I n dem Haus, in dem ich aufwuchs, starben jeden Tag Menschen.
Im Herbst wurden die Großmütter eingeliefert, beim Verräumen der Einmachgläser von Trittleitern gefallen, auf nassem Laub mit dem Fahrrad gestürzt, mit gebrochener Hüfte, mit gebrochenem Oberschenkelhals; tapfere Damen, die Schmerzmittel aus Prinzip verweigerten und dennoch keinen Laut gaben, weil sie noch nie in ihrem Leben gejammert hatten und jetzt nicht damit anfangen wollten. Wer zu Großmutter zum Mittagessen kam, ließ nach der Mahlzeit den Teller stehen, sie würde abräumen, wie sie es immer tat. Ihre stille Beflissenheit wurde für selbstverständlich genommen, außer am Muttertag und zum Geburtstag, zu denen man ihr einen Bund schlafender Tulpen aus dem Supermarkt oder eine Packung »Merci« mit einer zurückhaltenden Umarmung überreichte. Die Geschehnisse hatten sich nie um sie gedreht, jedenfalls nicht so wie jetzt, wo sie von zwei Sanitätern aus dem Krankenwagen getragen wurde. Während die Männer versuchten, die Trage möglichst achtsam aus dem Fahrzeug zu schieben, damit sich das Fahrgestell darunter ausklappen konnte, forderte die Großmutter die beiden auf, sie bitte schön in Ruhe zu lassen, »Geht schon wieder!« und »Ich lauf selbst!« – und wollte damit doch nur sagen, dass sie mit all der Aufmerksamkeit nicht umzugehen wusste, man hatte sich schon so lange nicht mehr um sie gekümmert. Eigentlich noch nie.
Fast war ihr der Schmerz diesen kurzen Moment des Gesehenwerdens wert.
Im Winter kamen die Einsamen, denen die kurzen Tage oder die allzu langen Nächte auf ihren alten Höfen im hinteren Sulzbachtal den letzten Lebenswillen genommen hatten, die windhunddürren Junkies, die in einen der eiskalten Bauwagen der Katholischen Jugend im Wald eingestiegen waren und sich da einen Schuss von überraschend reinem Heroin vom Stuttgarter Hauptbahnhof gesetzt hatten, der beim Tox-Screening Fassungslosigkeit bei den Ärzten hinterließ. Es kamen die psychisch Labilen, die sich für ihre Krankheit so sehr schämten, dass sie nach der ersten Diagnose nie mehr beim Arzt waren, und denen jetzt kaum noch zu helfen war. Es kamen jede Menge Fahranfänger, die vom Technischen Hilfswerk oder der Feuerwehr aus zerquetschten Autowracks herausgeschnitten werden mussten, nachdem sie aus einer vereisten Schwarzwaldstraßenkurve geflogen und gegen eine der zahllosen Fichten gerauscht waren.
Im Frühling kamen die Wasserleichen, mit handtellergroßen Löchern im Kopf, auf glitschigem Uferstein ausgerutscht, und die lautlos Ertrunkenen, denen die Kraft ausgegangen war im Waldsee in Sankt Georgen, zur Unkenntlichkeit aufgedunsen, das Schilf in ihrem Haar glich einer schlechten Perücke.
Natürlich starben nicht alle. Es kamen die Allergiker, die rasselnd nach Luft schnappten oder mit ihren angeschwollenen Zungen unverständlich lallten. Aber nach einem Schuss Epinephrin zum richtigen Moment, 300 Mikrogramm, und einem kräftigen Schluck Fenistil waren sie bald wieder auf den Beinen. Dazu die Mountainbikefahrer, die jammerten immer, mit Schürfwunden, gebrochenen Schlüsselbeinen, zerschmetterten Ellenbogenknochen. Die Handwerker mit abgesägten Fingergliedern, die sie in Beuteln voller Eis mit sich trugen. Die Männer mit ausgeschlagenen Zähnen nach Prügeleien vor den Kneipen der Stadt, dem Zodiak oder der Steige 9, Männer mit Leberzirrhosen, die Opfer von Dachlawinen mit zertrümmerten Knien oder Schulterknochen. Dehydrierte Krebskranke, die oft auf den einsamen Bauernhöfen im Umland von ihren Familien versorgt und zwischen den Jahren vergessen worden waren oder die viel zu spät eingeliefert wurden, weil die Angehörigen Angst vor »Weißkitteln« hatten und vor dem technischen Gerät, das sie nicht verstanden und von dem sie fürchteten, dass sein Einsatz unbezahlbar sei. Manchmal liefen Schulkameraden aus den höheren Klassen an mir vorbei, Pärchen, die ich schon auf dem Pausenhof beim Knutschen gesehen hatte. Jetzt kamen sie im Gleichschritt, gebückt vom Gewicht der eigenen Angst auf ihren Schultern, Arm in Arm, in der Hoffnung, hier irgendwo eine »Pille danach« zu kriegen. Das geplatzte Kondom hatten sie in einer kleinen Plastiktüte dabei – als Beweis dafür, dass sie doch zumindest versucht hatten zu verhüten.
Im Sommer, so wie an diesem Tag, kamen die Motorradfahrer. Viele schrien auf dem kurzen Weg aus dem Krankenwagen bis zu einem der Aufzüge, der sie in den OP -Saal im vierten Stock brachte. Sie schrien nicht vor Schmerz, selbst wenn sie unnatürlich verdreht auf der Liege lagen oder nur noch blutige Stümpfe zu sehen waren, wo ihre Beine gewesen waren. Sie schrien, weil sie wissen wollten, ob jemand ihre Maschine gesehen habe, ob ihre Maschine okay sei, wo man ihre Maschine hingebracht habe, sie hätten ein Recht darauf, zu erfahren, wo ihre Maschine sei. »Ist meine Maschine noch ganz?«
Der Notarzt versuchte, die Unfallopfer mit unbeholfenen Lügen zu beruhigen. »Mit Ihrem Motorrad ist alles in Ordnung, Herr, äh …«
Hilfesuchender Blick zu einem der Rettungssanitäter.
»Wittmann«, ergänzte der.
»Bestimmt alles in Ordnung, Herr Wittmann.«
Wieder ein Blick des Notarztes zum Rettungssanitäter, diesmal verschwörerisch: »Oder, Niklas?«
Und Niklas, der Rettungssanitäter, natürlich: »Hab sie da liegen sehen, Ihre Maschine, Herr Wittmann, sah eigentlich noch gut aus für mich.«
Gute Lügner verpacken ihre Unwahrheiten in so herrlich glitzerndes Silberpapier, dass man sie gar nicht auspacken will. Sie lügen in gelassenem Tonfall, mit vertrauensvollem Blickkontakt, mit beiläufigem Achselzucken. Aber der Notarzt und der Rettungssanitäter Niklas hatten keine Zeit für glitzernde Silberpapier-Lügen. Sie waren damit beschäftigt, Herrn Wittmann auf der Trage und am Leben zu halten, einen zweiten Zugang zu legen und die Cervicalstütze korrekt zu platzieren, damit seine Halswirbelsäule stabilisiert war und er möglichst ruhig lag. Sie logen schlecht, und das merkte auch Herr Wittmann, selbst in seinem Zustand. Also schrie er lauter: Er wolle Antworten, ehrliche Antworten !
Die wollte er natürlich nicht.
Er verlangte nach einer anderen Wahrheit als der Wahrheit. Er verlangte nach einem Zugang zu einer Parallelwelt, die ihm einen Ausweg aus seiner Situation versprach. In der er weiterhin gut gelaunt und nur ein klein wenig zu schnell auf der Landstraße unterwegs sein konnte. Er verlangte nach einer Wahrheit, die ihm erträglich war.
Die Wahrheit, so reimte ich sie mir später aus Bruchstücken zusammen, die ich belauschen konnte: Er hatte sein Motorrad zu Schrott gefahren, als er an seinem freien Tag frühmorgens auf der B 462 etwas zu selbstbewusst einen dunkelblauen Mitsubishi Galant in Richtung Auffahrt zur A 81 überholen wollte und gegen einen entgegenkommenden Sattelschlepper gesteuert war.
Seit dem Zusammenprall blendeten der Schock und die Angst seine Sinne mittagssonnengrell, so sehr, dass er noch keinen Schmerz spürte. Wahrscheinlich wusste Herr Wittmann noch gar nicht, dass er bei dem Unfall beide Beine verloren hatte, obwohl es nicht zu übersehen war. Bestimmt ahnte er auch noch nicht, dass er an diesem Tag sterben würde. Aber weil die eine Tatsache ebenso unfassbar für ihn war wie die andere, ließ sein Verstand in diesem Moment nur die Sorge um sein Motorrad zu, sein vollkommen zerstörtes, sein vollkommen unversehrtes Motorrad, seine Maschine, eine BMW R 100 GS mit 60 PS , auf die er fast zwei Jahre lang wesentliche Teile seines Gehalts als Mechatroniker bei Summer+Lüchtle gespart und die er schließlich für 10 400 Mark gebraucht gekauft hatte, oben auf dem Hardt, von einem Landwirt, der die ängstlichen Blicke seiner Frau nicht mehr aushalten mochte, wann immer er auf das Motorrad gestiegen war. Herr Wittmann, noch keine 31 Jahre alt, verlobt, keine Kinder, hatte zu diesem Moment nur noch etwas mehr als elf Stunden zu leben.
Er schrie aus voller Brust: »Fast zwei Jahre hab ich auf meine Maschine gespart!«
Weil Lügen niemandem weiterhelfen würden und die Wahrheit keine Rolle mehr spielte, schwieg der Notarzt und hängte neben die Jono-Lösung einen HAES -Beutel an. »Schnell, in den Schockraum«, wies er den Sanitäter an. »Die anderen warten schon.«
Bei schlechtem Wetter saß ich drinnen bei den Lastenaufzügen auf einem der Plastikstühle, die ich aus der Cafeteria geklaut und so platziert hatte, dass sie genauso beliebig und nutzlos hingestellt aussahen wie Dutzende andere Stühle im Rest des Hauses auch. Außer mir saß nie jemand auf ihnen. So viele Menschen müssen sich jeden Tag in Krankenhäusern hinsetzen, nie sind ausreichend Sitzgelegenheiten da. Das liegt nicht daran, dass es in Krankenhäusern zu wenig Stühle gäbe. Sie stehen nur immer an den falschen Stellen, weil sie irgendwann einmal anderswo gebraucht oder gedankenlos aus dem Weg geräumt, am Ende eines Flures abgestellt worden waren. Und dort hat man sie dann über die Jahre stehen lassen. Nebensächliches wird an einem Ort, an dem Hauptsächliches verhandelt wird, wie das Leben, wie der Tod, oft ignoriert.
Wenn ich auf einem meiner Stühle saß, legte ich die Füße auf einem der drei Pflanzenkübeln ab, in denen gewaltige Gummibäume steckten. Nie fand ich heraus, ob sie Plastikdekoration oder echte Pflanzen waren, nicht einmal, nachdem ich die Blätter zwischen Daumen und Zeigefinger befühlt hatte.
So gut wie immer trug ich Kopfhörer. Menschen sprechen offen, wenn sie das Gefühl haben, dass man sie nicht hören kann. Mit Kopfhörern wurde ich fast unsichtbar, wo ich sonst nur unscheinbar war. Etwas zu groß für einen 13-Jährigen, aber noch immer halbwüchsig. Ein stiller Junge in billigen Turnschuhen, Jeans, Pulli oder T-Shirt, mit kurzem, struppigem blondem Haar, das ihm die Mutter geschnitten hatte, um den Friseur zu sparen, und einem Schulbuch neben sich. Den man schon öfter gesehen hatte, der ehrlich gesagt fast immer irgendwo im Krankenhaus rumlungerte, üblicherweise aber wie verwachsen mit den Gummibäumen in der Eingangshalle saß, fast schon ein Teil der Einrichtung.
Schaute im Vorbeigehen doch mal einer der vorbeieilenden Ärzte skeptisch, war da immer jemand, der Bescheid wusste.
»Das ist der Sohn von Schwester Ursula, von Intensiv.«
Oder: »Die wohnen hier … Doch, bestimmt schon ein paar Monate … ja.«
Manchmal auch: »Der Vater …« – »Ach so.« Mitleidsblick.
Wenn es draußen warm genug war, wie heute, saß ich auf einer kleinen weißen Steinmauer, die das Einfahrtstor des Notarztwagens mit dem Hauptgebäude verband, trank Topstar-Cola von Aldi aus Plastikflaschen, hatte meinen Atlas vor mir aufgeschlagen und wartete auf das nächste Unglück.
Ärzte und Sanitäter waren bei Einsätzen nie so geistesgegenwärtig, das Einfahrtstor nach ihrer Ankunft wieder zu schließen. Und die Stadtverwaltung hatte zwar Milchglasblenden an der Garageneinfahrt anbringen lassen, nicht aber an den Seitenfenstern, auf die ich von meinem Platz gute Sicht hatte. Auch der kurze Weg Richtung Aufzug war einsehbar, die Fenster ganzjährig gekippt, nur ein paar schwarze Schwalbenschatten klebten schief auf dem Glas, um die Vögel davon abzuhalten, gegen die Scheiben zu fliegen und sich die Flügel oder das Genick zu brechen. Ich hatte einen guten Überblick, konnte so gut wie alles mithören und hatte inzwischen auch etwas Erfahrung.
Meine Beobachtungen notierte ich in einem Schreibheft, das ich mit einem der bunten Plastikumschläge aus der Schule eingebunden und mit »Erdkunde« beschriftet hatte – das langweiligste Unterrichtsfach und dadurch fast eine Garantie, dass niemand darin blättern würde. Ich notierte Namen der Patientinnen oder Patienten, soweit ich sie bei der Einlieferung mithören konnte oder unterwegs im Haus aufschnappte, Namen der Angehörigen, der diensthabenden Ärzte und betreuenden Pfleger, Ankunftszeit, Allgemeinzustand, offizielle Diagnose, die Station, auf die die Patienten gebracht werden würden, die Krankenversicherung – privat oder Kasse? –, eine von mir geschätzte Verweildauer im Krankenhaus und die Mortalitätswahrscheinlichkeit.
Ich notierte, was es bislang zu Herrn Wittmann zu notieren gab:
5. Juli 1991 / Wittmann, männlich
Ankunft 7.12 Uhr
Mot.-Unf. / Polytrauma / Schockraum
Dann klappte ich das Schreibheft zu und packte es in meinen Rucksack. Ich musste mich beeilen, um kurz nach halb acht begann die Schule. Außerdem kamen heute die Franzosen.
Ehe wir ins Krankenhaus umziehen mussten, wohnten wir zur Miete in einem gelben Fachwerkhaus mitten in der Stadt, ein Stockwerk über einem Laden für Wolle und Nähbedarf in der Lauterbacher Straße. Aber irgendwann wurde selbst diese günstige Zweizimmerwohnung zu teuer für meine Eltern. Manchmal kam ein Mann in einem dunkelblauen Anzug zu uns, mit polierten Schuhen und einer schwarzen Aktentasche, darin Papiere und Aufkleber, mit denen er bestimmte, welche Gegenstände uns demnächst weggenommen werden würden, weil meine Eltern wieder irgendwas nicht bezahlt hatten. Meine Eltern boten ihm jedes Mal Kaffee an, ihren kostbaren Kaffee, den er stets freundlich nickend annahm, aber nie trank. Während er sprach, blickten meine Eltern auf seine Tasse und sahen dabei zu, wie der dampfende Kaffee kalt wurde. Nachdem er ein paarmal bei uns gewesen war, hatten wir nicht mehr viel, was sich mitzunehmen lohnte. Den alten Fernseher ließ er uns. Jedes Mal wieder sagte er, halb bedauernd, halb großzügige Geste: »Dieses Gerät darf und will ich nicht pfänden.« Jedes Mal antwortete meine Mutter dasselbe: »Der hat auch nur drei Programme.«
Mein Vater starb, wenige Tage ehe wir aus der Lauterbacher Straße in die Feuchtwengerhöfe umziehen sollten, die Sozialwohnungssiedlung der Stadt. Ich war zwölf Jahre alt. Von hier an flackert meine Erinnerung. Schatten bewegten sich wie Menschen und umgekehrt, Stimmen waren nur noch Geräusche, und was sich wie eine Berührung anfühlte, konnte auch nur der Wind gewesen sein. Ob es immer nur mein eigener Kummer war, mit dem ich lebte, oder auch der eines anderen Jungen aus irgendeinem Film oder irgendeinem Buch, weiß ich nicht mehr zu sagen. Einmal stand der einzige Freund meines Vaters in der Tür, Oberst Knispel. Ein großer Mann mit einer Frisur und einem Schnauzer wie der Fußballnationalspieler Uwe Bein, der nur selten zu Besuch kam, sich aber in unserer Wohnung jedes Mal wieder so selbstverständlich bewegte wie ein bestellter Handwerker. Oberst Knispel hatte angeblich in der Armee der DDR gedient und trug stets eine Pistole in einer kleinen dunkelbraunen Herrenhandtasche bei sich – »Meine olle Dienstwaffe« –, die ich bei jedem seiner Besuche in die Hand nehmen durfte. Ob Oberst sein echter Dienstgrad gewesen war und ob er wirklich Knispel hieß oder ob das ein Spitzname war, erfuhr ich nie. Mein Vater hatte ihn an einem Roulettetisch im Casino in Konstanz kennengelernt und nannte ihn bloß Knispel, meine Mutter sprach nur von »dem NVA rsch«. Ich weiß noch, dass Oberst Knispel bei seinem letzten Besuch mit meiner Mutter an unserem Küchentisch saß, zwischen halb gepackten Umzugskisten, und dass er immer wieder ihre Hand nehmen wollte, während er von einem »großen Ding« erzählte, das er mit meinem Vater ausgeheckt hatte: »Der Oberst und der Archäologe, wir zwei, das wär’s gewesen!« Er hatte Tränen in den Augen, und es schien, als sei er gekommen, weil er Trost brauchte – nicht um ihn zu spenden. Meine Mutter hörte ihm eine kurze Weile zu und zog wortlos immer wieder ihre Hand zurück, wenn er nach ihr griff. Bis er endlich aufstand und ging und nichts hinterließ als den Geruch von kaltem Rauch.
Was ich sicher noch weiß: Nur einen Tag nach dem Tod meines Vaters wurde meiner Mutter durch Vermittlung eines wohlmeinenden Arztes eine der beiden Hausmeisterwohnungen in dem Krankenhaus angeboten, in dem sie schon seit Jahren arbeitete. Eine freundliche Geste der Verwaltung für Krankenschwester Ursula, die trotz des Unglücks mit ihrem Mann und trotz der Belastung mit ihrem Kind immer pünktlich zur Arbeit erschien.
Als wir dann tatsächlich statt in die Feuchtwengerhöfe ins Krankenhaus umzogen, war mein Vater seit drei Wochen tot. Nachts hatten meine Mutter und ich all unsere Sachen verpackt – auch die meines Vaters. »Solange wir an ihn denken, ist er auch noch da«, sagte meine Mutter, mehr zu sich selbst als zu mir. Wir packten seine Kleidung, auch den grünen Strickpullover mit dem roten Bruststreifen, der noch nach ihm roch, seinen einzigen Anzug, seine ausgetretenen Schuhe, die vielen Bücher, die ich ihn nie hatte lesen sehen, die Feuerzeuge aus seinen Hosentaschen, das alte Schachspiel mit den geschnitzten Figuren und dem gelben Mensch-ärgere-dich-nicht-Männchen, das einen weißen Bauern ersetzte, und auch seinen wertvollsten Besitz, den Totenschädel mit den losen Zähnen, an denen ich manchmal wackelte und von dem er mir nie hatte verraten wollen, wie genau er in seinen Besitz gekommen war.
Lang standen wir ratlos vor seinen vielen Aktenordnern, alle ordentlich beschriftet und in zwei Farben sortiert. Die blauen Ordner waren mit Unterlagen seines einzigen Hobbys gefüllt: »Archäologie 1979«, »Archäologie 1980«, »Projekt Keltengrab«, »Archäologie 1986«, »Projekt Limes«, »Projekt Malachit« und so weiter, darin Ausrisse aus Zeitungen und Kopien von alten Landkarten, auf die er gestrichelte Linien gemalt hatte, die bei großen Fragezeichen endeten. Wochenends waren wir zu zweit diesen Karten und dem Goldgräbergefühl meines Vaters gefolgt, meine Mutter war augenrollend zu Hause geblieben. Wir streiften durch die Wälder der Umgebung, buddelten gelegentlich mit Stöcken und den Hacken unserer Schuhe Löcher in den Waldboden, weil mein Vater »so ein unbestimmtes, gutes Ziehen im Bauch« hatte. Nie fanden wir etwas von Wert. Was mein Vater »Archäologie« nannte, war am Ende nur eine Schatzsuche, deren Grundlage historische Werke über die Römer und Kelten waren, die er sich in der Stadtbibliothek ausgeliehen hatte. Wenn ich an unseren Bemühungen zweifelte, wies er mich darauf hin, dass »Schliemann trotz aller Zweifler Troja gefunden hat, nur weil er die Ilias genau gelesen hatte – und das hat ihn sehr wohlhabend gemacht«.
Die schwarzen Ordner, davon gab es viel weniger, waren ebenso sorgsam gekennzeichnet: »Versicherungen«, »Rechnungen«, »Steuer 1987«, »Steuer 1988«, »Bank«, »Pässe u. a.« – aber viele davon waren so gut wie leer, Verwaltungsassistenten eines ungelebten Lebens.
»Die schwarzen Ordner nehmen wir mit. Die blauen schmeißen wir weg«, entschied meine Mutter.
Alles fand Platz in Umzugskisten, die ich auseinanderzufalten lernte und dabei nicht kaputt machen durfte, weil wir sie nur geliehen hatten. Ich wickelte Teller, Töpfe und unsere beiden Pfannen in altes Zeitungspapier, das uns die Nachbarin vorbeigebracht hatte, während meine Mutter überlegte, wo sie die abgekratzten Butterverpackungen verstauen könnte, die sie im Kühlschrank verwahrt hatte. Ein neues Pfund Butter auszupacken hatte für uns immer etwas Feierliches gehabt, so kostbar war es in unserem Haushalt. Eine Art Ritual: Stets hatte sie die Butter vorsichtig auf einen kleinen Teller gestürzt, um sie dann erst mal außer Reichweite zu stellen. Mein Frühstücksbrot wurde mit den Resten geschmiert, die sie mit einem Messer sorgsam von der beschichteten Innenseite der Verpackung kratzte. Und selbst danach war ihr die Verpackung noch kostbar, also faltete sie das Papier zusammen und sortierte es in das Türfach des Kühlschranks, um bei nächster Gelegenheit damit ein Backblech zu fetten. Die Papiere nun wegzuwerfen, war für sie undenkbar. Wir klemmten sie zwischen zwei Teller und verstauten sie in einer der Kisten.
Tagsüber ging meine Mutter zur Arbeit, wie sie es immer tat. Wenn sie zu Hause war, standen nun noch mehr Männer mit Lederschuhen vor der Tür oder in unserer Wohnung, von der Polizei, von einem Bestattungsunternehmen. Ich lief an ihnen vorbei wie durch einen dichten Sandsturm, mit Umzugskisten in der Hand, und hörte nur Satzfetzen, sah nur Ausschnitte eines ganzen Bildes: Hände, Teppichfransen, »Das Auto behalten …«, Anzughosenknie, Ledergürtel, »Den Sterbequartalsvorschuss können Sie nutzen, um …«, Zeitungspapier am Boden, Staubflusen, getrocknete Weberknechtleiber und verloren geglaubte Legoteile in den Ecken meines leer geräumten Zimmers, »Wussten Sie, dass Ihr Mann …«, meine Finger, die sich an den Kanten der Umzugskartons wund rieben. Ich schleppte unsere Sachen die Treppe hinunter in den Hausgang und stapelte sie dort, und als die Männer weg waren, trugen meine Mutter und ich die Kisten gemeinsam zu unserem roten Peugeot 205. Pro Fuhre passten nur drei Kartons in den Wagen, einer in den Kofferraum, zwei auf die Rückbank. Einmal versuchte meine Mutter einen Witz, als wir das Auto wieder vollgeladen hatten und atemlos am Straßenrand standen.
»Na, dabei hätte er jetzt wirklich noch helfen können.«
Mir war, als verwandelte ich mich zu Stein. Als sie meinen erschrockenen Blick sah, begann sie zu weinen. Kein stilles Weinen, sondern ein lautes, verzweifeltes, mitten auf unserer Straße. Sie schluchzte und hustete zugleich, während sie mit der Brust an unserem Auto lehnte, den Kopf gegen das Blechdach gestützt. Ich hatte sie erst einmal in meinem Leben weinen sehen, und das war lang her. Ich ging zu ihr und nahm sie etwas eckig von der Seite in den Arm. So blieben wir, keine Ahnung, wie lange, bis meine Mutter etwas murmelte wie »Geht schon wieder«. Aber es ging noch nicht wieder. Sie griff meine Hand, und wir setzten uns auf den Bordstein. Sie strich mir mit ihrer Hand über den Unterarm, in einer Bewegung von der Ellenbeuge in Richtung meines Handgelenks, dann tat ich es ihr gleich, so wie es beste Freunde in einem Film machten, den wir mal zusammen gesehen hatten.
Ich hätte ihr gern gesagt, wie sehr ich sie liebte. Aber ich sagte nichts. Sie schnäuzte sich.
»Tut mir leid, das war dumm«, sagte sie. »Reden wir lieber nicht von ihm.«
Sie trocknete ihre Tränen. Wir stiegen ein und fuhren los, von diesem Moment an einig darüber, dass wir lieber schweigen wollten über die Geschehnisse, weil der Schmerz sonst bei jedem Wort noch glühender in uns brannte. Es war ein Beschluss, den wir wortlos fassten; ein Vertrag, von uns beiden unterzeichnet mit weißer Tinte. Wir bildeten uns ein, besonders tapfer zu sein in unserer einmütigen Stille, so wie wir auch immer darüber geschwiegen hatten, wie arm wir waren, so wie wir auch immer über jeden anderen Kummer geschwiegen hatten, selbst in den Jahren, in denen wir einander zu Weihnachten nur ausgedachte Geschichten schenken konnten, die wir uns an Heiligabend erzählten.
Irgendwann später hörte ich von japanischen Zen-Buddhisten, die den Begriff »Gaman« verwendeten für das Lebensziel, scheinbar Unerträgliches geduldig und würdevoll auszuhalten. Aber wir schwiegen nicht, um würdevoller zu leben. Wir schwiegen aus Furcht, dem anderen zu dessen Schmerz auch noch den jeweils eigenen zuzumuten. Aber weil jedes Wort der Anfang eines Gesprächs über unseren Schmerz gewesen wäre, sprachen wir so gut wie gar nicht mehr und verschlossen uns voreinander in liebevoller Fürsorge.
Obwohl wir nicht viel besaßen, mussten wir oft fahren. Eine Fahrt dauerte immer nur fünf Minuten: vorbei an der Metzgerei Schmid, am Busbahnhof, dem Schreibwarenladen Glenz, meinem Gymnasium, der Kirche gegenüber, dem Altenstift, dann links in den Parktorweg.
Die Stadt lag wie von der Zeit zusammengequetscht in einem dunkel bewaldeten Tal, schon kurz nach der Mittagszeit verschwand die Sonne hinter den grünschwarzen Fichten, die zu Tausenden ringsum auf den Bergen standen, als würden sie Wache halten. Die ersten Häuser hatte man aus Fachwerk in Schwarz und Weiß in der schmalen Ebene nahe des kleinen Flusses gebaut, und dann, nach und nach, wurde immer dichter und höher und schiefer an die Steigungen des Tales gesiedelt. Im Krieg waren in den Uhrenfabriken der Stadt Bomben und Zünder gefertigt worden, immer wieder war die Stadt deswegen das Ziel von Flugzeugangriffen der Franzosen und Amerikaner – aber die Piloten übersahen das Tal bei jedem Erkundungsflug aufs Neue, so schmal war es, und so traf keine einzige Bombe die Stadt.
In einem heruntergekommenen Park mit rostigem Spielplatzgerät lebten zwei Schwäne in einem Teich, die jeden zu beißen versuchten, der sie füttern wollte. Ringsherum standen mittelalterliche Ruinen auf den Bergen, Burg Schilteck, Burg Ramstein, Burg Falkenstein, Burg Hohenschramberg, Unterkünfte von glücklos marodierenden Raubrittern. Es war die Zeit, in der Frauen noch als Hexen verbrannt wurden.
Kaum einmal kamen Fremde in die Stadt, zu abseits lag sie von jedem Geschehen der Welt. Und wenn doch mal jemand kam, verließen sie die Gegend bald wieder. Fremde wie wir, zugezogen aus einer anderen Stadt, blieben auch nach Jahren noch die »Zugezogenen«. Vielleicht zehntausend Menschen lebten hier, verwoben in einem engmaschigen Geflecht aus gemeinsamem Blut, aus Gewohnheiten und Geheimnissen, und dieses Geflecht war so sorgsam über den Alltag der Stadt gelegt, dass Gäste keinen Zweifel haben konnten, dass es hier wirklich nichts zu sehen oder zu erleben gäbe. Und so schienen die engen Straßen nur aus dem Tal hinauszuführen und niemals hinein.
Ich saß bei jeder neuen Umzugsfahrt auf dem Beifahrersitz und schaute aus dem Fenster, es war, als würde ich alle paar Minuten denselben Kurzfilm sehen. Irgendeinen Gegenstand hatte ich immer auf dem Schoß, einen Topf, der nicht mehr in die Kiste mit den Küchensachen gepasst hatte, die Lampe mit dem eingerissenen Lampenschirm, irgendwas klapperte immer hinter mir auf der Rückbank, Dinge aus einer alten, anderen Welt. Neidvoll hatte ich in Büchern von Kindern gelesen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen. Ich hingegen tat gar nichts dazu oder dagegen, was in meinem Leben passierte. Was geschah, geschah ohne mein Zutun.
Das neunstöckige Krankenhaus hatte man in den 60er-Jahren an einen steilen Berghang gebaut, weil in der Ebene kein Platz mehr war. Eine in zwei scharfen Kurven gewundene, steile Straße führte zu einer Schranke. Jedes Mal wieder mussten wir an der Schranke klingeln und den Pförtner um Einlass bitten. Jedes Mal wieder hörten wir missmutiges Stöhnen durch die Gegensprechanlage. Wenn sich die Schranke schließlich öffnete, konnten wir auf ein schmales Betonplateau vor der Eingangshalle fahren, auf das nur zehn Parkplätze passten.
Wir bezogen die Hausmeisterwohnung, ohne Hausmeister zu sein. Der echte Hausmeister, Herr Finkbeiner, lebte gemeinsam mit seiner geheimnisvollen Ehefrau in einem kleineren Apartment neben uns. Unsere Wohnung sei ihm »zu hell«, erklärte er bei unserem Einzug. Seine Frau habe eine seltene Krankheit und vertrage kein Tageslicht.
Die Wohnung roch nach den Menschen, die vor uns hier gewohnt hatten, nach Salbei und alten Polstermöbeln. Wir hatten vier Zimmer, mehr als jemals zuvor und mehr, als wir mit unseren Sachen füllen konnten. Also bekam mein verstorbener Vater auch einen Raum, das »Arbeitszimmer«, in das wir seine Aktenordner und seine Kleidung verräumten. Obwohl es das kleinste Zimmer war, hallte jedes Mal ein Echo durch den Raum, wenn ich eine weitere Kiste mit seinen Sachen darin abstellte. Zum ersten Mal lebten wir in einer Wohnung mit Balkon. Die Wohnung befand sich in einem Spritzbetonblock unterhalb des Parkplatzplateaus. Wenn ein Krankenwagen auf dem Parkplatz über uns wendete, wackelten die vielen Bücher meines Vaters, die wir im Wohnzimmer einsortiert hatten, wieder aus den Regalen.
Meine Mutter hatte das Ehebett als Erstes aufgebaut und beide Matratzen bezogen. Ehe wir in der ersten Nacht in der neuen Wohnung schlafen gingen, nahm sie mich in den Arm und drückte mich. Die Miete war günstiger als in der alten Wohnung. Ich konnte ihren warmen Atem durch mein T-Shirt hindurch spüren. Heizung und Wasser waren an die Strom- und Wasserversorgung des Krankenhauses gekoppelt und kostenlos für uns.
»Weißt du, was das heißt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das heißt: Hier können wir bleiben«, flüsterte meine Mutter und küsste mein Haar – eine Frau, die immer alles schaffte, aber immer mit allerletzter Kraft. Dann murmelte sie das kurze Gebet aller verzweifelt Hoffenden: »Jetzt wird alles gut.«
Nachts lag ich in meinem neuen Zimmer auf einer Matratze auf dem Boden und betrachtete die savannenfarbene Tapete, auf der exotische Tiere zu sehen waren: lauernde Löwen, stolze Giraffen, Elefanten an Wasserstellen, nervöse Zebras in kleinen Herden, galoppierende Nashörner. Mit meinen zwölf Jahren war ich unentschieden, ob ich die Tapete schön oder peinlich finden sollte, aber wir hatten ohnehin kein Geld für Wandfarbe oder eine neue Tapete, alles blieb, wie es unsere unbekannten Vormieter hinterlassen hatten. Wenn ich die Hand zum Boden ausstreckte, fühlte ich den zu kleinen rauen Knoten gebundenen Teppich, der an meinen Fingerspitzen kratzte.
Kam nachts ein Krankenwagen die Steigung hinauf zu unserem Haus, blendeten seine Scheinwerfer durch die Birke vor meinem Fenster hindurch rauchweiß schweigende Monster und grinsende Feen aus Ast- und Laubschatten an die Decke meines Zimmers. Ich hatte keine Angst. Ich hatte Gesellschaft. Ich war von Geistern umgeben und hatte mit ihnen zu leben.
Der kürzeste Weg in unsere Wohnung führte am Pförtnerhäuschen und den kritischen Blicken des diensthabenden Pförtners vorbei durch die große Empfangshalle, dann eine Treppe hinab ins Untergeschoss, Stockwerk 01. Ich hätte auch einen der beiden Aufzüge nehmen können, aber meine Mutter hatte mich ermahnt, das nicht zu tun, um die Aufzüge nicht für Krankentransporte zu blockieren.
Unten im Stockwerk 01 stand man in einem Vorraum, in den gerade mal so eine uralte grüne Tischtennisplatte passte, an der sich Zivis und Schwestern die Zeit zwischen den Einsätzen vertrieben. Hinter der Platte teilte sich der Weg, ein Schild wies darauf hin, dass es nach rechts zur Leichenhalle ging.
Hatte da mein Vater gelegen, blaugrau gefärbt wie die erkalteten Toten im Tatort ?
Ich ging nach links, durch eine schwere Brandschutztür in den Heizungskeller. Der bestand aus einem langen, schmalen Gang, an dessen Wänden endlos viele Wasser- und Wärmerohre, Druckventile, Messstationen, Kontrollanzeigen angebracht waren. Meine Mutter schärfte mir ein, dass ich niemals – bitte, Mischa, wirklich nie! – die Einstellungen an den vielen Hähnen und Rädern verändern dürfe. Alle Armaturen waren sorgfältig mit Aufklebern und Bleistiftbeschriftung markiert, vor manchen hatte ich weniger Respekt (»Warmwasser Stock 3 West 312–324«), vor anderen mehr (»Hauptstrom Notfall A, OP 1–4«). Die Wände und die Decke waren dunkelgrau gestrichen, der Boden aus hellgrauem, staubigem Beton, Neonröhrenlicht strahlte von der Decke, es roch nach altem Leder und irgendetwas anderem, Beißendem: Äther.
Am Ende des Ganges hatte Herr Finkbeiner seine Hausmeisterwerkstatt, auch hier war alles grau gestrichen. Während der Arbeit trug er einen grauen Kittel, der ihm bis zu den Knien reichte, dazu graue Hosen, sodass er manchmal in seiner Werkstatt kaum zu sehen war, obgleich er mitten im Raum stand. Seine Pupillen waren geweitet, wann immer er mich ansah, so sehr, dass sie seine wirkliche Augenfarbe fast verdeckten – Nachtschattenaugen, die etwas Licht zu sammeln versuchten. Vor seiner Werkstatt standen den Gang entlang defekte Krankenbetten, gebrochene Tropfaufhängungen, zerbeulte Schränke, die scheinbar zur Reparatur gebracht worden waren und doch nur aus dem Weg geschafft werden mussten. Was hier stand, blieb für immer. Herr Finkbeiner mochte es nicht, dass ich den Weg vorbei an seiner Werkstatt ging, deshalb huschte ich möglichst rasch an seiner Tür vorbei. Mit einem kurzen Blick sah ich Werkbänke, auf denen sich kaputtes Zeug stapelte, es lief SWF 3 aus einem Radio, Elmar Hörig machte Witze, es blendete irgendeine Leuchte von der Decke. Fenster hatte seine Werkstatt nicht. Herrn Finkbeiner selbst sah ich nur selten, aber vielleicht war er doch da, und ich bemerkte ihn nur nicht. War ich an seiner Werkstatt vorbei, kam ich durch eine zweite schwere Brandschutztür in ein Treppenhaus zurück in die weiß geflieste Welt. Ein paar Stufen hinab führten zu unserer Wohnung.
Sola stieg als Letzte aus dem Bus, mit dem die französischen Austauschschülerinnen und -schüler zu ihrem Gegenbesuch in unsere Stadt anreisten.
Einige Wochen zuvor hatte ich zehn Tage bei meinem Gastbruder Olivier gewohnt, so nah an der belgischen Grenze, dass das Gelb der Straßenlaternen nachts bis hinüber in die kleine französische Stadt schien. Oliviers Mutter halbierte für uns zum Frühstück ein Baguette, bestrich es mit Butter und belegte beide Teile mit jeweils einer ganzen Tafel Vollmilchschokolade. Weil ich kaum Französisch sprach und Olivier noch weniger Deutsch, beließen wir es bei freundlichen Gesten und spielten Fußball. Aber weil Olivier ständig in irgendwelchen Sportvereinen Training und wenig Zeit für mich hatte, machte er mich mit seinem Nachbarn bekannt, bei dem ich bleiben konnte, während er unterwegs war. Vincent war ein freundlicher Punk mit aufgestellten Haaren und schwarz umrandeten Augen, er wohnte in einem Dachzimmer bei seinen Eltern, seine Matratze lag auf Holzpaletten. In der einen Ecke seines Zimmers lagen Hanteln mit verschiedenen Gewichten, in der anderen Ecke lehnte seine Plattensammlung. Ich kannte so gut wie keine der Bands seiner Sammlung: The Cure, The Smiths, Big Audio Dynamite, The Stranglers, Tuxedomoon, The Clash – »küüle musique« , erklärte Vincent.
Seine Freundin war Sola, sie war schon 17 und das einzige schwarze Mädchen der Gegend. Ganz sicher war sie auch das erste Mädchen, das mich küsste: Jedes Mal, wenn wir uns sahen, küsste sie mich zur Begrüßung, wenn auch nur auf die Wangen, aber dafür dreimal, zum Abschied ebenso. Andere küsste sie auch zweimal, manche viermal, ich kam nie hinter das System, ließ es aber gern geschehen. Sie fuhr eine alte Vespa ohne Helm. Sie rauchte und trug so gut wie immer Schwarz oder wenigstens Dunkelgrau. Wenn sie in ihren Stiefeln die Straße entlanglief, schien es mir, als würde sie zugleich marschieren und schweben, ihren Rücken hatte sie ganz durchgedrückt, sie war schmal wie ein Strich und doch nie zu übersehen.
Ich war es gewohnt, dass mich ältere Mädchen ignorierten. Sola dagegen betrachtete mich wie einen seltenen Vogel – neugierig, obwohl ich nichts von Interesse zu bieten hatte und meistens schwieg. Vielleicht spürte Sola meinen Kummer, vielleicht war ihr Interesse Mitleid. Jedenfalls sprach sie besser Deutsch als jeder andere Franzose und jede andere Französin, die ich traf. Ihr Akzent klang, als hätte sie den Mund voll Zuckerwatte: Jedes »Ich« war ein »Isch«, jedes »Vielleicht« ein »Vielleischt«. Sie las pausenlos Bücher und schien bei Vincent zu wohnen, jedenfalls war sie immer da.
»Tu as l’air triste« , sagte sie zu mir, als wir wieder zu dritt in Vincents Zimmer unterm Dach saßen und Vincent mir anbot, dass ich meine Phil-Collins-Kassette bei ihm lassen könne und er sie mit »küüle musique« überspielen würde. Es lief Lost in the Supermarket von The Clash.
»Wenn ich einen Zirkus hätte, wärst du darin mein Lieblingsaffe«, sagte Sola.
Vincent grinste, ohne dass er verstanden hatte, was sie sagte. Ich lächelte ihr zu.
In der Ecke lehnte ein zerbrochener Spiegel an der Wand neben Vincents LP s.
Als ich Sola fragte, warum der Spiegel kaputt sei, antwortete sie auf Englisch: »I like it that way. It makes me look the way I feel.«
Sie schaute mich einen Moment lang an, als hätte sie einen Witz erzählt, dessen Pointe ich nicht verstand.
»Das ist aus einem Film, mein kleiner Lieblingsaffe.«
Ich kannte den Film nicht.
»Shirley MacLaine?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Mon Dieu , was machst du mit deinem Leben? Wir müssen viel gucken.«
Sola ging in dieselbe Schule wie Olivier, war aber vier oder fünf Klassen über ihm. Wenn ihr was nicht passte oder ihr langweilig war, blies sie die Backen auf. In der Sonne glitzerte ihre schwarze Haut, als wäre sie mit winzigen Diamanten besetzt. Ihre rechte Hand zitterte gelegentlich, und wenn sie leichte Dinge in der Hand hielt, eine Tasse, einen Stift, eine Schallplatte, wackelten auch die. »Un tic« , erklärte sie. »Gehört zu mir. Manchmal ist er da, manchmal ist er weg.« Wenn sie sprach, war sie laut und bestimmt und leuchtend schön, aber meistens schwieg sie und schaute mir mitten ins Herz, dann war sie noch schöner. Alle fanden sie schön. Immer wieder erklärte sie, wie froh sie um ihre schiefe Nase sei, die nur sie selbst schief fand.
»Ich wollte nie eine andere Nase! Sonst wäre ich ja richtig schön. Mit der Nase bin ich erträglich hübsch. Noch hübscher wäre nur Ärger.«
Natürlich gefiel sie mir von Anfang an, aber eher wie ein Bild in einem Museum, das man nicht anfassen darf, weil sonst die Alarmanlage losgeht. Und das man eigentlich auch gar nicht anfassen mag, weil es bitte genau da bleiben soll, wo es ist. Außerdem mochte ich Vincent, auch wenn er kaum etwas sprach.
So saßen wir meistens schweigend zusammen und hörten Musik, die ich nicht kannte und die entweder sehr traurig oder sehr wütend klang, und die beiden gaben mir das Gefühl, dass ich nichts tun oder sagen musste, um dazuzugehören.
»Vincent, tu m’aimes?« , fragte sie gelegentlich.
»Tu es la plus belle du monde« , antwortete er immer gleich.
Und auch ihre Antwort darauf war immer dieselbe: »Ah, tu me parles avec des mots et moi je te regarde avec des sentiments.«
Jedes Mal küssten sie sich danach und lachten, ohne dass ich verstand, wieso. Aber sie schienen glücklich, und wenn sie sich küssten, hielt Sola Vincents Gesicht in beiden Händen. »Eine gute Kuss braucht zwei Hände!«, erklärte sie mir.
Ich hatte lange keine glücklichen Menschen gesehen.
In diesem Bus, der pünktlich zu unserem Unterrichtsende aus Frankreich bei uns auf den Schulhof aufgefahren war, hatte Sola überhaupt nichts verloren. Es stellte sich heraus, dass Olivier, mein Gastbruder, keine Lust auf die Reise zu mir nach Deutschland gehabt hatte und dass sich Sola als Ersatz für ihn und als Unterstützung für die mitgereisten Lehrerinnen angeboten hatte. Eigentlich war es undenkbar, dass ein Mädchen bei einem Jungen als Austauschkind unterkam – aber offenbar erschien es sowohl den deutschen als auch den französischen Lehrerinnen und Lehrern absurd, dass zwischen dieser 17-Jährigen und dem verhuschten 13-Jährigen irgendetwas Ungehöriges passieren könnte. Sie wurde mir von meiner Französischlehrerin mit einem Schulterzucken als Ersatz für Olivier zugeteilt.
Sola stand vor mir, nur mit einer kleinen Nylontasche als Gepäck. Sie lächelte.
»Mein kleiner Affe!«
Um mich herum fassungsloses Raunen meiner Klassenkameraden.
Dann umarmte sie mich und küsste mich dreimal auf die Wangen. Links, rechts, links.
»Ich bin hier mit dir. Schöne Grüße von Vincent. Er hat dir ein neues Tape gemacht, Maxell Gold, neunzig Minuten, mit viel von The Smiths, kennst du nicht, aber magst du. Bigmouth Strikes Again ist küül. Und Asleep .«
Sie überreichte es mir.
»Ich wohn bei dir.«
Was würde meine Mutter sagen?
»Okay«, sagte ich.
»Aber ich brauch ein Zimmer für mich. Und da geht nichts zwischen uns, d’accord ?«
Ich nickte.
Vor nichts auf der Welt haben 13-jährige Jungs mehr Angst als vor hübschen 17-jährigen Mädchen. Die sind erwachsen genug, kaltblütig genug und verschlagen genug, um dir jederzeit das Gefühl geben zu können, dass du absolut ahnungslos bist. Oder noch schlimmer: Luft. Aber sie sind zugleich noch jung genug, um auf absurde Weise erreichbar zu erscheinen. Man traut sich, sich Chancen auszurechnen, selbst wenn man eigentlich weiß, dass man keine hat. Das ist fatal.
Sie grinste, als könnte sie meine Gedanken lesen.
Noch mehr Raunen hinter mir. Troppi, einer der Jungs aus meiner Klasse, rief: »Oh, là, là, Bussi, Bussi von Black Beauty!«
Sola kniff die Augen zusammen und schaute zu Troppi.
»Ah, oui , dich kenn ich doch von eurem Besuch bei uns! Gut, dass ich dich wiedersehe. Ich hatte ganz vergessen, wozu ich meinen Mittelfinger hab. Jetzt weiß ich wieder.«
Sie hob langsam ihren Mittelfinger in seine Richtung.
Alle lachten. Sola schaute Troppi herausfordernd in die Augen.
»Hast du Probleme damit, wie ich ausseh? Oder bist du nur neidisch, weil ich ihn küsse und dich nicht?«
Alle hörten auf zu lachen.
Troppi verzog entschuldigend das Gesicht, blieb aber stumm.
»Violon de cul«, rief Sola in seine Richtung. Sie schaute ihn immer noch an.
Dann drehte sie sich zu mir und hakte sich bei mir unter. Sie roch nach gesalzenen Erdnüssen. Wir verließen den Schulhof.
»Was heißt Violon de cul?«, fragte ich leise.
»Arschviolin. Sagt man das nicht so?«
Ich grinste. »So ungefähr. Was ist mit Olivier?«
»Ich habe ihm gesagt, er soll keine Lust haben. Aber schöne Grüße von ihm.«
Meine Mutter war noch im Dienst. Auf dem Küchentisch klebte ein gelber Post-It-Zettel: »Salut Olivier!« Und darunter: »Lieber Mischa, machst du Essen? Küsse, Mama«. Ich nahm den Zettel an mich, ehe Sola ihn sehen konnte, und zeigte ihr die Wohnung – das Wohnzimmer, die Küche, mein Zimmer, die Tapete war mir jetzt plötzlich doch peinlich. Am Schlafzimmer ging ich vorbei, ohne die Tür zu öffnen, und führte Sola ins Arbeitszimmer, das wir eigentlich für Olivier vorbereitet hatten. Es stand nicht viel darin: die Umzugskisten mit den Sachen meines Vaters, eine Kleiderstange, die zur Hälfte frei war, ein kleiner Tisch mit einer Lampe darauf, davor einer unserer Küchenstühle. Ein tragbarer Radiorekorder mit Doppelkassettenfach, der meiner Mutter gehörte. Eine Matratze aus dem Ehebett meiner Mutter hatten wir als Gästebett auf den blanken Boden gelegt, aber ich hatte sie immerhin schon bezogen.
Durch das Fenster konnte Sola ins Tal schauen. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich ihr erklären müsste, dass sie auf der Matratze meines verstorbenen Vaters schlafen würde. Ich ließ es bleiben.
»Très joli« , sagte sie. »Alles da, was ich brauch.«
»Ja, nur kein Telefon.«
Mir fiel auf, dass ich sie immer nur bei Vincent gesehen hatte und nichts über ihre Eltern oder ihr Leben wusste.
»Kein Telefon?«, fragte sie.
»Tut mir leid. Die Wohnung gehört zum Krankenhaus. Auch die Patientenzimmer auf den Stationen haben keins. Wenn du telefonieren willst, musst du in die Empfangshalle gehen, da ist ein Münztelefon.«
Nicht irgendein Münztelefon, dachte ich. Aber ich sagte nichts.
Sola zuckte mit den Schultern. »Pas de problème . Dann hab ich Ruhe. Vielleicht geh ich nachher Vincent anrufen.«
»Magst du was trinken?« Ich wollte ein guter Gastgeber sein, aber außer Leitungswasser hatten wir nichts im Haus.
» Du rouge?«
»Rotwein? Ich, äh, weiß nicht. Nee. Darfst du schon trinken?«
Ein verständnisloser Blick von ihr. »Bien sûr. Ich darf alles.«
Aber wir hatten keinen.
Ich versuchte, einen guten Eindruck zu machen, und kochte zwei Packungen Miracoli-Spaghetti für uns. Als meine Mutter von der Spätschicht nach Hause kam, rührte ich gerade die graugüne Gewürzmischung in die Tomatensoße. Meine Mutter trug noch ihren Stationszweiteiler aus dunkelblauem Stoff, sowohl auf ihrer Hose als auch ihrem Hemd waren getrocknete Blutflecken. Vielleicht war wieder jemand gestorben. Vielleicht hatte sie wieder ein Leben gerettet. Manchmal vermochte sie nach der Arbeit kaum noch die Arme zu heben, weil sie minutenlang einen Patienten reanimiert hatte. Vielleicht arbeitete sie so viel, weil die existenziellen Katastrophen in ihrem Arbeitsalltag all ihren eigenen Schmerz relativierten. Vielleicht war die stoische Ruhe, mit der sie ihren allgegenwärtigen, tinnituspfeifenden Gram schulterte, auch gar Zeichen der Stärke – vielleicht hatte sie nur einfach akzeptiert, dass das Unglück viel mehr Fantasie hat als das Glück.
Dass sie nun statt Olivier einem fast erwachsenen Mädchen gegenüberstand, konnte unmöglich das Seltsamste sein, was sie heute erlebte. Sie blieb in der Wohnzimmertür stehen, als sie Sola sah. Die Erschöpfung in ihrem Gesicht wich einem anderen Ausdruck, den ich nicht einordnen konnte. Erstaunen war es nicht. Entsetzen auch nicht. Sie sah überrascht aus, aber anders als sonst, eher wie jemand, der überraschend einer Bekannten von früher begegnet. Sie schaute zu mir.
Immer noch dieses seltsame Gesicht. Freute sie sich?
Sola ging auf sie zu und reichte ihr die Hand.
»Madame, ich bin Ersatz für Olivier. Sicher ein bisschen komisch. Ich hoffe, es ist gut, dass ich hier bin, auch wenn ich etwas älter bin und ehm … eine Frau. Ich wurde eingeladen von der Schule, und ich soll mich kümmern um Mischa, aber auch um die anderen.«
Weil meine Mutter kein Französisch sprach, hatte sie sich vorab allerlei Sorgen gemacht, wie sie sich mit Olivier unterhalten könnte. Vielleicht war sie deshalb so erleichtert. Vielleicht war es auch nur die Erschöpfung am Ende des langen Tages.
»Alles kommt immer anders, nicht wahr? Schön, dass Sie hier sind, äh … Sola?«
»Oui, Madame . So heiß ich.«
»Sie sprechen ja sehr gut Deutsch … sind Sie Französin?«
»Belgierin. Eigentlich komm ich aus die République Zaïre. Da bin ich geboren.«
Das hatte ich nicht gewusst.
»Aber ich lebe schon eine ganze Weile in Frankreich.«
»Und Ihre Eltern haben Sie Sola getauft?«
»Getauft bin ich nicht. Mes parents … richtig heiße ich Melika Solamon Amboulou. Melika heißt ›Engel‹, das hat meinen Eltern gefallen. Und sie mochten sehr die Musik von Solomon Burke, deshalb ist mein zweiter Name ähnlich wie Solomon. Kennen Sie seine Musik? Vielleicht Everybody Needs Somebody to Love ?«
Meine Mutter schüttelte den Kopf.
»Cry to Me ? If You Need Me ?«
Meine Mutter hob entschuldigend die Hände und blickte zu mir.
Sola sah zu mir. »Got to Get You off My Mind ?«
Ich schüttelte auch nur den Kopf. Nie gehört.
Sola zuckte lächelnd mit den Schultern.
»Er singt sehr schön. Ich spiel Ihnen mal was vor. Ich bin froh, dass ich heiße wie er. In dem Jahr, in dem ich geboren bin, hat Mohamed Ali in meinem Land geboxt, und fast hätten sie mich Ali genannt. Aber dann war die Musik wichtiger als Kämpfen. Und aus Solamon wurde Sola bei allen. Sie können aber auch Melika sagen, pas de problème .«
Meine Mutter nannte sie Sola, wie ich auch. Aber sie siezte sie auch in den nächsten Tagen.