V or 34 Jahren sprach ich zuletzt mit den Toten. Und versprach, es nie wieder zu tun. Ich versprach es Sola, ich versprach es mir selbst, ich versprach es bei allem, was mir heilig war – wobei, was ist einem 13-Jährigen schon heilig, zumal ich nie getauft wurde. Um die Steuer zu sparen, waren meine Eltern längst aus der Kirche ausgetreten. Ich versprach es beim Leben meiner Mutter, bei der Seele meines Vaters, bei meinem Augenlicht, bei Luke Skywalker und bei Yoda, beim Heil aller kranken Kinder der Welt. Für meinen Schwur leckte ich nacheinander an Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger der rechten Hand, schmeckte Erde und meine salzige Ernsthaftigkeit, legte die Finger auf mein Herz und blickte feierlich zwischen den Bäumen hindurch in die Morgendämmerung. Würde ich meinen Schwur je brechen, dürfte ich nie mehr ein Mädchen küssen, sollte die ganze Welt …
»Okay, okay, mein kleiner Affe, schon gut, quel drame ! Das reicht mir.«
Sola hatte die Hände hinter sich ins feuchte Moos gestützt; erschöpft, zitternd und wie ich erleichtert darüber, dass wir noch am Leben waren.
Ihre Beine hatte sie gerade nach vorne ausgestreckt, sie saß mir schräg gegenüber wie eine Marionette aus altem Lindenholz, die nach einer Aufführung beiseitegelegt worden war.
»Genug geschworen. Ich glaub dir.«
Das Weiß in ihren dunklen Augen leuchtete hell inmitten ihres Gesichts. Im Licht des anbrechenden Tages konnte ich erkennen, dass Solas dunkelgraue Jeans und ihr schwarzer Pullover ebenso verdreckt waren wie meine Klamotten. In ihren vielen kleinen Locken hatte sich allerlei Ingreisch aus dem Wald verfangen. Nachdem sie mich kurz angesehen hatte, blickte sie wieder nach oben in den Himmel.
»Regarde , mein kleiner Affe, wie schön, Vénus .«
Ich rückte neben sie, und sie zeigte auf einen leuchtenden Punkt nahe der schmalen Mondsichel.
»Alle glauben, der Polarstern ist der hellste Stern am Himmel. Ganz verkehrt. Vénus leuchtet viel besser, zumindest jetzt, im Sommer. Um diese Zeit im Jahr ist sie ziemlich nah.«
»Wie nah?«, fragte ich.
»Nur so ungefähr vierzig Millionen Kilometer weit.«
Ich hatte lange schon aufgegeben zu fragen, woher sie alles wusste, was sie wusste.
»Sie ist immer allein, weißt du?«
»Die Venus?«
»Oui. Sie hat keinen Mond, der um sie kreist. Und sie hüllt sich in Wolken. So bleibt sie geheimnisvoll.«
Sie neigte den Kopf zur Seite, bis er fast auf ihrer eigenen Schulter lag. Eine Wolke ließ sich vor den fallenden Mond und die Venus wehen. Sola wuschelte mit ihrer rechten Hand über ihre Haare, noch immer war von ihr wenig mehr zu sehen als ein Schatten. Die Wolke zog weiter. Letztes Sternenlicht fiel auf uns. Sie bemerkte meinen Blick.
»Nicht verlieben.«
»Was?«
»Du guckst mich so an. Nicht verlieben.«
»Okay, nee, ich …«
»Ich probiere es auch.«
»Dich nicht zu verlieben?«
»Non, mein kleiner Affe«, sie lächelte. »Nicht verlieben ist kein Problem für mich. Nicht mehr mit den Toten sprechen. Das probiere ich auch. Lassen wir die Toten in Ruhe. Vielleicht lassen sie uns dann auch.«
Ich nickte. Sie hatte immer recht.
Fast gleichzeitig blickten wir auf die beiden Rucksäcke neben uns.
»Was meinst du, wie viel ist es?«, fragte ich.
Für den Gedanken, dass wir jetzt reich waren, hatte ich noch gar keine Zeit gehabt.
Sola zuckte mit den Schultern. Die Leuchtstreifen auf dem Nylon der Rucksäcke reflektierten die ersten Sonnenstrahlen des Tages, die zwischen den Birken hindurch flickerten wie eine Belohnung für die Verabredung, die Sola und ich eben getroffen hatten. Auch wenn uns die Wärme des anbrechenden Tages vor allem daran erinnerte, wie kalt uns war.
»Zwei, drei Millionen vielleicht? Bei großen Summen kann ich so schlecht schätzen.« Sie machte eine Pause, als würde sie doch nachrechnen.
»Hat sich jedenfalls gelohnt.« Und stolz fügte sie hinzu: »Ich muss sagen, ich hab das ziemlich gut gemacht.«
Das Morgenlicht stromerte jetzt in diffusen Strahlen durch verbliebene Fetzen des Bodennebels, der Wald war noch still. Es waren kaum Vögel zu hören. Wir standen auf, versuchten, uns den Dreck von den feuchten Jeans zu klopfen, gaben es gleich wieder auf, rieben unsere nackten Oberarme warm und zerstachen uns die Finger, als wir versuchten, den Eingang zum Stollen wieder mit den Brombeersträuchern zu verdecken. Handschuhe standen auch auf der langen Liste von Dingen, die wir nicht mitgenommen hatten. Zusammen mit Jacken oder wenigstens warmen Pullovern. Und einer zweiten Taschenlampe.
Wir schulterten die Rucksäcke mit dem Geld und wanderten zurück Richtung Nachtigallenschlucht. Der Wald roch angenehm verwildert, nach gefallenem Laub, Morgentau, Moos und frei lebenden Tieren, eine harzige, weltliche Süße, aber er bot uns in diesem Teil keine Wege, wir kamen nur langsam voran. Immer wieder blieben wir mit den Schnürsenkeln unserer Turnschuhe in dornigem Gestrüpp hängen. Ich hatte den Geschmack von Blut im Mund, weil ich an meinen Fingerkuppen lutschte, die von den Brombeerstacheln zerstochen waren. Wir sprachen kaum, und seltsamerweise hatte ich jetzt keine Angst mehr, von den Wachsoldaten entdeckt zu werden, die uns vorher noch gejagt hatten. Ich versuchte, nicht an das zu denken, was wir im Stollen erlebt hatten. Sondern daran, dass wir jetzt reich waren. Es gelang mir nicht. Seltsamerweise konnte ich mir auch das Haus nicht mehr vorstellen, das ich von dem Geld in meinem Rucksack für meine Mutter und mich kaufen wollte. Dabei hatte ich es immer so klar vor Augen gehabt.
Irgendwann erreichten wir wieder den Stacheldrahtzaun, der zwischen mürben Betonpfeilern gespannt war. Die Stempen standen in militärischer Regelmäßigkeit zueinander, immer fünf Schritte eines Erwachsenen zwischen ihnen, jeder Pfeiler vielleicht drei Meter hoch. Sie boten die einzige symmetrische Anordnung im vielgrünen Durcheinander des Waldes. Die obersten Kanten ihres Betons waren leicht geneigt – als wollten sie sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, die ihre Gegenwart verursachte. Wir robbten zurück durch die Lücke im Stacheldraht, durch die wir auch schon gekommen waren. Dann verließen wir das militärische Sperrgebiet, ohne noch einmal auf die Warnschilder zu blicken, die am Zaun hingen.
Bald darauf gelangten wir zurück auf den angelegten Waldweg Richtung Grüner Jäger. Hier konnten wir wieder nebeneinander laufen. Einmal kam mir Sola so nahe, dass ich Gänsehaut bekam, diesmal nicht von der Kälte. Im Gehen griff sie mit der linken Hand nach meinem Kopf und zog mich etwas zu sich, ohne stehen zu bleiben. Weil sie größer war, konnte sie sich über mich beugen. Sie roch an mir. Dann roch sie an ihrem Pullover.
»Wir stinken«, stellte sie fest.
»Ja, das kommt aus dem Stollen.«
»Es riecht wie … salpêtre . Es heißt auch so auf Deutsch?«
»Salpeter? Ja.«
»Mein kleiner Affe – du und ich, wir riechen wie die Teufel.«
Später las ich viel über den Tod. In Trauerreden heißt es, die Toten seien entschlafen – sanft, wenn sie Glück hatten. In Gebeten wird behauptet, sie würden in Frieden ruhen, als wäre der Tod nur eine wohlverdiente Pause nach der Plackerei des Lebens. Steinmetze schlagen euphemistische Auftragslügen in Grabplatten: Die Toten hätten ewige Ruhe gefunden, hic pausat, hic requiescit, hic dormit . Die Apostelgeschichte erzählt, dass der heilige Stephanus erst zu Tode gesteinigt wurde – um nach dieser Folter friedlich zu entschlafen, obdormivit in Domino . Im Buch Daniel des Tanach heißt es: »Viele, die unter der Erde schlafend liegen, werden aufwachen.« Die Letzte Ölung hieß im Mittelalter dormentium exercitium – das »Sterbesakrament der Schlafenden«. Bei Homer langweilen sich die ehemaligen Krieger im Hades, die »im Tode schlafen«. Bei Vergil ist die Unterwelt die »Stätte der schlummernden Nacht und des Schlafes«, immer getaucht in das schimmernde Purpur einer unendlichen Dämmerung.
So unerträglich ist den Menschen der Gedanke an den Tod, dass wir ihn zu einem sanften Schlummer zurechtgedichtet haben, aus dem man jederzeit geweckt werden könnte. So wie die sieben Epheser, die 377 Jahre geschlafen haben sollen, ehe Gott die Ungläubigen beeindrucken wollte und entschied, dass es für die Epheser nun Zeit sei aufzuwachen. Als sie vor den römischen Kaiser Theodosius traten, sprach einer von ihnen: »Siehe, wir sind wahrlich auferstanden und leben, und wie das Kind im Mutterleib keinen Schaden spürt und lebt, so lagen auch wir und lebten und schliefen und spürten nichts.« Glaubt man der Geschichte der Epheser, ist es gar nicht so schlimm, gestorben zu sein. Es tut nicht weh und ist ja nicht für immer.
Was Gott angeht: Zu ihm kann ich nichts sagen, wir hatten keinen Kontakt. Aber dass die Toten ruhen, dass sie ihren Frieden gefunden haben, dass sie ewig schlafen – das ist nicht meine Erfahrung. Nein, ich würde sagen: Die Toten sind alle in der Hölle. Aber diese Hölle ist kein Ort lodernder Feuer und schrecklicher Marter. Es ist viel schlimmer. Nach allem, was ich weiß, ist die Hölle ein Ort unendlichen Wartens auf etwas, das nie kommt. Die Toten stehen in einer Schlange vor einem Laden, der nie öffnet. Sie warten an einer Haltestelle auf einen Bus, der nie fährt. Sie hoffen auf das Urteil eines Gerichts, das nie tagt.
Allerdings gibt es in der Hölle ein Telefon.