Verzweifelt versuchte Molly, zu den BeSpoke-Fahrzeugen durchzukommen. Sie zwängte sich durch die vielen Menschen und stolperte dabei fast über ihre eigenen Füße, weil sie es nicht erwarten konnte zu erfahren, wie das Rennen ausgegangen war.
»Entschuldigung, entschuldigen Sie bitte. Lassen Sie mich durch«, rief sie, während sie sich durch die Menschenmassen drängte, die alle in dieselbe Richtung unterwegs waren, weil sie hofften, einen Blick auf den Sieger zu erhaschen. Wer auch immer es sein mochte.
Endlich kam sie beim Bus an, neben dem die Turbos aufgereiht standen, und wartete dort. Die Mechaniker waren auch schon hier, um ihre wertvollen Räder vor den lästigen angestrengten Fahrern zu retten. Aber sie wusste, die Swannies würden alle an der Ziellinie bereitstehen, um den Fahrern zu helfen, sobald sie ankamen. Manche der Fahrer würden so erschöpft sein, dass sie ihre Räder kaum noch halten konnten. Molly fragte sich, in welchem Zustand Alex sein würde.
Während sie wartete, schaltete sie den Fernseher im Bus ein.
»Er hat es geschafft. Alexander Duvall vom BeSpoke-Team ist der Gewinner der diesjährigen Tour de France, es sei denn, morgen passiert noch etwas Unvorhergesehenes. Bei der einundzwanzigsten Etappe handelt es sich mehr um ein zeremonielles Rennen, fünfzehn Runden durch Paris, gefolgt von dem Grand Finale auf der Avenue des Champs-Élysées.«
»Ich bin verblüfft«, sagte Eamon. »Duvall hat tatsächlich mit zwei Sekunden Vorsprung gewonnen. Er sorgt besser dafür, dass er morgen auf dem Rad bleibt«, scherzte er. »Aber es ist kein souveräner Sieg, oder?«
Nein, das war es nicht, stimmte Molly ihm zu. Nichtsdestotrotz war es der Sieg, und sie würde sich mit jedem anlegen, der Alex das absprechen wollte.
Sie platzte beinahe vor Stolz und Liebe für ihn. Ihr kam es vor, als seien Monate und nicht Wochen vergangen, seit er in Worcester mit seinem kaum ausgeheilten Handgelenk zu ihr ins Behandlungszimmer gekommen war und ihr erzählt hatte, dass er an der Tour de France teilnehmen würde. Sie erinnerte sich an das ungläubige Staunen auf seinem Gesicht, weil ein Junge aus einem Dorf in den West Midlands an dem berühmtesten Radrennsportereignis der Welt teilnehmen durfte. Sie konnte nur erahnen, was in diesem Moment in ihm vorgehen mochte.
Lauter Jubel brandete auf. Wahrscheinlich war Alex eingetroffen. Als sie aus dem Busfenster spähte, sah sie ihn von Journalisten, Teammitgliedern und den Veranstaltern umringt, außerdem scharten sich jede Menge Fans um ihn. Es war das reinste Chaos da draußen. Alex selbst schien das alles noch gar nicht begriffen zu haben, so wie er aussah.
Einer der Mechaniker trat vor, um ihm das Rad abzunehmen, dann führte Mick Alex zum Turbo. Er war etwas wacklig auf den Beinen. Weder Chuck noch Greg waren zu sehen, stellte Molly dankbar fest, trotzdem verkroch sie sich ins hintere Ende vom Bus und wartete dort, um ihre letzte gemeinsame Physiotherapie zu beginnen.
Es war jedoch nicht Alex, der schließlich die Trennwand zurückschob, sondern Mick. »Hier steckst du also! Ich habe mich gewundert, wo du abgeblieben bist. Alex hat nach dir gefragt.«
»Wo ist er denn?«, fragte sie und sah über Micks Schulter in den vorderen Bereich des Busses.
»Er tritt vor seinem Publikum auf«, lachte Mick. »Der arme Kerl kann es noch gar nicht fassen. Er steht total unter Schock. So wie wir alle. Er wird eine Weile brauchen, da er erst noch aufs Siegertreppchen geführt wird. Hättest du nicht Lust, so lange mit uns anzustoßen? Allerdings gibt es für jeden nur ein Gläschen, wir müssen ja alle noch arbeiten. Außerdem hat Jakob nur Geld für eine Flasche Champagner gehabt. Ich wage zu behaupten, dass heute Abend beim Essen dafür einige folgen werden.«
»Bin gleich da«, sagte sie leise. Molly wollte gerne mit anstoßen – sie waren in den letzten Wochen zu einer richtigen Familie geworden –, aber sie wusste nicht, ob sie das schaffen würde, ohne in Tränen auszubrechen.
»Ich hebe dir ein Glas auf«, versprach Mick. »Oder besser gesagt, einen Pappbecher, aber du weißt schon, wie ich es meine.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal um. »Ach, und bevor ich es vergesse, Chuck hat gesagt, du sollst mit uns im Wagen nach Paris fahren. Heute Abend wird es keine Physiotherapie geben. Henno wird nach den Jungs schauen und dann mit Greg und den Fahrern nach Paris fliegen.«
Oh. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass die Fahrer von hier nach Paris fliegen und der Rest von ihnen mit dem Auto fahren würde. Wie lange brauchte man überhaupt von Semnoz nach Paris?
»Ungefähr sechs Stunden mit dem Auto«, informierte sie Mick. »Wir kommen gegen Mitternacht dort an.«
Dann würde sie Alex später nicht mehr sehen. Ihr letztes richtiges Zusammensein war also vor zwei Tagen auf der hübschen Hotelterrasse in Megève gewesen. Wenn sie nur damals schon gewusst hätte, dass sie keine Chance mehr haben würde, sich von ihm zu verabschieden …
Sie murmelte etwas Unverständliches und drehte sich schnell weg, damit Mick nicht sah, wie ihr die Tränen über die Wangen strömten.