N adine war nicht in der Schule.

Die anderen sahen mich schon wieder so fragend an, als ich ins Klassenzimmer kam. Inzwischen hatten alle mitbekommen, dass ich während der Schnitzeljagd beim Geburtstagsfest mit Nadine allein in einem Zimmer gewesen und ihr Großvater zu uns gestürmt war – ohne Hose und offensichtlich wütend auf mich. Außerdem sah ich wahrscheinlich so müde aus, wie ich war, hatte drei verpflasterte Finger und seltsamerweise einen Pulli an, obwohl es ein warmer Vormittag war. Hätte ich nur ein T-Shirt getragen, wäre mein Verband am Arm aufgefallen.

Niemand sprach mich an. Alle wussten, dass ich nur ungern redete. Offenbar hatte noch niemand mitbekommen, dass Nadines Opa am Sonntag gestorben war. Also einfach eine Doppelstunde Deutsch.

Die französischen Gastschüler, die sich neben und zwischen uns in den Klassenraum gequetscht hatten, guckten Löcher in die Luft oder schickten sich kleine Nachrichten. Sola nahm für sich in Anspruch, eher Betreuerin als Mitschülerin zu sein, und schlief sich bei mir zu Hause aus. Irgendwann landete ein kleiner Brief von Turo bei mir:

Die Verletzung an der Hand, war das der Alte? Tut’s weh?

Ich sah zu ihm rüber und schüttelte mit dem Kopf. Mit einer Geste zeigte ich ihm, dass alles okay sei.

Er nickte.

Dann wieder Steppenwolf . Ich las:

» … Ein Friedhof war unsre Kulturwelt, hier waren Jesus Christus und Sokrates, hier waren Mozart und Haydn, waren Dante und Goethe bloß noch erblindete Namen auf rostenden Blechtafeln, umstanden von verlegenen und verlogenen Trauernden, die viel dafür gegeben hätten, wenn sie an die Blechtafeln noch hätten glauben können, die ihnen einst heilig gewesen waren, die viel dafür gegeben hätten, auch nur wenigstens ein redliches, ernstes Wort der Trauer und Verzweiflung über diese untergegangene Welt sagen zu können, und denen statt allem nichts blieb als das verlegne grinsende Herumstehen an einem Grab.«

Aber was, dachte ich, wenn eben doch nicht alles endet, während man an diesem Grab steht?

Von den Toten lernte ich, dass die Menschen nicht klüger werden, wenn sie gestorben sind. Dass die Bösen nicht gut werden, die Guten nicht mehr böse. Dass die Dummen dumm bleiben. Die Klugen klug. Dass sie gewissenlos egoistisch werden in ihrem Verlangen, ihre Botschaft zu überbringen – aber möglicherweise ist Egoismus verzeihlich, wenn man nur noch sich selbst hat. Dass die Toten sich nicht für den Menschen interessieren, dem sie ihre Nachricht übermitteln. Dass sie manchmal sehr lang und manchmal so gut wie gar nicht warten müssen, ehe sie anrufen können, dass Zeit für sie keine Rolle spielt, obgleich sie noch immer spüren können, dass sie vergeht. Dass es für sie keine Gewissheiten gibt und keine Gesetze, dass sie sich auf nichts verlassen können, dass sie niemanden mehr haben, dass der Tod endgültig zu sein scheint und dennoch kein Ende hat. Dass es keine Rolle spielt, ob ihre Aufträge erfüllt werden oder nicht, dass es keine Beschwerden gibt und auch keine Strafe droht, wenn ihre Aufträge von mir nur schlecht oder gar nicht erfüllt wurden. Dass auch in ihrer Welt Zufall und Chaos herrschen und dass niemand eingreift, niemand mitzählt und sich niemand sorgt.

Außer mir.

Herr Berger, 41 Sekunden, der fünfte Anruf. Der sich wünschte, ich solle zu seiner Beerdigung gehen, damit wenigstens einer bei ihm sei. Dabei war die Beerdigung längst vorbei. Ihm konnte ich nicht helfen.

Sabrina, die jünger war als ich, 1 Minute 14 Sekunden, der achte Anruf, die mich bat, einen Drachen für ihre Schwester zu bauen, sie hatte ihn ihr versprochen und konnte ihr Versprechen nicht mehr halten. Ich baute den Drachen.

Herr Czerni, dessen Namen ich kaum verstehen konnte, zwei Minuten, der 17. Anruf, der mich bat, seiner Frau von der Formel zu erzählen, die ihm nach seinem Tod eingefallen sei und die das Energieproblem der Menschheit lösen würde. Ich notierte die Formel, so gut ich konnte, und schickte sie anonym an die Stadtwerke und die Lokalzeitung der Stadt.

Frau Czerni, die nur eine Minute nach ihrem Mann anrief, 39 Sekunden, der 18. Anruf und das einzige Mal, dass das Telefon zweimal hintereinander klingelte, die an einem Herzanfall gestorben war, als sie ihren Mann tot im Garten gefunden hatte, wo er sich, wie auch immer, selbst mit einer Sense erstochen hatte. Sie erteilte mir keinen Auftrag, sie wollte nur wissen, ob ihr Mann noch lebe. Ich antwortete ihr, dass ich ihn eben gesprochen hatte, aber war mir nicht sicher, ob sie mich hören konnte. Sie fragte immer weiter: »Wo ist er? Wo ist er denn?« Und dann: »Hier ist er nicht. Hier ist niemand.«

Ein Kleinkind rief an, 14 Sekunden, der 31. Anruf. Es konnte noch nicht sprechen. Ich konnte nichts für das Kind tun.

Ein alter Mann, der 32. Anruf, 19 Sekunden, der mich auf ein Postschließfach hinwies, aber nicht dazusagte, wo er den Schlüssel versteckt hatte. »Ich kann Sie nicht hören! Wieso sollte ich Ihnen trauen?« Als er verlangte, seine Tochter zu sprechen, war seine Zeit um. Ich konnte nichts für ihn tun.

Manche von ihnen hatte ich noch lebend gesehen, verdreht vor Schmerz oder auch gleichmütig schweigend, als sie auf einer Trage aus einem Krankenwagen ins Haus geschoben wurden. Die wenigsten wurden gleich auf die Station meiner Mutter verlegt, bei manchen hatte ich Angehörige klagen oder lästern gehört, auf der Station, im Aufzug, auf dem Parkplatz. Manche blieben stumm bis zum Ende. Zu manchen hatte ich viel notiert, zu anderen gar nichts. Eine verlangte nach einem Schluck Wasser für ihren ausgetrockneten Mund, sonst wollte sie nichts, es war die 34. Anruferin. Sechs Sekunden. Einer verlangte nach Gott, 16 Sekunden, der 45. Anruf. Beiden konnte ich nicht helfen.

Mein Vater hatte sich im Wald erhängt, mit dem Abschleppseil aus unserem Auto und an einem alten Eisenring, der aus dem Mauerwerk oben bei der Burg Falkenstein ragte. 17 570 andere Menschen haben sich im selben Jahr in Deutschland umgebracht, 11 796 davon Männer.

Warum töten sich Männer öfter als Frauen?

Meine Mutter erzählte mir, dass er immer wieder versucht hatte, im Casino beim Roulette Geld zu gewinnen. Und dass er stattdessen das wenige, was wir noch hatten, verlor. Irgendwann lieh er sich Geld von Freunden, dann von der Bank. Ich wusste, dass er schon lange Zeit immer wieder »spielen« ging, es klang harmlos, wie ein Hobby, so wie andere Väter zu Proben ihres Musikvereins gehen oder zum Handballtraining. Abends band er sich eine Krawatte um, dann tauschten meine Mutter und er seltsame Blicke im Gang, bis sie ihm zögernd Geld aus ihrer Börse gab und ihn bat, mit »mindestens der Hälfte« zurückzukommen.

Er sah sie immer so bittend an, ein großer, kleiner Mann, bis er das Geld in Händen hielt. Sie zählte ihm die Scheine einzeln auf die Hand, als würde sie sich von jedem einzeln verabschieden. Erst drei, dann zögernd noch ein vierter Schein, zwei blaue, zwei braune. Mit dem Geld in der Hand wandelte sich sein Gesichtsausdruck, er schien zu wachsen, ein kleiner, großer Mann, selbstbewusst, siegesgewiss, ein Soldat, der die richtigen Waffen zur Hand hat und zu wissen glaubt, wie man sie benutzt.

Ich erinnere mich, wie er eines Abends nach Hause kam und ich von seinen Rufen geweckt wurde. Er wedelte schon in der Wohnungstür mit einem Bündel Geldscheine, Scheine mit alten Männern drauf und Zahlen, die ich noch nie auf Geld gedruckt gesehen hatte. Ich verstand nicht, was los war, aber ich verstand, dass etwas Gutes passiert sein musste, denn ich sah meine Mutter und das Strahlen auf ihrem Gesicht, sie wirkte nicht nur erleichtert, sondern leicht. War es möglich, dass sie gleich durch das Zimmer schweben würde? Absolut. Sie schwebte zu meinem Vater, der breitbeinig im Flur stand wie ein Räuberhauptmann, der nach einem fetten Beutezug zurück nach Hause kam, sie schnappte mich im Vorbeischweben mit dem linken Arm und küsste meinen Vater auf den Mund, wir jubelten, sie presste mich zwischen sich und meinen Vater, sie flüsterte »Jetzt wird alles gut« in sein Ohr, laut genug, damit ich es hören konnte. Auf meiner Backe spürte ich seinen groben Anzugstoff und roch seine Erleichterung und den Schweiß unter seinen Armen, vermischt mit Pitralon. So roch von nun an Hoffnung für mich. So was vermochte Geld.

Zwei Tage später zog er wieder los, im selben Anzug, mit derselben Krawatte und der unerbittlichen Ignoranz des Süchtigen in seinem Gesicht. Diesmal holte ihn Oberst Knispel ab, und sie verließen die Wohnung gemeinsam. Nachts wachte ich auf und fand meine Mutter weinend in der Küche, mein Vater war noch nicht zurück. Ich setzte mich zu ihr, auf ihren weichen Schoß, und streichelte sie am Arm. »Er hat alles mitgenommen«, sagte sie irgendwann. Ich schlief in ihren Armen ein und wachte in ihren Armen wieder auf, als mein Vater gegen drei Uhr morgens nach Hause kam, nüchtern, Alkohol war nicht sein Problem. Das Geld, das er vor zwei Tagen gewonnen hatte, war verloren, er gestand, er sei schon seit Stunden zurück, habe aber im Auto vor dem Haus gesessen und sich nicht zu uns zurück getraut. Niemand suchte Trost, niemand tröstete, niemand machte Tee, niemand sprach. Ich fühlte seine Enttäuschung und seine Wut auf sich und die Welt durch meine Müdigkeit hindurch, beides erfüllte den ganzen Raum. Ich war mir nicht sicher, was ihn mehr schmerzte: das Geld verspielt zu haben oder dass er sich nicht wieder einen Heldenempfang wie zwei Tage zuvor verdient hatte. Ich fühlte Schuld, weil ich mich vor zwei Tagen so mit ihm gefreut hatte, dass er sich diese Freude offenbar noch einmal verdienen wollte. Und ich war mir nicht sicher, wonach er sich mehr gesehnt hatte: nach einem weiteren Batzen Geld oder einem weiteren Batzen Anerkennung von uns.

Die Toten machten mir keine Angst. Die fremden Stimmen am Telefon waren unheimlich, das schon. Ihre eiligen Befehle, die keinen Widerspruch zuließen und auch keinen Zweifel, dass ihre Aufträge ausgeführt werden müssten, ließen mich nervös zurück. Aber weniger aus Furcht. Eher vor Aufregung.

Wenn so viele anriefen – warum nicht auch er?

Vielleicht hätten wir ein paar Sekunden.

Vielleicht würde er mich hören.

Ich könnte ihm erzählen, wie gern ich mich an die Pfannkuchen erinnerte, die wir sonntags gemeinsam gebacken hatten. Du und ich zusammen, Papa, weißt du noch? Wie der Teig Blasen warf, wenn wir die Pfanne ausnahmsweise gebuttert hatten, und dass wir die Blasen mit einem großen Holzlöffel flach drückten. Wie dabei manchmal ein Ton entstand, ein warmes, weiches Pfeifen, das mich immer zum Staunen und dann zum Lachen brachte, und weißt du noch, wie wir das nannten? Ja, Pfannkuchenmusik. Oder wie wir nach deinen Schätzen im Wald gesucht haben, du mit deinen selbst gemalten Karten in der Hand, und wie du irgendwann eine Stelle benannt hast, hier muss es sein, und dass wir nie eine Schaufel bei uns hatten, weil wir uns keine leisten konnten, und wie wir mit den Händen gruben, bis wir irgendwann aufgeben mussten, und wie du sagtest: »Aber wenigstens haben wir es versucht.« Und wie wir auf dem Weg zurück zum Auto Verstecken spielten und wie das gefallene Laub unter meinen Schritten raschelte und die kleinen Äste knackten und wie dein dicker Bauch immer hinter einem der Baumstämme zu sehen war, hinter denen du dich versteckt hattest.

»Warum hast du so einen dicken Bauch?«, hab ich dich mal gefragt.

Du hast gelacht. »Weil ich so viele schöne Erinnerungen mit Mama und dir habe, dass sie alle gar nicht mehr in meinen Kopf passen, deshalb hab ich sie hier rundrum am Bauch untergebracht. Da sind sie sicher.«

Irgendeine Frau von irgendeinem psychologischen Notdienst hatte sich in der Schule mal neben mich gesetzt, weil ich kaum mehr sprach. Sie erklärte mir, dass ich traurig sein dürfe, so lange ich wolle. Und dass das Gefühl vielleicht nie mehr weggehen würde. Die Trauer sei nun wie ein zusätzliches Zimmer in meinem Kopf, in das ich jederzeit gehen könne. Es sei sogar gut, wenn ich immer mal in diesem Zimmer vorbeischauen würde. Ich solle nur darauf achten, das Zimmer auch wieder verlassen zu können. »Die Tür sollte nicht zufallen.«

»Aber was, wenn jemand die Tür zugeschlossen hat?«, fragte ich.

Sie schaute besorgt und versuchte, meine Hand zu ergreifen. Ich zog sie weg.

»Es ist ein Zimmer in deinem Kopf, Mischa. Niemand kann es abschließen außer dir selbst.«

Das Buch lag aufgeschlagen vor mir auf dem Waldboden, gleich neben dem Loch, das ich dafür gegraben hatte, daneben 28 000 D-Mark in Tausenderscheinen aus dem Umschlag, auf dem Hotel Hilton Wien stand, und die ich mit einem Stein beschwert hatte. Darf man im Hochsommer ein Buch im Wald verbrennen? Oder brennt dann gleich der ganze Wald?

Als es zu dämmern begonnen hatte und meine Mutter zum Dienst marschiert war, hatte ich mich wieder auf den Weg gemacht.

Das Loch hatte ich mit einem Schöpflöffel aus unserer Küche gegraben, eine Schaufel besaßen wir nicht. Anderes Gartenwerkzeug auch nicht, wir hatten ja auch keinen Garten.

Sola schlief schon. Sie hatte mich kein einziges Mal zu unserem Einbruch in der vergangenen Nacht befragt – und sie wollte auch nicht wissen, was wir gestohlen hatten.

Ich hatte zuvor erst einmal in meinem Leben einen Tausendmarkschein in der Hand gehabt. Als mein Vater damals damit aus der Spielbank kam. Ich wusste immer noch nicht, wer der Mann mit Glatze auf den Geldscheinen war. Die Scheine fühlten sich glatt und wuchtig an. Sie stellten Unvorstellbares dar. Auf Papier gedruckte Möglichkeiten. Einen Ausweg. Sorglosigkeit. Schutz. Glück.

Sie waren mir unheimlich.

Das Buch war eine Art Fotoalbum.

Ich schaute es mir mit unserer Taschenlampe an, während ich auf dem Waldboden saß. Es waren Fotos nackter Menschen darin, die Dinge machten, die ich noch nie gesehen hatte, die ich mir nicht einmal hätte vorstellen können, die ich auch nicht für denkbar gehalten hatte. Zwei Männer, die eine blonde, nackte Frau begafften, in einer Hand hielt sie eine Peitsche. Eine Frau, die ihren Rock gerafft hatte, über einem Mann stand und ihm auf den Bauch pinkelte. Alle Frauen hatten stark geschminkte Gesichter, lange blonde oder lange rote Haare, die aussahen wie Perücken. Sie schienen zu lachen, aber jedes Lachen wirkte verrutscht. Ich blätterte erst zögerlich weiter, dann immer rascher. Die Männer hatten dunkles Haar auf dem Rücken und den Oberarmen, sie machten große Augen, ihre Lippen glänzten, als hätten sie sich alle kurz vor dem Foto mit der Zunge darübergeleckt. Auf einem Bild war der Vater von Dr. Wolfram zu sehen, auch nackt, er war an ein Holzkreuz geschnallt, eine blonde Frau in einem langen weißen Kleid hielt eine brennende Kerze über seinen steifen Penis, es sah aus, als würde sie Wachs darauf tropfen lassen. Auf anderen Bildern waren Menschen beim Sex auf Sofas, auf Toiletten oder im Wald zu sehen, verdreht und verquer, hinter- und übereinander, die Köpfe der Personen waren mit krumm ausgeschnittenen Gesichtern überklebt, meist mit den Gesichtern von Schauspielerinnen, Tagesschau -Moderatoren und immer wieder auch von Nadine. Ihr lachendes Mädchengesicht auf den Körpern der erwachsenen Männer und Frauen ließ die Fotos noch unheimlicher wirken, als sie ohnehin waren. Mir wurde übel. Wegen der Bilder und dem, was sie zeigten, und wegen meiner Unfähigkeit, das Buch einfach zuzuklappen. Irgendeine düstere Kraft ließ mich immer noch eine Seite weiterblättern, wo ich längst schon nichts mehr sehen wollte – zumindest bildete ich mir ein, dass es eine düstere Kraft war und nicht nur meine verstörende, pechschwarze Neugier.

Eine Seite zeigte das Zimmer in der Villa, in dem ich mit Nadine gestanden hatte. Ein nacktes Mädchen saß auf dem kleinen weißen Schemel neben dem Bett, die Hände hatte sie um ihre Knie geschlungen, ihr Kopf war mit dem Gesicht von Dagmar Berghoff beklebt, der Nachrichtensprecherin, achtlos und eckig aus einer Programmzeitschrift ausgeschnitten. Ich wagte nicht, das Gesicht von Dagmar Berghoff abzuknispeln.

Endlich klappte ich das Buch zu und wusste, dass ich es vielleicht verbrennen könnte, die Bilder aber nie wieder aus meinem Kopf kriegen würde. Ich hatte zu viel gesehen.

Was geschieht, wenn man nicht tut, was die Toten von einem fordern?

»Pack es nicht aus, sonst …«

Ich hatte Streichhölzer dabei. Das Packpapier knüllte ich zusammen und schob es unter das Buch in das Erdloch, auch den Briefumschlag aus dem Hotel. Die riesigen Geldscheine faltete ich zweimal und wollte sie in meine Hosentasche stecken, aber sie passten nicht hinein. Ich teilte sie auf und steckte den einen Teil in die linke, den anderen Teil in die rechte Tasche meiner Hose. Dann zündete ich das Packpapier im Erdloch an, legte etwas Reisig darauf, das Buch legte ich obenauf. Das Papier in der Grube glomm nur zögerlich an den Rändern und wollte nicht brennen. Ich versuchte es so lange, bis ich alle Streichhölzer verbraucht hatte. Dann gab ich auf, überlegte kurz, ob ich das Buch hier vergraben sollte, schüttete am Ende aber nur etwas Erde über die Feuerstelle und nahm das Buch wieder mit mir. Die Tausenderscheine beulten meine Hosentaschen aus. Wenn ich meine Hand ausstreckte, schien sie in der Nachtschwärze zu verschwinden. Aber vielleicht war ich auch einfach nur sehr müde.

Es gab keinen Platz in meinem Zimmer, der mir als Versteck für das Buch sicher genug erschien. Also entschied ich mich, es zu verstecken, indem ich es nicht versteckte. Ich schob es mit dem Buchrücken zur Wand zwischen die Schulbücher auf meinem Schreibtisch. Das Geld, also jedenfalls das meiste davon – 26 Tausendmarkscheine – umwickelte ich ein paarmal mit Klopapier und steckte es in eine Plastiktüte, die ich unter unserem Balkon am Fuß einer Birke vergrub. Ihr Stamm und ihre Äste ragten so hoch, dass ich vom Balkon aus an ihr hinabklettern konnte.

Zwei Tausendmarkscheine, mehr Geld, als ich jemals hatte oder hätte ausgeben können, steckte ich in eine kleine orangefarbene Geldkassette, die mir meine Eltern zum achten Geburtstag geschenkt hatten. Ich hatte genügend Ideen, was ich mir von dem Geld kaufen könnte. Ich hatte bloß keine Ahnung, wie ich einem Verkäufer oder einer Verkäuferin oder meiner Mutter erklären sollte, wie ich an Tausendmarkscheine gekommen war.

Sola erzählte ich nichts von dem Geld.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich die Menschen zu viel auf ihre Träume einbilden. Am Ende sind Träume nur durchgepauste Gedanken und Erlebnisse, spiegelverkehrt zu lesen auf der anderen Blattseite unserer Wahrnehmung. Nachts im Schlaf besah ich mir mit einem Monokel auf dem Auge Vaginen, Glieder und Brüste von monsterhaften, haarigen Clowns, die mir die Zunge verknoten wollten. Je näher ich ihnen kam, desto unschärfer waren die Körper zu sehen. Mir wurden Gurken so tief in den Rachen geschoben, dass ich mich erbrechen musste, während ich angekettet am Boden lag, an meinem Erbrochenen drohte ich zu ersticken. Meine gesichtslosen Klassenkameraden wurden von großen Piratenschiffen über Bord gestoßen, ich sah sie im Wasser um sich schlagen und dann untergehen. Mein Vater stand im Ausguck und rief mir etwas zu, das niemand hören konnte. Auf den Segeln klebten ausgeschnittene Augen und Nasen aus Papier, zusammengesetzt zu Wesen, die keinen Mund hatten, aber flüstern konnten. »Sag niemandem ein Wort, hörst du, Junge? Sag niemandem ein Wort. Sag, willst du sie anfassen?«

Ist man etwas Besonderes, weil man Besonderes kann? Oder wird man zu etwas Besonderem gemacht? War ich den Toten nah, näher als andere, weil sich mein Vater umgebracht hatte? Weil ich in einem Krankenhaus lebte und den Geistern zufällig die erste greifbare Seele gewesen war? Oder weil ich mich manchmal selbst wie ein Geist fühlte? Weil ich wie durchsichtig durch die Stadt ging und in die Schule, wo ich Überschriften ordentlich mit dem Lineal unterstrich, verlässlich meine Hausaufgaben erledigte, nie ganz hinten und nie ganz vorne saß; alles, um nicht aufzufallen, um durchsichtig zu bleiben in diesem krummen, schmerzenden, unklaren Leben, um Ruhe zu haben, um auf die Welt zu schauen, statt auf mich schauen zu müssen.

Ich weiß noch, dass ich nichts mehr sein wollte, als mich meine Mutter im Arm hielt, nicht mal mehr das wenige, das ich noch war. Dass sie mir erzählte, wo man meinen Vater gefunden hatte, dass sie sagte, dass wir jetzt nur noch zu zweit seien und nicht mehr zu dritt und dass ich ihn noch mal sehen könnte, wenn ich wirklich wollte, und dann gingen wir zusammen irgendwohin, aber ich sah nur seine Füße und seine Beine, und da hatte ich schon genug. Ich weiß noch, dass meine Mutter zugleich nach Vanille und Desinfektionsmittel roch und ich mich an sie schmiegte wie lange nicht mehr, nicht nur, um sie zu spüren, sondern um mich zu spüren, und dass ich dachte: Wie soll ich noch ein Ganzes sein, wenn mein Vater fort ist, der doch eine Hälfte von mir war, und dass ich spürte, dass meine Mutter auch kein Ganzes mehr war, bestenfalls noch ein Halbes, wir waren also nicht mehr drei, aber auch nicht mehr zwei, sondern zusammen höchstens noch eins.

Vielleicht meldeten sich die Toten bei mir, weil ich zur Hälfte längst einer von ihnen war.