D er Peugeot 205 roch noch immer nach meinem Vater, besonders, wenn es draußen warm war. Als könnte die Wärme der Sonnenstrahlen durch die Seitenscheiben hindurch eine chemische Reaktion in den durchgesessenen Polstern und auf dem Plastik der Verschalung auslösen und Körpermoleküle aktivieren, die er im Wagen hinterlassen hatte.
Wenn wir zu dritt unterwegs waren, war die Sitzordnung immer dieselbe gewesen, als hätte die Vorsehung Platzkarten verteilt: mein Vater am Steuer, meine Mutter neben ihm, ich hinter meinem Vater. Sommers wie winters hatte er das Fenster auf der Fahrerseite wenigstens einen Spalt geöffnet, um die Glut seiner Selbstgedrehten nach draußen schnippen zu können. Der Fahrtwind blies den Rauch der Zigaretten zu mir nach hinten, nach einer langen Reise rochen mein Haar und meine Klamotten wie nach einem Lagerfeuerabend. Ich hasste es, sagte aber nie etwas.
Ziemlich sicher würden wir noch seine Tabakkrümel unter der Fußmatte finden, zerbröselte Andenken. Er war stolz darauf, dass er seine Zigaretten mit einer Hand drehen konnte, natürlich während der Fahrt. Die Tabakpackung mit einer roten Hand darauf lag auf seinem rechten Oberschenkel, darin waren auch die beinahe durchsichtigen Blättchen. Seine Zunge zwischen den ganz leicht geöffneten Lippen, um das Papier anzufeuchten, die Vorfreude im Gesicht. Er rauchte gern und viel. Meine Mutter nahm es hin, so wie alles, so wie ich, und streichelte auf der Fahrt seinen Nacken. Wies man ihn darauf hin, dass seine Lieblingsbeschäftigung ungesund sei, antwortete er: »Sterben müssen wir alle.« Oder: »Wenn, dann so.« Oder: »Einen Tod muss man sterben.«
Im Nachhinein hatte er damit natürlich recht.
Sola setzte sich ans Steuer, wackelte den Rückspiegel zurecht, verstellte den Sitz, wackelte noch mal am Rückspiegel, kurbelte das Fenster herunter und verstellte auch noch den Seitenspiegel. Ich saß auf dem Platz meiner Mutter. Auf der Rückbank lagen zwei Plastikflaschen Wasser, die beiden leeren Rucksäcke, eine Taschenlampe und eine Tüte mit geschmierten Broten und ein paar Äpfel. Sola hatte eingekauft.
Ich hatte noch immer keine Ahnung, was wir vorhatten.
»Rot ist die beste Farbe für einen Peugeot. Ich bin sehr zufrieden.«
»Sola, du bist 17, oder?«
»Oui , mein kleiner Affe, warum?«
»Bei uns kann man erst mit 18 ein Auto fahren.«
»Bei uns auch. Aber ich kann das. Ich fahr doch auch Scooter.«
Sie startete den Wagen, legte den Rückwärtsgang ein, seltsamerweise war der Tank voll. Sola drehte sich nach hinten um, fasste dabei mit der rechten Hand meine Kopfstütze, überlegte kurz und wuschelte mir einmal durchs Haar.
»Kein Gel, très bien .«
Ich dachte an die aufgestellten Haare von Vincent, ihrem Freund.
»Vincent nimmt auch Gel.«
Sie schaute mich mit einem Grinsen an. »Vincent ist kein Wuschelkopf wie du. Vincent ist ein Stachelkopf. Jeder ist anders. Bringt nix, andere nachzumachen.«
Dann schaute sie wieder über ihre Schulter und manövrierte den Peugeot souverän rückwärts um einen Pfeiler.
»Wie hast du meine Mutter dazu gebracht, dir den Schlüssel zu geben?«
»Ich hab gesagt: Madame , Sie können mich vertrauen.«
»Wirklich?«
»Quatsch. Ich hab nicht gefragt.«
»Was? Halt an, sofort!«
Sie fuhr weiter. »Calme-toi . War ein Witz. Deine Maman ist cool. Sie vertraut mich.«
»Also war sie einverstanden?«
»Natürlich.«
Ich beschloss, ihr zu glauben. Es war einfacher.
Ich sah Sola von der Seite an.
»Du lachst so selten«, sagte ich.
»Ja. Aber ich bin nicht traurig. Ich bin nur nicht lustig. In meinem Rucksack sind Straßenkarten.«
Wir bogen auf die Schillerstraße ein. »Fährt man bei euch links oder rechts?«
Ich zog die Luft ein. Sola lachte.
»Wo ist die Autobahn, mein kleiner Affe? Und darf ich da wirklich fahren, so schnell ich will?«
Die Reise mit dem Zug hatten wir abgesagt. Sola und ich hatten uns am Dienstag im Reisebüro Bühler in der Hauptstraße die Verbindungen nach Halberstadt geben lassen, unter den sehr zweifelnden Blicken einer Angestellten, Frau Braun, die vermutlich dachte, wir wollten sie verarschen. Die lange Liste an Uhrzeiten, Gleiswechseln und Zwischenzielen – von Rottweil nach Stuttgart nach Frankfurt nach Braunschweig nach … Achtung, Verzögerung wegen Spurwechsels Richtung Osten … Halle und schließlich nach Halberstadt – ließ uns das Vorhaben aufgeben. Die Reise hätte ewig gedauert, und Sola sagte, wir hätten nicht viel Zeit. Am Freitag sollte die Austauschgruppe schon wieder zurück nach Frankreich fahren.
Sola fuhr, als dürfte sie fahren. Sie fuhr sogar besser, als meine Mutter oder mein Vater je gefahren waren. Sie kuppelte sanft, fuhr Kurven in ausladender Spur, überholte nicht. Vielleicht hatten wir es eilig. Aber offenbar auch nicht so eilig. Als wir die Stadt verlassen hatten, aus dem Tal herausgefahren waren und die Ebene erreichten, strahlte breites Morgenlicht durch die verschmierte Windschutzscheibe. Sola kippte die Sonnenblende nach unten, etwas fiel ihr in den Schoß. Der Führerschein meines Vaters, ein abgegriffener, grauer Lappen. Sie reichte ihn mir.
»Guck, ich hab doch einen Führerschein.«
Ich begann zu weinen, als ich das Papier in Händen hielt, so wie es mir seit seinem Tod manchmal passierte. Ich hatte nie den einen großen Weinanfall. Meine Tränen schienen von einem unsichtbaren Stauwehr zurückgehalten zu werden, über das ich selbst keine Kontrolle hatte. Gelegentlich öffnete sich dieses Wehr, unvorhersehbar für mich, und ließ etwas Salzwasser ab. Ich schaffte es nicht, das Papier aufzuklappen und mir sein Foto anzuschauen. Stattdessen strich ich einige Zeit mit dem Daumen über den Führerschein, dann steckte ich ihn auf meiner Seite hinter die Sonnenblende.
Sie fuhr weiter, ließ mich weinen und mich beruhigen, nur die rechte Hand hatte sie am Steuer. Die Sonne wärmte mich durch die Scheibe hindurch.
»Er hat sich umgebracht.«
»Oui, je sais.«
Ich wischte mir die Tränen von der Backe und schaute erstaunt zu ihr.
»Woher?«
»Deine Maman hat’s erzählt.«
Wir schwiegen. Es tat gut, schweigen zu können, weil ich es wollte. Und nicht, weil ich musste.
Es schien, als würden nicht wir uns bewegen, sondern die Welt um uns, an uns vorbei. Als würden die Vögel, die gelegentlich vorbeiflogen, von Schaustellern an unsichtbaren Fäden in unser Blickfeld geschwungen werden, als wären die Bäume, die Felder, die Wiesen, die Häuser auf ein gewaltiges Laufband gestellt worden und als würde dieses Laufband zugleich links und rechts von uns vorbeigezogen werden, wie auf einer Theaterbühne, als hätten Bühnenbildner dem Himmel verschiedene Blautöne gemalt und aus einer gusseisernen Laterne eine strahlende Sonne gefertigt.
Sola hielt das Steuer mal mit einer, mal mit beiden Händen, meistens blieb sie auf der rechten Spur der Autobahn, immer Richtung Norden. Oberndorf, Horb, Tübingen, Böblingen, ich hatte die Karte aufgeschlagen auf das Armaturenbrett gelegt, aber sie erkundigte sich nicht nach dem Weg, es schien ihr völlig klar, wohin sie zu fahren hatte.
»Ich hab musique dabei.«
»Küül oder Pöpshit?«
Sie musste wieder lachen. »Ganz anders.«
Sie bat mich, eine Kassette aus dem Seitenfach ihres Rucksacks zu kramen, wieder eine Maxell Chrome 90er, unbeschriftet, und wollte sie einlegen, aber im Kassettendeck steckte noch eine andere, die ich erst auswerfen musste. Die A-Seite von Hannes Wader, die B-Seite Georges Brassens. Die Lieblingssänger meines Vaters.
Ich musste schon wieder weinen.
»Wann ist er gestorben?«, fragte Sola.
Ich bemerkte, dass ich das genaue Datum wirklich nicht mehr wusste. Wie so vieles aus der Zeit seines Todes war auch das irgendwo verschüttet.
»Vielleicht vor einem Jahr oder so, ich weiß es nicht genau, bisschen länger als ein Jahr. Es ist alles durcheinander aus der Zeit.«
»Willst du seine musique hören?«
Lieber nicht.
Also hörten wir Solas Lieder.
’Twas in another lifetime, one of toil and blood
When blackness was a virtue and the road was full of mud
Die Melodie hatte denselben Takt wie mein Herzschlag, wie mein Kummer, wie mein Leben.
I came in from the wilderness, a creature void of form
»Come in«, she said, »I’ll give you shelter from the storm.«
Stuttgart, Heilbronn, Nürnberg, Bayreuth. Hier war ich noch nie gewesen.
Andere Lieder. Zeilen, die mich trösteten, ohne dass ich sie verstand, die ich zum ersten Mal hörte und doch schon genau zu kennen glaubte.
The long and winding road that leads to your door
Will never disappear, I’ve seen that road before
Ich weinte immer wieder und lächelte still, weil die Musik so schön war und ich mich sicher fühlte, ich hatte die Füße auf das Armaturenbrett gelegt, wie es manchmal meine Mutter getan hatte, wenn wir alle gemeinsam fuhren. Sola sang leise mit bei den Liedern, sie kannte sie auswendig.
Et chaque fois, les feuilles mortes
Te rappellent à mon souvenir
Jour après jour
Les amours mortes
N’en finissent pas de mourir
»Mein kleiner Affe, hast du die Maus dabei, wir müssen bald tanken.«
Ich war eingeschlafen und brauchte einen Moment. Dann grinste ich über Solas krumme, schöne Logik. Wenn viele Scheine »Mäuse« sind, muss ein einzelner Schein »eine Maus« sein. Ich holte den Tausendmarkschein aus meiner Hosentasche und gab ihn ihr.
Sie hatte vor einer hell erleuchteten Tankstelle an der Autobahn geparkt. Es war ungefähr mittags. Ich spürte, dass sie nervös war.
»Ich mach das. Du bleibst hier.«
»Okay. Meinst du?«
»Was soll schon passieren? Ich tanke, ich habe Geld, ich bezahle.«
»Meine Mutter sagt immer, dass meine größte Gabe sei, dass ich so schauen könnte, als hätte ich noch nie was ausgefressen.«
»Was heißt ausgefressen? Wie den Teller fertig gegessen?«
»Nee, als hätte ich noch nie was Verbotenes gemacht.«
Sola schaute mich wie zum ersten Mal prüfend von der Seite an.
»Mütter sagen komische Sachen. Aber sie hat recht. Du guckst unschuldig. Bon . Komm mit. Ich weiß eh nicht, wie man tankt.«
Das wusste ich auch nicht. Wir liefen einige Male um das Auto und suchten den Tankdeckel. Dann brauchten wir einige Zeit, um ihn zu öffnen. Zum Glück erinnerte ich mich daran, welche Sorte Benzin meine Eltern immer getankt hatten.
Als wir nebeneinander Richtung Kassenhaus liefen, hielt ich den Tausendmarkschein dreimal gefaltet in der Hand.
Vor uns war eine kurze Schlange von Kunden.
Sola bedeutete mir, dass ich ihr das Geld geben solle.
»Lass mich das machen. Du zitterst immer so, das ist ja noch auffälliger.«
Sie schaute mich skeptisch an: »Das ist nur un tic . Das haben viele Menschen. Nicht so viele Menschen sind ein Baby wie du und haben 3000 Francs Tankmäuse.«
Ich behielt das Geld in meiner Faust.
Sie schüttelte den Kopf.
Als wir vor dem Mann am Tresen standen, sagte Sola: »Nummer 4, bitte.«
Der Kassierer war ein älterer Mann mit Glatze und einem dichten, braunen Schnauzer. Er trug eine dunkelblaue Latzhose mit dem aufgestickten Logo der Tankstelle und darunter ein weißes T-Shirt und schaute Sola erstaunt an, als hätte er noch nie eine schwarze Frau gesehen. Hatte er vielleicht auch nicht.
»Spricht die Deutsch?«, fragte er mich.
Ehe ich antworten konnte, sagte Sola: »Sie spricht. Und sie raucht. Sie möchte zwölfmal Tabak von der Roten Hand. Und kleine Papiere. Für den Dreh. Und Tic Tac. Orange. Viermal.«
Sie nahm die vier Plastikpäckchen Tic Tac aus der Auslage und stellte sie vor den Verkäufer auf den Tresen.
Er schaute erst Sola, dann mich verwirrt an. Schließlich griff er nach dem Tabak.
»Sind nur noch sechs Packungen da.«
Wieder sprach er mich an.
Wieder antwortete Sola.
»Dann nehm ich sechs.«
Er überlegte kurz, blickte auf Sola, zuckte mit den Schultern und legte die länglichen Tabakpäckchen vor uns auf den Tresen. Sola legte die Blättchen dazu.
»Na denn … der Tank 63,55 Mark, der Tabak sechsmal 4,50, das Papier, die Tic Tac, viermal …« Der Kassierer begann, die einzelnen Posten in seine Kasse einzutippen.
Noch ehe er alles eingegeben hatte, hielt ich ihm den gefalteten Tausendmarkschein hin. Er nahm ihn und schaute mich skeptisch an.
»Willste mich verarschen?« Er hielt ihn gegen das Licht.
»Äh … nee.« Mehr brachte ich nicht zustande. Ich schaute zu Boden.
»Nehm ich nicht.«
Er behielt ihn in der Hand.
Sola schaute dem Tankwart in die Augen. »Wir haben sonst nix. Und getankt ist schon.«
»Geht da was voran?«, rief eine Stimme hinter uns.
Der Tankwart zögerte immer noch. Dass hier was nicht stimmen konnte, war ihm klar. Aber wie damit umgehen?
Dann hatte er eine Idee. Er grinste uns an und begann, die Einzelposten im Kopf zusammenzuzählen. Beim Rechnen schaute er in die Luft und bewegte die Lippen, als würde er einem unsichtbaren Taschenrechner an der Decke die Beträge zuflüstern.
»Macht dann alles zusammen … 780 Mark und fuffzich Pfennige.«
Ohne weiter zu warten oder irgendwas in seine Kasse zu tippen, nahm er den Tausendmarkschein und legte uns 220 Mark Wechselgeld hin.
»Das ist …«, begann ich zu rufen – »Abzocke« lag mir auf der Zunge.
»… bestimmt richtig«, ergänzte Sola meinen Satz. »Haben Sie eine Tüte?«
»Sicher doch.« Er grinste noch etwas breiter, stolz darüber, dass er mit seiner Unverschämtheit durchgekommen war. Sein Schnauzer wackelte fröhlich.
»Tüte kostet 20 Mark.«
Er gab uns eine Tüte mit der rechten Hand und nahm sich von den drei Scheinen auf dem Tresen noch mal einen. Es blieben 200 Mark.
»Merci« , sagte Sola und nahm das Geld.
»Tschüssi, schwarze Perle.«
Ich konnte die Empörung in ihren Augen sehen.
»Schwarze Perle kratzt dir gleich die Augen aus.«
Die Kunden hinter uns drängelten nach vorn.
Sie packte mich fest am Oberarm und drückte wieder genau auf die schmerzende Wunde, dabei drehte sie mich Richtung Ausgang. Kurz bevor wir den Raum verließen, riss sie im Vorbeigehen einen großen Drehständer mit Schlüsselanhängern um, der krachend zu Boden fiel.
»Tête de con!«, brüllte sie Richtung Tresen.
»He!«, rief irgendwer von drinnen. Wir rannten zum Auto.
Ich blitzte wütend aus den Augen, als wir einen Moment später wieder im Peugeot saßen. Solas Hände umfassten das Lenkrad so fest, dass ihre Handknöchel weiß wurden.
»Der hat uns voll verarscht!« Ich weinte vor Wut, und wegen der Schmerzen in meinem Arm.
Das war mein Geld, dachte ich.
»Es war nicht dein Geld.« Sie schien meine Gedanken lesen zu können. »Du hast es gestohlen. Und er hat entschieden, seine Gebühr zu nehmen. Nicht schlimm. Der Tank ist voll. La justice n’est qu’une des tentatives de l’homme pour s’opposer à la nature . Gerechtigkeit ist nur einer der Versuche des Menschen, sich der Natur zu widersetzen.«
»Wer sagt so was?« Mir liefen Tränen über die Wangen.
»Marquis de Sade. Fahren wir.«
Sie gab mir die beiden Hundertmarkscheine in die Hand. Die Tüte mit dem Tabak und den Tic Tac warf sie auf den Rücksitz.
»Die Tankfüllung und der Tabak haben uns 800 Mark gekostet!«
»Denk doch nicht immer nur an Geld! Wir sind die große Maus los! Und haben noch mehr, als wir brauchen.«
»Woran soll ich sonst denken? Außerdem hast du doch da drinnen so Rabatz gemacht!«
Jetzt wurde Sola wütend: »Jedes Mal, wenn man mit mir redet hier, sagt man was zu meiner Haut.« Sie schrie mich an: »Was ist los mit euch allen? Bin ich so komisch? Hier, fass an!«
Sie griff nach meiner Hand und schlug sie auf ihren eigenen Arm.
»Ist das so komisch? So anders?«
Erst Troppi, jetzt der Tankwart. Ich verstand. Sie hatte recht.
Ich wusste lang nichts zu sagen.
Sola atmete tief durch.
Nichts an dir ist komisch, Sola.
»Weißt du, ich finde dich wunderschön. Zum Glück ist deine Nase schief.«
Sola lächelte. Dann holte sie eine Doppelpackung BiFi aus der Hosentasche und reichte sie mir.
»Ah, mein kleiner Affe, danke. Ja, zum Glück ist die Nase schief, n’est-ce pas ? Sonst wäre ich unerträglich schön. Hier, hab ich geklaut. Hat er nicht gemerkt. Hast du Hunger?«
Wir fuhren weiter und überquerten die ehemalige Grenze. Überall standen Kräne und Schaufelbagger, »Wir bauen für Sie. Hier entsteht die Brücke der Deutschen Einheit«, versprach ein Schild.
»Warst du schon mal hier?«, fragte Sola, ohne mich anzuschauen. Sie rauchte beim Fahren und hatte die Fensterscheibe halb heruntergekurbelt, damit der Rauch abziehen konnte, wie mein Vater früher. Die Fahrgeräusche waren bei offenem Fenster so laut, dass man von der Musik kaum etwas verstehen konnte.
»Du meinst im Osten? Nee.«
Vor dem Mauerfall war uns Kindern aus dem Schwarzwald der Osten einfach nur egal, bestenfalls hatten manche von uns Mitleid mit Gleichaltrigen, von denen wir hörten, dass sie bei Paraden so komische Halstücher tragen mussten und keine richtigen Jeans bekommen konnten. Andererseits bekam ich die auch nicht. In jedem Fall war der Osten zu einem mystischen Ort der Freiheit geworden, unbekanntes Terrain, angeblich rechtsfrei, aufregend, irgendwie gefährlich, irgendwie interessant. Bei den Oberstuflern hatten wir Geschichten von Schlägereien und Partys mit viel Alkohol auf der Klassenfahrt nach Stralsund aufgeschnappt, alles klang wilder, unkontrollierter als bei uns. »Die haben ja auch kaum noch Polizei«, hatte ein Zwölftklässler im Vorbeigehen zu einer Klassenkameradin gesagt. Plötzlich war der Wilde Osten ein Sehnsuchtsort, wie der Wilde Westen, mit Goldgräbern, Glücksrittern, Exzessen, auf den wir neugierig waren und vor dem wir zugleich Angst hatten, ein geheimnisvolles Auenland, nur in Grau, mit Holzkohlewolken über den Städten.
Die einspurige Autobahn war aus einzelnen Platten gebaut, jede Sekunde schepperten die Reifen des Peugeots über eine weitere Kante zwischen zwei Platten.
Da-Schung, Da-Schung, Da-Schung.
Zwischendurch fuhren wir auf kurzen Stücken neu gebauter oder ausgebesserter Straße, danach kamen wieder die Platten. Draußen waren jetzt keine Berge mehr zu sehen, die Landschaft war flach wie ein Pfannkuchen, sie schien unendlich. Ein irritierendes Bild für mich, einen Horizont kannte ich nicht, ich war es gewohnt, gegen etwas zu blicken, Berge, Bäume. Hier hingegen konnte ich weit schauen – und sah doch nichts außer kargem, ernstem Land in Ocker und blassem Gelb. Selbst die Ausfahrten trugen verhärtete Ortsnamen, Schleiz, Görkwitz, Triptis. Das Schönste war die Aussicht nach oben, am dunkelblauen Julihimmel knufften sich kleine Wolkenballen. Im Auto lief die Musik von Sola, jede Melodie, jede Zeile wollte mehr sein als nur Musik und war es auch, mir klang sie, als würde sie Erinnerungen wecken an Orte, an denen ich noch nie war.
If you want me, send for me
I said: If you want me, want, all ya gotta do is send for me
Don’t wait too long, just-a pick up your phone
And I’ll hurry home where I belong
»Das ist Solomon. Nach ihm heiße ich.«
»Sehr schön.«
»Oui. Machen wir Pause, mein kleiner Affe, bald sind wir da. Aber zu früh.«
Sie fuhr bei Droyßig von der Autobahn ab, erst auf eine Bundesstraße, weiter auf einen holprigen Weg aus dunkel gefärbten, an manchen Stellen fast schwarzen Pflastersteinen. Links und rechts wuchsen Sonnenblumen auf den Feldern, die ihre Köpfe alle in dieselbe Richtung neigten.
There’s no escape that I can see
And still those little things remain
That bring me happiness or pain
A cigarette that bears a lipstick’s traces
An airline ticket to romantic places
And still my heart has wings
Wir hielten an, als das Lied endete.
»Wir müssen sprechen«, stellte Sola fest.
»Sagst du mir, wo wir hinfahren?«
»Halberstadt. Das ist, euh …« Sie sah sich um und winkte dann nach links. »Da hinten, glaub ich.«
Sola hielt vor einer Würstchenbude am Wegrand, die auf einen alten Anhänger gezimmert war. Davor standen zwei kleine Plastiktische. Jemand hatte mit schwarzer Farbe GRILL auf die Seitenwand der Bude gepinselt. Daneben stand ein Schuppen mit zwei Eingängen ohne Türen, über denen handgeschrieben Piefkes und Puppis stand.
»Parfait.« Sola parkte den Wagen und stieg aus, sie streckte sich und lief auf die Würstchenbude zu. Sie schien geöffnet, aber es war niemand zu sehen. Sola stellte sich auf die Zehenspitzen und lurte über den Tresen. Niemand da. Sie zuckte mit den Schultern.
Ich stellte mich neben sie. »Was machen wir in Halberstadt?«
»Wir gehen in einen unterirdischen Stollen und klauen viel Geld.«
Sie sah mich an. Dann knuffte sie mich mit der Faust an die Brust.
»Guck nicht so! Es ist genug da. Und es gehört keinem mehr. Und klauen kannst du, das weiß ich.«
»Wie viel Geld ist da?«
»So 108 Milliarden, hab ich gehört.«
Ich hob fragend die Hände zur Seite. Sie musste die Zahl falsch verstanden haben.
»108 Milliarden? Milliarden ist das, was nach Millionen kommt und vor Billionen.«
»Exactement. Millions, milliards, des milliers de milliards. Und keiner passt auf.«
»Das wäre der größte Schatz der Menschheit.«
Sie ignorierte meine Zweifel wie jemand, der es einfach besser weiß, klopfte laut gegen die Seitenwand des Grillanhängers und schaute sich um. Nichts.
»Hallo?«, rief sie laut. Keine Antwort.
Sola ging zur kurzen Seite des Anhängers und öffnete die Tür.
»Wirklich niemand da. Willst du was?«
Sie stieg ein.
»Willst du die hier jetzt auch beklauen, oder was?«
»Non, mein kleiner Affe, wir bezahlen echt. Und Sport-Schuster kriegt auch noch sein Geld für die Rucksäcke. Ich nehm Cola, Wurst, petits pains … Oh, was ist das denn für ein Cola? Kenn ich nicht. Gib mir die andere große Maus.«
»Was?«
»Böses Geld muss man erst recht ausgeben, das macht nicht glücklich. Und böses Geld wird sofort gutes Geld, wenn es gute Menschen verschenken. Gib mir die Maus, vertrau mich.«
Ich reichte ihr den Tausendmarkschein zögerlich in den Wagen hinein, als würde ich ganz ordentlich an eine Verkäuferin bezahlen. Auch der war dreimal gefaltet. Sie strich ihn glatt und beschwerte ihn mit einem Salzstreuer.
»Imagine no possessions, kleiner Affe, I wonder if you can.«
»War der arm, der das gesagt hat?«, fragte ich bitter.
»Euh ... non. Sehr reich.«
Es war zu viel Geld, als dass ich es ihr leichten Herzens hätte geben können. Ich rechnete es in Erleichterung um, die mein Vater mit dem Schein in der Hand gespürt hätte. In Nachtschichten, die meine Mutter nicht übernehmen müsste. Mieten, die wir von diesem einen Schein bezahlen könnten. Urlaube. Schuhe, Jeans. Einen neuen Walkman. Vielleicht war es böses Geld. Aber immer noch Geld.
Aber du hast ja noch ein paar Scheinchen vergraben , beruhigte mich eine Stimme in mir.
»Les frites sind fast noch warm.«
»Nehm ich«, rief ich. »Haben die Spezi?«
»Ich weiß nicht, was ist Spezi, mein kleiner Affe. Aber hier gibt es …« Ich hörte sie kramen … »Ilis-Brause, mit framboise darauf. Himbeere. Oder Vita Brazil, das ist gelb. Allerdings ein komisches Gelb.«
»Jeder eine Frage. Abwechselnd. Du darfst anfangen, mein kleiner Affe.«
»Okay. Woher weißt du von dem Geld? Und sind es wirklich 108 Milliarden?«
Ich lehnte am Auto und dehnte meine Beine nach der langen Fahrt, Sola wollte sich auf die Kühlerhaube setzen, fluchte aber über das heiße Blech und lief in engen Kreisen auf der Straße. Wir aßen von unserem neuen Proviant.
Was von der Autobahn aus flach und unwirtlich ausgesehen hatte, war aus der Nähe betrachtet warm und beruhigend. Bäume und Gräser trugen plötzlich Hochsommerfarben, wir hörten irgendwo einen Bachlauf. Die Luft war warm und schwer. Um den Budenbesitzern nicht doch noch zu begegnen und viel erklären zu müssen, waren wir zur Sicherheit ein paar Minuten landeinwärts gefahren und hatten an einer Kreuzung gehalten, an der eine Bushaltestelle mit einem halb verfallenen Wartehäuschen stand.
Sola biss in ein kaltes Würstchen, das sie aus einer Dose fischte, die sie aus der Imbissbude mitgenommen hatte.
»Deux« , sagte sie dann mit vollem Mund.
»Was?«
»Deux! Das sind zwei Fragen auf einmal. Aber okay. Ein Vogel hat mir gezwitschert von das Geld.«
»Dem Geld«, verbesserte ich sie.
»Wieso ›dem‹ Geld? Ist das Dativ?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich kann Deutsch nur sprechen, nicht erklären. In Grammatik bin ich schlecht.«
»Lustig. Bei mir ist es umgekehrt. Peu importe . Ich weiß nicht genau, wie viel Geld es ist. 108 Milliarden, ungefähr. Es ist Geld vom Osten. Sie wussten im Osten nicht, wohin mit ihrem alten Geld, als letztes Jahr euer neues Geld kam, von Westen.«
»Bei der Währungsunion?«
»Voilà . Sie hatten noch ihr ganzes altes Geld, aber keinen großen Ofen, um es zu verbrennen. Da haben sie es vergraben. Unter der Erde, in einem alten Stollen in Halberstadt. Also, in der Nähe von Halberstadt.«
»108 Milliarden Ostmark? Woher weißt du davon?«
»Hab ich doch gesagt, von dem Vogel.«
»Hör auf mit dem Quatsch. Und wie sollen wir an das Geld rankommen, es ist doch bestimmt bewacht wie in einer Bank.«
»Nicht mehr. Nicht mehr so richtig jedenfalls. Weil die Armee vom Osten, die das Geld bewacht hat, gibt’s ja auch nicht mehr so richtig.«
»Und du weißt den Weg in den Stollen?«
»Oui. Aber, mein kleiner Affe, du hältst dich wirklich überhaupt nicht an den règlement . Ich bin dran mit Fragen.«
»Okay.«
»Teilen wir das Geld vom Schatz, wenn wir es haben?«
Es war das erste Mal, dass Sola mich um etwas bat, und auch das erste Mal, dass sie mir eine Entscheidung überließ. Sie stand mit hängenden Armen vor mir auf dem heißen Asphalt, schaute mir angespannt ins Gesicht, so als wären tatsächlich mehrere Antworten denkbar.
»Natürlich«, sagte ich, während ich in ein Brötchen biss, das nach Pappe schmeckte.
Sofort atmete sie erleichtert aus und übernahm wieder das Kommando.
»Gut! Geklärt, fifty fifty!« Sie grinste mich breit an.
»Wozu brauchst du das Geld?«
»Ich muss meine Leute finden.«
»In Belgien?«
»Non, mein kleiner Affe. In Zaïre. Und ich will nicht mehr da sein, wo ich für alle nur ein komischer Mensch bin. Ich will woanders sein. Jetzt bin ich wieder dran mit Fragen! Was ist das beste Motto für dein Leben? In einem Satz.«
Mir fiel nichts ein. Ich dachte an 108 Milliarden. Wie viel Geld passt in einen Rucksack?
Weil mir nichts anderes einfiel, sagte ich: »Just do it?«
Sola lachte. »Just do it? Was Nike erfunden hat, um Turnschuhe zu verkaufen?«
»Ich find das ganz gut. Man muss Sachen doch einfach machen. Menschen trauen sich viel zu wenig. Ich traue mich viel zu wenig.«
»Du kämpfst mit Opas ohne Hose und brichst nachts in Häuser ein.«
»Komm schon. Du weißt, wie ich das meine.«
»Just do it … Menschen umbringen? Just do it … zu viel trinken, bis man kotzen muss? Just do it … kleine Kinder essen? Just do it … Bücher verbrennen …?«
»Just don’t do it klingt aber auch verkehrt«, unterbrach ich sie.
»Ist auch nicht richtig.«
»Hast du was Besseres?«
Sie schaute hoch zu den Wolken, die von der Sonne und dem Wind zu hübschen Figuren gerissen wurden.
»Ich suche noch was, deshalb frag ich ja. Neulich habe ich gelesen von einer psychologue , verstehst du?«
Ich nickte und trank einen großen Schluck Himbeerwasser aus der Imbissbude.
»Sie ist ganz alt und lebt in New York. Sie wurde gefragt nach einem Ratschlag für ein gutes Leben. Sie sagte: Mach dir ein Tattoo, auf den Arm, sodass du es jeden Tag anschauen kannst. Nur ein Satz. Der Satz ist: How important is it? «
»Wie wichtig ist es?«
»Bravo. Gut übersetzt. Spart viel Stress, wenn du dich das immer fragst, bevor du dir Probleme machst mit Entscheidungen: Ça a quelle importance? «
Sola grinste wieder, zufrieden mit sich und ihrer Geschichte.
Plötzlich klingelte das Telefon neben uns.
»Oh, lustig, ich wusste nicht, dass man das Telefon auch anrufen kann.«
Alle Welt verzog sich zu einem schiefen Bild. Ein unsichtbarer Riese schlang vielfach geflochtene Seile um meinen Körper, an deren Ende Eisenkugeln hingen, die mich in die Tiefe zogen. Obwohl ich aufrecht stand, hatte ich mit einem Mal das Gefühl, als würde ich kopfüber hängen, als wäre ich rückwärtsgestürzt, und all mein Blut würde sich in meinem Gehirn stauen, als würde mein Kopf gleich platzen, als würde …
»… doch einfach ran, ich bin …«
»… kann nicht …«
Ich sah Sola an und sah, dass sie mit mir sprach, aber ich hörte sie nicht, ich hörte nur das Klingeln des Telefons und das Rauschen des Blutes in meinem Kopf, es klingelte immer weiter, mein Blut müsste mir doch längst aus den Ohren fließen … es war absolut unmöglich, dass auch hier … die Anrufe kamen nur sonntags, immer nur sonntags, und nur in der kleinen Zelle …
»…kleiner A… warum ni…?«
Immer nur sonntags, das war das System. Das System hatte ich verstanden, und ich hatte nie jemandem davon erzählt, und es konnte doch nicht … und woher sollte er wissen, dass ich ausgerechnet hier … ich hatte alles gemacht, wie es mir aufgetragen war, ich wusste schon, wer anrief, ich wusste es, natürlich rief der Opa noch mal an, der Opa ohne Hose, und ich würde auf keinen Fall … der Riese zog die Seile noch fester um mich, und es war unmöglich zu atmen, ich …
Ich sah, wie Sola die Augen verdrehte, weil ich offenbar nicht reagiert hatte, wie sie es erwartete, und wie sie zum Telefon ging, so als wäre es nichts, und sie nahm den Hörer ab, und ich hörte eine Grille im Sonnenblumenfeld, die bestimmt sechshundert Meter entfernt sein musste, wie konnte das sein? Sola drehte sich zu mir um, sie schaute mich ganz anders an als sonst, als hätte ich eine Frage beantwortet, die sie nie gestellt hatte, ihre Augen funkelten, aber ihre Hand war ganz ruhig. Sie hielt den Hörer in meine Richtung und winkte mich mit ihrer freien Hand zu sich, meine Panik schien sie nicht zu bemerken, und ich stand tatsächlich auf. Wie gelang mir das nur? Und dabei schüttelte ich den Kopf, aber sie winkte weiter, sie schaute ernst, noch ernster als sonst. Die paar Schritte zu Sola, zum Telefon selbst, schien ich nicht zu gehen, sondern voranzufließen, Blut rauschte immer lauter in meinem Kopf, das System war doch ganz sicher, nur sonntags … oder nicht?
»Pour toi.« Sie reichte mir den Hörer.
Ich wollte ihn nicht nehmen.
Ich nahm ihn aus ihrer Hand.
Sola blieb neben mir stehen.
»Er sagt, er will dich.«
Bitte. Ich … Bitte. Bitte, bitte nicht.
Ich hielt den Hörer an mein Ohr gepresst. Mir liefen Tränen über das Gesicht.
»Du Pisser, du kleiner verschissener verlogener Pisser, du hast das Buch nicht zerstört. Ich weiß es, und das Geld hast du auch, mein Geld, und ich finde dich überall, du schuldest mir was. So lange, bis …«
Ich schrie, und ich knallte den Hörer so heftig auf die Gabel, dass der Kunststoff brach, und dann …