Molly saß den ganzen Morgen über wie auf heißen Kohlen. Wann würden Chuck oder Greg sie ansprechen? Sie hatte beim Frühstück Hennos Blick aufgefangen, aber er hatte nur höflich gelächelt. Hatte der Arzt überhaupt mit einem der sportlichen Leiter gesprochen? Sie hielt die Anspannung kaum noch aus. Es fühlte sich an, als wäre sie eine Schülerin, die vor dem Zimmer der Rektorin warten musste.
Als der Teambus sich auf den Weg zum Start der neunzehnten Etappe machte und Molly immer noch niemand angesprochen hatte, wusste sie nicht, ob sie erleichtert aufatmen oder vor lauter Ärger mit dem Fuß aufstampfen sollte. Selbstverständlich war ihr klar, dass es weit wichtigere Dinge gab als eine Mitarbeiterin abzumahnen, die einem der Fahrer zu nahe gekommen war. Ganz besonders dann, wenn dieser Fahrer gerade eine Chance darauf hatte, auf dem Siegertreppchen des prestigeträchtigsten und berühmtesten Radrennens der Welt zu stehen. Verglichen damit war sie natürlich unbedeutend.
Molly hatte schon öfter gehört, meistens von diesen nervtötenden Kommentatoren, mit denen sie inzwischen eine Art Hassliebe verband, dass niemand die Tour de France in der neunzehnten Etappe gewann. Sie hatte die beiden Männer allerdings auch sagen hören, dass dieses Jahr keine von den bisherigen Regeln zu gelten schien, dass siebzehn Sekunden nicht unüberwindbar seien und folglich alles möglich wäre. Und dass sie nicht damit rechneten, dass Mateo Rohjas, der im Moment an zweiter Stelle stand, oder Alex noch mehr Kaninchen aus dem Hut zaubern würden. Molly war geneigt, ihnen zuzustimmen, wusste aber auch, wie wild entschlossen Alex war. Wenn irgendjemand das schaffen konnte, dann er.
Heute fand das Mannschaftszeitfahren statt, ein kurzes, unfassbar schnelles Rennen, bei dem jedes Team geschlossen an den Start ging, mit jeweils zehn Minuten Pause vor dem nächsten Team – was trotz der kurzen Strecke eine Menge Wartezeit bedeutete, bis alle Teams das Rennen beendet hatten und die Ergebnisse feststanden.
Und so versammelte sich dieses eine Mal fast das gesamte Team von BeSpoke hinter der Ziellinie, bis auf die Mechaniker, die in Megève an den Spezialrädern herumschraubten.
Sallanches, wo das Zeitfahren endete, war nicht so idyllisch oder malerisch wie viele der Dörfer, die Molly in letzter Zeit gesehen hatte, besaß aber einen ganz eigenen Charme, und es hatte sich eine große Zuschauermenge versammelt. Die Franzosen waren wirklich wahnsinnige Radsportfans, dachte Molly, als ihr jemand einen gelben Luftballon reichte, den sie schwenken sollte. Sie war gerade zu Fuß auf dem Weg in die Innenstadt. Alex und der Rest des Teams hatten noch Zeit, bis sie an den Start gingen, also nutzte Molly die Gelegenheit dazu, sich ein wenig umzusehen – und sich von der bevorstehenden Standpauke abzulenken.
Sallanches war von hohen Bergen umgeben, nahe am berühmten Mont Blanc, dennoch war der Ort überraschend weitläufig, und als sie erst einmal dem Rummel rund um die Ziellinie entkommen war, genoss sie die Ruhe und die Zeit allein. Denn bis auf die wenigen Stunden in ihrem Hotelzimmer hatte Molly kaum noch Zeit für sich. Dasselbe galt für alle anderen im Team, in ihr löste es allerdings ein leicht klaustrophobisches Gefühl aus. Ein Stündchen durch die Gassen einer fremden kleinen Stadt zu schlendern, würde ihr guttun. Und die Dinge wieder ins rechte Licht rücken. Eine kleine Auszeit von der Tour und allem, was damit zusammenhing, konnte sie wirklich gut gebrauchen.
Mit dem Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, suchte sie sich einen Platz an einem Tisch vor einem hübschen Café. Die Speisekarte war erwartungsgemäß auf Französisch, aber mit »pain« und »fromage« würde sie nichts falsch machen können. Brot und Käse. Klang gut!
Nachdem sie etwas holprig bestellt hatte, lächelte die Bedienung sie an. Molly lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, schloss die Augen und hielt das Gesicht in die Sonne. Wenn doch nur jeder Tag der Tour de France so aussehen könnte! Dann wäre sie direkt versucht, weiter für das Team zu arbeiten.
Oder nicht?
Sie dachte wieder an den Ratschlag, den ihre Mum ihr gegeben hatte, und versuchte, sich über ihre Gefühle klar zu werden.
Sie mochte Alex. Sehr. Er war nicht nur höflich, lustig und ein hervorragender Küsser, sondern auch extrem attraktiv, und sie war gerne mit ihm zusammen. Aber war es Liebe?
Wie wäre es, ihr altes Leben in Worcester wieder aufzunehmen? Zugegeben, das hatte einen gewissen Reiz. Sie hatte sich bequem eingerichtet, alles war vorhersehbar und sie fühlte sich wohl dort.
Aber, und das war ein großes Aber: Würde sie Alex zurücklassen können? Und ihn vermutlich nie wiedersehen? Das war ein unendlich trauriger Gedanke und das Herz tat ihr allein bei der Vorstellung unfassbar weh.
Verdammt! Ihr blieb also gar keine andere Wahl, oder? Wenn sie weiterhin ein Teil von Alex’ Leben sein wollte, musste sie beim Team bleiben. Die Alternative war einfach undenkbar.
Als ihr Essen kam, war in Molly ein Entschluss gereift: Sie würde weiterhin als Physiotherapeutin für BeSpoke arbeiten. Alex ging ohnehin davon aus, dass sie sich so entschied, und schien sehr glücklich darüber zu sein. Aber da gab es noch ein kleines Problem – die Regel, dass Fahrer und Teammitglieder nichts miteinander haben durften. Niemals.
Wie genau passte das in ihren Plan?
Sie aß mit großem Appetit und gönnte sich ein Glas vollmundigen Rotwein. Sie genoss jeden einzelnen Schluck und es kam ihr vor, als sei es Monate her, dass sie auch nur einen Tropfen Alkohol getrunken hatte. Dann bezahlte sie und schlenderte zurück zur Ziellinie.
»Um wen müssen wir uns Sorgen machen?«, fragte sie, nachdem sie sich zu Mick gesellt hatte. Er saß auf einem Klappstuhl vor einem der riesengroßen Bildschirme und hielt einen Softdrink in der Hand.
Als er sie sah, stand er auf und bot ihr seinen Sitz an, doch sie winkte ab.
»Team Braconti-Alba führt gerade«, sagte er, »aber Espanda ist auch noch nicht gestartet. Kontrol Data hat nicht so gut abgeschnitten. Drei ihrer Jungs sind echt schnell gefahren, aber der Vierte hat sie zurückgeworfen.«
Mateo Rohjas war gestern Zweitplatzierter gewesen. Das würde sich heute durch die weniger herausragende Leistung seines Teams ändern. Molly hoffte bloß, dass BeSpoke es schaffen und vier von den sieben Jungs eine gute Zeit herausfahren konnten. Die anderen Teams gingen mit allen acht Fahrern an den Start, aber nur die schnellsten vier zählten für die Zeitwertung. Da alle Zeiten zusammengerechnet wurden, kam es auch hier auf ein gutes Zusammenspiel und die jeweilige Taktik an, nicht nur darauf, wer der schnellste Fahrer war.
Es ging im Rennradsport um weit mehr als nur darum, auf ein Rad zu steigen und so schnell zu fahren, wie man konnte, das hatte Molly mittlerweile begriffen. Neben den extremen körperlichen Anforderungen war ein hohes Maß an mentaler Stärke gefragt. Und jedes Team versuchte, das andere aus dem Konzept zu bringen, wo es nur ging. Es war unglaublich spannend mitanzusehen.
»Da sind sie ja«, rief Molly, als die BeSpoke-Fahrer sich am Start aufreihten.
»Sie müssen dreiundzwanzig Minuten und neunzehn Sekunden unterbieten«, sagte Damien, der hinter sie getreten war. »Ich hoffe, Carlos behält die Nerven.«
Molly wusste, dass die Etappe abgesehen vom ersten Kilometer größtenteils bergab verlief und zum Ziel hin etwas flacher wurde. Die Tatsache, dass alle gegen die Uhr fuhren und nicht mit den anderen Fahrern um ihre Position kämpfen mussten, führte zu einer größeren Risikobereitschaft. Bei dieser Etappe kam es auf die richtige Technik an und darauf, die Nerven zu behalten. Ganz am Ende gab es dann das Schlussrennen ins Ziel.
BeSpoke schaffte es in vierundzwanzig Minuten und drei Sekunden.
Anschließend herrschte lange Zeit angespanntes Schweigen unter den Teammitgliedern, während alle darauf warteten, dass die restlichen Teams ihre Zeitfahrten absolvierten.
Irgendwann tauchte Chuck auf, ein breites Grinsen im Gesicht. »Er ist doch tatsächlich vom dritten auf den zweiten Platz gerutscht!«, rief er, woraufhin alle in lauten Jubel ausbrachen. Molly stimmte ein, sie weinte vor Freude, hielt Mick und Damien an den Händen und hüpfte auf und ab. Sie war so stolz auf Alex und auf das gesamte Team! Denn wenn sie eine Sache gelernt hatte, dann dass bei den meisten anderen Sportarten stets einer für sich allein kämpfte. Beim Rennradsport war das anders – das Team wählte denjenigen aus, der die besten Chancen hatte, und stärkte ihm gemeinsam den Rücken. Nie zuvor war sie Teil von etwas so Großem, so Monumentalem gewesen! Es erfüllte sie gleichzeitig mit Demut und unbändigem Stolz.
»Molly, kann ich dich kurz sprechen?«
Molly blickte hinter sich und erkannte Chuck. Sein freudiger Gesichtsausdruck war verflogen. Dann stand ihr wohl jetzt die gefürchtete Standpauke bevor.
Mick riss die Augen auf und schüttelte kaum merklich den Kopf. Molly starrte kurz zurück und in ihrem Magen kribbelte es vor Angst.
»Hier entlang«, sagte Chuck und führte sie zum Bus.
Molly erhaschte einen letzten Blick auf Micks Gesicht und wurde noch nervöser. Irgendetwas war da im Busch, und sie wusste, dass es ihr nicht gefallen würde.
»Setz dich«, sagte Chuck, sobald sie im Bus waren. Er nahm ihr gegenüber Platz und beugte sich vor. »Es fällt mir nicht leicht, aber du lässt mir keine andere Wahl. Ich werde deinen Vertrag mit BeSpoke auflösen müssen.«
Molly war fassungslos. Sie hatte eine Verwarnung erwartet, aber keine Kündigung. »Wieso?«, rief sie.
»Du weißt, wieso. Die Teammitglieder sollen aus gutem Grund nichts mit den Fahrern anfangen, ganz besonders nicht während einer Tour. Alex kann sich keine Ablenkungen leisten, und du, meine Liebe, bist eine Riesenablenkung, wenn ich das so sagen darf.«
»Es ist nichts passiert!«, wehrte sie sich, wusste aber im selben Moment, dass es der Wahrheit entsprach. Sie hatten vielleicht nicht das Bett geteilt oder sich ihre unsterbliche Liebe füreinander gestanden, aber sie hatten sich geküsst und Gefühle füreinander entwickelt.
»Ist es doch. Lüg mich nicht an, Molly. Ich weiß genau, was da zwischen euch beiden läuft. Es gehört zu meinem Job, mehr über die Fahrer zu wissen als sie selbst es tun. Mir ist durchaus bewusst, was du Alex bedeutest, aber das muss aufhören. Ich kann dich nicht in meinem Team lassen, es lenkt ihn zu sehr vom Fahren ab. Ganz besonders jetzt, da er so einen guten Lauf hat. Das verstehst du, nicht wahr? Du willst doch auch nicht, dass irgendetwas zwischen ihm und seinem Tour de France-Sieg steht?«
Oh, das war richtig mies von ihm, dachte Molly. Aber Chuck hatte recht. Alex war kurz davor, etwas Großes zu erreichen, und falls ihre Liebe ihm das in irgendeiner Art verdarb …
Ihr sank das Herz; sie hatte sich doch gerade eingestanden, dass sie ihn liebte.
Und genau deshalb erklärte sie sich mit Chucks Bedingungen einverstanden.