M orgen fahren wir los, und wir werden reich, mein kleiner Affe.«

Sola saß wie jeden Morgen auf dem Balkon. Sie trug wieder nur ein langes T-Shirt und war barfuß. Neben ihr stand eine große Tasse, in der aber nur wenig Kaffee war. Als sie danach griff, verstand ich auch, wieso.

Ihre Hände zitterten so stark, dass sie den Kaffee verschüttet hätte, wäre er in einer kleineren Tasse gewesen.

Sie sah meinen Blick, ich musste gar nichts fragen.

»Ist mal so und ist mal so.«

Ich nickte.

»Was liest du?« Ich deutete auf das Buch auf ihrem Schoß.

»Rousseau. Économie politique.«

»Ein Franzose?«

»Schwierig zu sagen. Eigentlich nicht. Er ist in Genève geboren, aber damals war Durcheinander. Genève n’était pas française, mais pas suisse non plus. «

»In Genf wohnen die ganz Reichen, oder?«

»Oui, heute ist Genf sehr reich mit viel bösem Geld. Sag, mein kleiner Affe, wie wichtig ist Geld für dich?«

»Wir hatten nie welches. Deshalb war es immer wichtig.«

Ich erinnerte mich an die leuchtenden Augen meines Vaters, als er uns die gewonnenen Geldscheine aus dem Spielcasino in Konstanz präsentierte.

Ich erinnerte mich, wie mich meine Mutter schimpfte, weil ich meinem Schulfreund Marc Langenbacher Toastbrote geschmiert hatte, als er mal bei uns zu Besuch war und Hunger bekam. Als er ging, war kein Toastbrot mehr da – und wir hatten kein Geld, um neues zu kaufen.

Ich erinnerte mich, wie meine Mutter mit weißer Textilfarbe und einer selbst geschnittenen Schablone ein »Nike«-Symbol auf eines meiner T-Shirts malte, weil ich mir so dringend ein Nike-Hemd gewünscht hatte, wir uns aber keines leisten konnten.

Ich erinnerte mich an den ersten Tag nach den Schulferien, an dem alle von ihren Urlauben erzählten, von Italien, von der Dominikanischen Republik, von Flugzeugen und Kokosnüssen, und dass ich nichts zu erzählen hatte außer von endlos langen Sommertagen im Freibad. Und dass ich am Kiosk nur Capri oder Milch-Flip kaufen konnte, das waren die günstigsten Eissorten, und für mehr als eines reichte mein Geld nie.

Ich erinnerte mich, wie ich eines Abends an der Hand meiner Mutter vor einem Geldautomaten stand. Ich war neun Jahre alt. Ihre Hand war warm, wie immer, auch im Winter. Sie steckte die Karte in den Schlitz und wurde aufgefordert, die Geheimnummer einzugeben.

Sie gab die Nummer ein.

Auf dem Display erschien ein Hinweis, der sie entsetzt aufrufen ließ. »O Gott, o nein, bitte nicht!«

Sie ließ meine Hand los und drückte auf »Abbrechen«, mit den Zeigefingern beider Hände zugleich, als würde mehr Druck auf der Taste den Vorgang doch noch ermöglichen.

Auf dem Display stand:

Ihr Kreditrahmen ist überzogen.

Ihre Karte wurde eingezogen.

Bitte wenden Sie sich an unsere Mitarbeiter in dieser Filiale.

Meine Mutter, die Frau, die Sterbende wiederbeleben konnte und medizinische Vorgänge wie lateinische Zaubersprüche vorbeten konnte, weinte.

»Wir haben kein Geld mehr.«

Tränen liefen ihr über die Wangen.

»Es tut mir leid, Mischa. Wir haben jetzt kein Geld mehr, um was einzukaufen.«

Abends gab es nichts zu essen, und gegen den Hunger trank ich Wasser aus dem Hahn.

»Es ist lustig. Für die Menschen in Zaïre, wo meine Eltern herkommen, bedeutet Geld Freiheit. Für mich auch. Hab ich Geld, bin ich frei. In Deutschland ist es anders. Für euch ist Geld nicht Freiheit. Für euch ist Geld nur Sicherheit.«

»Ist Sicherheit nicht viel wichtiger?«, fragte ich.

Sola zuckte mit den Schultern.

»Wie man es nimmt, mein kleiner Affe. Ab wann ist man sicher mit Geld? Hunderttausend? Zweihunderttausend? Jamais? Wenn du Geld um dich herum stapelst wie eine Mauer, zum Schutz, dann vergisst du vielleicht, dass du nicht unbedingt Geld brauchst, um sicher zu sein. Und dass man auch andere Dinge damit machen kann. Die Welt sehen. Anderen helfen. Dir Träume erfüllen. Faire le bien . Ein eigenes Telefon kaufen. Ich könnte mit Geld endlich zurück nach Zaïre. Geld ist ein Mittel, nicht der Zweck. L’argent qu’on possède est l’instrument de la liberté; celui qu’on pourchasse est celui de la servitude

»Was?«

»Das sagt Rousseau.«

»Was sagt der?«

»Dasselbe wie ich: Wenn du Geld hast, gib es aus.«

Ich kam zu spät in den Unterricht, absichtlich. So bemerkten alle, dass ich da war.

Nadine fehlte auch an diesem Tag. Die Nachricht, dass ihr Großvater kurz nach dem großen Geburtstagsfest gestorben war, hatte die Runde gemacht.

Ich spürte die Blicke der anderen, sie hielten es kaum aus, nicht zu erfahren, was genau geschehen war. Aber sie trauten sich nicht, zu fragen. Ich hätte ihnen auch nicht geantwortet.

Warum sollte ausgerechnet ich über den Tod sprechen, wo es auch sonst niemand tat? Im Krankenhaus, unter den Pflegern und Ärzten, bei allen Gesprächen in der Kantine, auf Station, in der Kaffeeküche, war jeder Tod stets ein ärgerlicher Zwischenfall, ein Zeichen von ärztlichem Versagen oder zumindest von Unfähigkeit, ein Affront gegenüber den medizinischen Möglichkeiten, ein Fehler im System, eine Abweichung von der Norm. Jeder Tote ein Beweis des eigenen Scheiterns. Deshalb wurden die Ursachen besprochen, vom Endergebnis allerdings wurde geschwiegen. Sterbenden – auch sie waren schließlich Gescheiterte, endgültig gescheitert an ihrem Leben – hatte man bis zuletzt Aussicht auf Heilung gegeben, bis zum Schluss wurden sie Schwerkranken gleichgestellt, selbst wenn ihr Fall längst aussichtslos war. Kein Sterbenswörtchen über den Tod. Als ich meine Mutter einmal darauf ansprach, wie viel in unserem Haus gestorben und wie wenig Raum dem Tod gelassen wurde, erklärte sie mir das Schweigen, auch ihr eigenes Schweigen gegenüber den Patientinnen und Patienten, damit, dass offene Worte nur mehr Stress bedeuteten.

»Am wenigsten gern sterben die, die dem Tod schon gehören. Und wer stirbt, will reden. Aber dafür habe ich keine Zeit.« Wer in Unkenntnis über den eigenen Zustand bleibe, sterbe ruhiger – und das bedeute für sie weniger Arbeit.

Ebenso war es auch in der Schule, in der Stadt, in der Welt, die ich kannte: Der Tod wurde totgeschwiegen. Menschen dazu zu zwingen, über den Tod zu sprechen, war, als würde man sie zwingen, in die Sonne zu blicken. Es war ihnen nicht unmöglich, sie konnten es für eine Sekunde. Dann mussten sie wegsehen. Früher starben die Menschen zu Hause, umgeben von ihren Verwandten, als »schöner Tod« galt ein öffentlicher Tod, ein lauter Tod, ein gemeinsamer Abschied und zugleich ein großer Empfang. Heute ist der »schöne Tod« ein stilles Ende, am besten im Schlaf, einzige hinnehmbare Zumutung ist das leise Requiem einer rhythmisch piepsenden Herz-Lungen-Maschine. Bis es dann aus ist.

Also, angeblich.

Abends stand Sola mit zwei Rucksäcken vor mir, die sie in der Stadt besorgt hatte.

»Einer für mich, einer für dich.«

»Ich hab doch einen … die … die sehen gut aus, woher hast du die?«

»Geborgt bei der … non , bei dem Sportgeschäft. Aucun problème

»Bei Sport-Schuster?«

»Ich glaube, oui . Keine Sorge. Wenn wir reich sind, geben wir ihm das Geld. Jetzt gerade haben wir leider nix.«

Natürlich hatten wir was.

Ich ging in mein Zimmer, öffnete die orange Geldkassette und holte die beiden Tausendmarkscheine heraus. Sie fühlten sich irgendwie anders an, besser, fast so, als wären sie durch einen Zauber in der kleinen Kasse zu Geld geworden, das mir tatsächlich zustand.

»Mon Dieu ist das echt?« Sola machte große Augen, als ich ihr die beiden Scheine unter die Nase hielt.

Darüber, dass es Falschgeld sein könnte, hatte ich nie nachgedacht.

Sie griff nach den Scheinen, ich gab sie ihr.

»Wie viel ist das in Francs?«

Ich hatte keine Ahnung.

Sie überlegte. »Der Kurs ist so was wie drei zu eins. Also … 6000 Francs? Du machst mir Spaß. Woher hast du das Geld?«

»Es war in dem Koffer.«

»Ah. Der Einbruch?«

Sie schaute mir in die Augen. »Ist es böses Geld?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Könnte sein.«

»Gehörte es dem Opa ohne Hose?«

Ich nickte.

»Alors, indemnité pour blessure! Schmerzengeld! Et voilà , schon haben wir jetzt genug Mäuse für die Reise. C’est bon. Das reicht.«