde und Kollegen, ja, sogar Finley. Sie freute sich darauf, auch mal wieder etwas anderes als Radrennen im Fernsehen anzuschauen. Sie vermisste die einfachen Dinge: Toast mit Bohnen, Marmite Chips und echte Vollmilch. Irgendwie schmeckte die französische Milch anders. Aber was sie am meisten vermisste: Zeit nur für sich allein zu haben, um zu lesen oder Musik zu hören.

Schrecklich daran war eigentlich nur eines, nämlich Alex zu verlieren. Bei dem Gedanken, ihn nicht mehr täglich um sich zu haben, hätte sie sofort losheulen können. Sie wusste wirklich nicht, wie sie das ertragen sollte.

Dennoch würde sie vorerst einfach weitermachen wie bisher, um seinetwillen, denn sie wollte ihm nicht die Tour verderben.

»Es ist langsam Zeit, schlafen zu gehen«, sagte sie. »Du solltest dich besser hinlegen, bevor Chuck und Greg nach dir suchen.«

Er seufzte schwer. »Ich weiß, aber es ist so schön hier draußen mit dir, und ein paar Minuten länger werden schon nicht schaden.«

»Doch, das werden sie.« Hennos laute Stimme durchbrach die Stille des Sommerabends und sofort war es um die friedliche Atmosphäre auf der Terrasse geschehen. »Du musst dich ausruhen. Hör auf deinen Arzt, Alex, und geh schlafen. Der Rest des Teams ist schon vor über einer Stunde ins Bett gegangen.«

Alex seufzte noch einmal, stand auf und lächelte sie reumütig an. »Wir sehen uns morgen früh«, sagte er, legte ihr einen Finger unters Kinn und hob es leicht an. Er beugte sich vor, und ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte er sie sanft geküsst. »Schlaf gut, mon amour. Bonne nuit.«

Molly saß da wie vom Blitz getroffen. Alex ging hinein, sie sah ihm nach, dann zu Henno, dessen Lippen sich abschätzig kräuselten, und verzog schließlich das Gesicht selbst zu einer Grimasse.

Henno wartete, bis Alex außer Hörweite war, ehe er sich an sie wandte. »Molly, ich bin wirklich überrascht. Sie kennen die Regeln. Sie verstehen doch sicher, dass mir keine andere Wahl bleibt, als Greg darüber zu informieren?«

Molly nickte stumm. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hoffte inständig, Alex würde keinen Ärger bekommen. Sie abzumahnen war eine Sache, aber Alex konnte wirklich keinen zusätzlichen Stress gebrauchen. Es lastete genug Druck auf ihm.

Henno erwiderte ihr Nicken kurzangebunden, dann stakste er davon.

Sollte sie hier warten? Würde Greg sofort mit ihr sprechen wollen oder damit bis zum Morgen warten?

Nach etwa zehn Minuten, die sie auf der Terrasse herumgetigert war, kam sie zu dem Schluss, dass Greg ihre Zimmernummer kannte, falls er sie noch sprechen wollte. Sie war zu aufgedreht, um zu schlafen, aber dort konnte sie sich wenigstens mit einem Buch ablenken.

Am Ende rief sie stattdessen ihre Mutter an. »Hallo, ich bin’s. Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe.«

»Stimmt was nicht?«, fragte ihre Mutter sofort.

»Alles in Ordnung. Ich habe nur ein wenig Heimweh.«

»Euer Mann schlägt sich ja richtig gut«, sagte ihre Mum. »Wir schauen uns jeden Abend die Highlights auf Eurosport an. Dein Vater möchte wissen, ob er gewinnen wird, denn falls ja, will er auf ihn wetten.«

»Papa wettet nicht.«

»Dieses Mal schon. Wenn es eine sichere Wette ist.«

»Hier ist gar nichts sicher«, gab Molly zurück.

»Du klingst traurig. Ist auch sicher alles in Ordnung?«

»Ja. Mum …?«

»Ja, Liebes?«

»Ich werde Montag nach Hause kommen.«

»In Ordnung. Wir freuen uns darauf, dich zu sehen. Ich habe, während du weg warst, in deinem Haus nach dem Rechten gesehen, da ist alles in Ordnung. Wie lange wirst du denn hierbleiben, oder weißt du das noch nicht?«

»Ich komme ganz zurück. Ich arbeite wieder für Finley. Danke, dass du mir dazu geraten hast. Ohne dich und Dad hätte ich Finley nie gebeten, mir meine Stelle freizuhalten.«

»Oh, Liebes, also gefällt es dir dort nicht? Als wir uns zuletzt gesprochen haben, klang es, als hättest du eine tolle Zeit.«

»Die hatte ich auch. Habe ich. Es ist nur …«

»Es ist nicht das richtige Leben für dich?«, beendete ihre Mutter sanft den Satz für sie.

»Ja. Auf Tour bleibt für nichts anderes Zeit, ab der Minute, wenn du aufstehst, bis du wieder ins Bett fällst.«

Es folgte eine längere Gesprächspause, und Molly fragte sich schon, ob die Verbindung unterbrochen worden war. »Hallo?«, fragte sie leise.

»Ich bin noch da. Das klingt so gar nicht nach dir, Molly. Du hast noch nie harte Arbeit gescheut. Ich denke, da gibt es noch etwas, das du mir nicht verraten willst.«

Ihrer Mum konnte sie einfach nichts vormachen.

»Ja, stimmt«, gab sie zu. »Aber ich will nicht über ihn sprechen.«

»Ihn?« Ihre Mutter horchte auf. »Es geht um einen Mann?«

»Ja. Es ist kompliziert.«

»Das ist die Liebe meistens«, lautete die trockene Antwort ihrer Mum.

»Wer hat von Liebe gesprochen?«

»Das ist gar nicht nötig. Ich höre es an deiner Stimme.«

Tatsächlich? Molly war gar nicht klar gewesen, wie leicht sie zu durchschauen war. »Ich weiß selbst noch nicht, was es ist, Mum.«

Wieder wurde es einen Augenblick still in der Leitung. Dann sagte ihre Mum: »Solltest du das nicht besser herausfinden, bevor du eine schwerwiegende Entscheidung triffst?«