M ein kleiner Affe, vielleicht sind da noch Soldaten, also Achtung.«
Wir hatten das Auto am Rande eines Feldwegs geparkt und wollten warten, bis es dunkel werden würde, dann waren wir doch eingeschlafen. Nach Mitternacht wachte ich auf und weckte Sola, die zusammengekauert auf der Rückbank schlief. Ihre Hand hatte im Schlaf gezittert. Mein Rücken schmerzte, weil ich in verdrehter Position auf dem Beifahrersitz halb gelegen, halb gesessen hatte, die Kante des Sicherheitsgurtes hatte eine tiefe Spur auf meiner Backe hinterlassen. Wir nahmen die beiden Rucksäcke mit und die Taschenlampe und machten uns auf. Nur Sola wusste, wohin. Sie ging vor mir durch den dichten Laubwald, ohne zu überlegen, ohne einmal zu zögern, wir liefen auf schmalen Wegen, die immer schmaler wurden. Hochsommerholz brach unter unseren Schritten. Wie viel freundlicher so ein Wald aus Erlen, Eichen, Buchen war im Vergleich zu den düsteren Fichtenwäldern bei uns.
Irgendwann standen wir vor einem Zaun, und Sola erzählte mir von den Soldaten.
»Was für Soldaten?«, fragte ich.
»Euh , ich weiß nicht genau. Hier steht was von Militär. Vielleicht sind die doch noch da.«
»Militärisches Sperrgebiet der Nationalen Volksarmee – Zutritt strengstens untersagt«, stand auf einem Schild, das an einem etwa drei Meter hohen Stacheldrahtzaun vor uns befestigt war.
»Ich bin nicht sicher, aber: Gibt’s noch eine Armee, wenn es das Land von die Armee nicht mehr gibt?«
Ich schaute sie ratlos an.
»Vielleicht ist es ein altes Schild? Vertrauen wir auf Glück, n’est-ce pas ?«
Ich dachte an den Geschichtsunterricht in der Schule, an die Referate zum Schießbefehl an der Mauer, an Schäferhunde an langen Leinen, an Elektrozäune.
»Ich weiß nicht recht. Was, wenn sie schießen?«
Sola ignorierte mich und lief weiter. Nach einer Weile blieb sie stehen und grinste mich an.
»Regarde!«
Sie zeigte auf ein Loch im Stacheldraht. Jemand hatte den Draht senkrecht aufgeschnitten und dann vom Boden aus nach oben gebogen, weit genug, dass wir hintereinander unter dem Zaun durchkriechen könnten.
»Mach die Robbe!«, rief sie mir zu.
Ich legte den Rucksack ab und zwängte mich am Waldboden entlang auf das eingezäunte Gelände. Als ich drüben war, warf mir Sola erst meinen, dann ihren Rucksack über den Zaun zu.
Dann kroch sie hinterher, stand auf, klopfte sich einmal über die Hose und blickte mich voller Vorfreude an: »Glück ist überbewertet, mein kleiner Affe. Ich wähle Abenteuer über Glück, toujours .«
Wir liefen gebückt durch den Wald, ich hatte das letzte bisschen Orientierung verloren. Sola blickte angespannt zu Boden, sie schien Schritte zu zählen oder Wegmarken zu suchen, die nur sie sehen konnte. Durch meinen Kopf wirbelten die Erinnerungen an die vergangenen Tage wie Artisten bei einer Zirkusaufführung. Ich hatte beinahe zum ersten Mal in meinem Leben die Brüste eines Mädchens berührt und war dafür fast erschlagen worden von einem Alten ohne Hose. Der wahrscheinlich wegen mir starb. Ich war in ein Haus eingebrochen und wurde anschließend vom Besitzer desselben Hauses verarztet. Ich hatte meine Mutter angelogen, mehr als einmal. Ich hatte ein unheimliches Buch mit unheimlichen Nackten gesehen, zu dem mich ein Toter geführt hatte und das nicht brennen wollte. Ich besaß mehr Geld, als meine Familie je besessen hatte, und konnte es nicht ausgeben. Ich war mit einem Mädchen ohne Führerschein durch halb Deutschland gefahren, ohne zu wissen, warum. Jede einzelne dieser Erinnerungen war noch ganz frisch, aber zugleich waren sie schon wieder unscharf. War das wirklich alles passiert? Für den Moment nahm ich die Welt einfach an, wie sie war, für alles andere fehlte mir die Kraft. Unmögliches war lange schon möglich, Undenkbares passierte einfach. Und was davon ich mir selbst später noch glauben würde, konnte ich in diesem Moment nicht sagen.
Ich erinnere mich, wie er mich kitzelte, als wir nebeneinander auf dem Sofa lagen, und wie ich vor Lachen kaum noch Luft bekam und wie mir das Kitzeln zu viel wurde und ich nichts sagen konnte vor Lachen und in meiner atemlosen Verzweiflung lachend ausholte und ihm mit der Faust ins Gesicht schlug. Sein Blick, Überraschung und verständnisloser Schmerz, und wie er wortlos von mir abließ, seine Brille abnahm, die durch meinen Schlag gebrochen war.
Ich erinnere mich, wie wir beide mit Buntstiften ein Schiff malten und seines so viel schöner war als meines und wie ich mein Bild zerknüllte und neu begann, diesmal verzweifelt sein Bild kopierend, was wieder nicht gelang.
Trauben und Baguette am Strand, das ist eher ein Geschmack als ein Bild. Das Geräusch von Wellen. Waren wir doch einmal am Meer, als ich noch kleiner war? Ich erinnere mich nicht, und Familienfotos gab es keine, wir besaßen nie eine Kamera. Wünschte ich mir einen Urlaub am Meer so sehr, dass mein Verstand eine Erinnerung erfunden hatte?
Ich erinnere mich, wie wir überreife Kirschen klauen von einem Baum im Kinzigtal, wie ich barfuß auf seine Schultern steige und weiter auf das warme Holz des Baumes, eine für mich, eine für ihn, ich warf sie ihm hinunter. Das Abendlicht fiel schräg durch die Blätter. Und wie er rief: »Die ganz oben lassen wir den Vögeln!« und dass ich fast vor Stolz platzte, weil mein Vater mir zutraute, dass ich bis in die Krone des Baumes klettern könnte.
Ich erinnere mich nicht an einen letzten Blick, einen Abschied, eine Umarmung.
Wie konnte er weggehen, ohne mich noch einmal zu halten?
Oder hatte ich es nur nicht gespürt?
Sola und ich standen vor einer tiefen Schlucht, die sich im Nachtdunkel vor uns auftat. Tief genug, dass man sich die Beine brechen würde, wäre man dumm genug zu springen. Die Schlucht war breit genug für einen Lastwagen. Am Ende der Schlucht versperrte ein gewaltiges Eisengitter den Eingang zu einem Tunnel, gelb strahlende Lampen beleuchteten die Tore links und rechts vom Boden aus, zwei dicke Luftröhren führten an der Decke entlang in den Stollen hinein. Allerlei Schilder hingen an den Gittern, beschriftet mit einzelnen Buchstaben und Piktogrammen. Eine schwere Eisenkette war um das Metall geschlossen, ein Blechkasten hing an der grob behauenen Felswand. Keine Wachen. Niemand zu sehen.
»Müssen wir da rein?«, flüsterte ich.
»Geht nicht, ist zu, siehst du doch. Das muss die Schlucht sein, die heißt wie ein Vogel, der schön singt.«
»Nachtigallenschlucht.«
»Das Wort ist echt schwierig. Frag nicht, warum die so heißt, ich weiß es auch nicht. Wir steigen woanders ein.«
»Was ist mit den Soldaten?«
»Bah , es ist spät, ich hoffe, die schlafen.«
Sie lief am Abgrund zur Schlucht entlang und winkte mich weiter.
»Viens!«
Wir querten oberhalb des Tores. Plötzlich schepperte aus dem Blechkasten am Eingang ein Klingeln. Ein Telefon.
Wir warfen uns auf den Boden. Der Alte.
Ich schaute zu Sola hinüber. Sie sah mich mit großen Augen an und hielt einen Finger vor die Lippen.
Unten quietschte das Eisentor. Jemand öffnete den Blechkasten.
»Jawoll?«
Ich griff nach Solas Hand.
»Hallo?«
Eine Pause. Ich biss mir auf die Unterlippe.
Eine zweite Stimme rief unten: »Was denn?«
»Nüscht zu hören«, sagte die erste Stimme.
»Er verfolgt uns!«, flüsterte ich Sola zu. »Das ist der Opa ohne Hose! Aber wie kann er uns sehen?«
»Ich glaube nicht, dass er es ist. Und selbst wenn: Sie können ihn nicht hören, und er kann nix machen«, flüsterte Sola nach einer Weile.
Als unten das Eisentor wieder geschlossen worden war, schlichen wir weiter durch den Wald. Das Licht aus der Schlucht war bald nur noch ein fahler Streifen hinter uns. Ich war immer noch erstaunt, wie Sola sich im Dunkeln orientieren konnte, nur mit dem dünnen Lichtkegel der Taschenlampe vor sich.
Irgendwann blieb sie vor einem Brombeerstrauch stehen und leuchtete sich ins Gesicht, damit ich ihr zufriedenes Grinsen sehen konnte.
»On y est.«
Sie leuchtete mit der Taschenlampe auf den Strauch, dahinter sah ich dunkelbraunes Mauerwerk, etwa hüfthoch. Sola begann, die Äste des Strauches zur Seite zu ziehen, und fluchte, weil sie sich dabei die Fingerkuppen zerstach. Ich half ihr mit meiner gesunden Hand und stach mich auch, versuchte aber, den Schmerz zu unterdrücken. Die Äste waren überraschend leicht zu bewegen, offenbar waren sie eher nur über den Aufbau gelegt als daran festgewachsen. Vor uns lag nun ein Metallgitter über einem Backsteinquadrat, einen großen Schritt breit. Als wir das Gitter an einer Seite anhoben, quietschten die beiden rostigen Scharniere laut, an denen es auf der anderen Seite befestigt war. Aus den Bäumen flatterte erschrocken kreischend ein Vogel auf.
Wir hielten inne.
Nichts.
Wir öffneten das Gitter ganz, und Sola leuchtete in das Quadrat hinein. In die Wand waren Metallstreben eingelassen.
»Hier geht’s zum Schatz.« Sola leuchtete mir ins Gesicht. »Viens!«
»Du zuerst.«
»Non , ich muss dir leuchten.«
Hatte sie Angst? Das beunruhigte mich wiederum. Ich atmete tief ein. Ein Abenteuer.
»Wenn wir jetzt da runtergehen: Kommen wir auch wieder raus, Sola?«
Sie lächelte.
»Versprechen kann ich nichts. Aber: ›Der Gedanke, dass es gut ausgehen kann, ist von entscheidende Bedeutung.‹ Sagt Max Horkheimer. So ungefähr.«
»Sehr ermutigend.«
Die Stufen waren stabil, aber rutschig. Der Rucksack auf meinem Rücken schubberte gegen die gegenüberliegende Wand, als ich immer weiter abwärtsstieg. Zwanzig Stufen. Fünfundzwanzig? Ich hatte nicht mitgezählt. Als ich am Boden ankam, war das Taschenlampenlicht von Sola über mir noch zu sehen, blendete mich aber nicht mehr. Ich traute mich nicht, zu rufen, und winkte ihr als Zeichen, dass ich unten angekommen war. Während sie abstieg, flackerte das Licht unruhig in alle Richtungen, sie musste es an ihrem Rucksack befestigt haben oder hielt die Lampe im Mund, um die Hände zum Klettern frei zu haben.
Es war kalt hier unten und roch beißend, wie die Chemikalien in einem Bauarbeiterklo. Ich ahnte die Konturen eines Tunnelgangs aus unregelmäßig geschlagenem Stein. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit des Waldes gewöhnt – aber hier war es noch finsterer.
Als Sola neben mir stand, leuchtete sie nach links und rechts. So weit das Licht reichte, war ein Höhlenweg zu sehen, drei Mann hoch und breit genug für einen Lastwagen.
»Unheimlich. Wie weit geht das?« Obwohl ich flüsterte, hallte meine Stimme weit durch den Raum.
»Wie unendlich.«
An den Wänden waren Markierungen zu sehen, Pfeile in alle möglichen Richtungen, schief, wie im Vorbeigehen von Hand aufgemalt, daneben aber auch offiziell gepinselte Wegzeichen aus Buchstaben und Zahlen an jedem Abzweig, die offenbar einem System folgten und Orientierung versprachen für diejenigen, die sie lesen konnten. Sola lief nach rechts. »Wir folgen die grünen.« Sie leuchtete an die Wand, und jetzt erst erkannte ich einen kleinen grünen Kreidepfeil, der weit unten angezeichnet war, fast am Boden, fast nicht zu sehen.
Der Weg war uneben, aber wir entdeckten bald, dass in der Mitte des Bodens eine Spur Gleise verlegt worden war. Steine in verschiedenen Größen lagen umher, wir mussten bei jedem Schritt vorsichtig auftreten. Wir schienen abwärtszugehen, immer tiefer in den Berg, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Etwa alle fünfzig Schritt standen wir an einer neuen Kreuzung, immer waren die Wegzeichen zu sehen: B 3 Ost , W 7 Ost , K 17. Ich fühlte mich an den Technikgang im Krankenhaus erinnert, aber hier verstand ich das System noch weniger.
»Wer hat das alles gegraben?«, fragte ich Sola.
»Tausende Menschen, die dazu gezwungen wurden. Viele von ihnen sind dabei gestorben. Die Nazis nannten es ›Projekt Malachit‹. Unter der Erde wollten sie Raketen bauen für ihren Krieg. Aber der Krieg war zu Ende, bevor sie hier irgendwas bauen konnten. Der Stollen ist geblieben.«
Ich sah sie fragend an, aber sie schaute konzentriert zu Boden und an die Steinwände und versuchte, uns beiden zugleich den Weg zu leuchten.
Wir folgten den Gleisen.
Dann schaute sie mich doch kurz an.
»Spürst du sie nicht?«
Ehe ich antworten konnte, hörten wir Stimmen. Und Schritte.
Ich erstarrte. Sola leuchtete einmal zur Seite, wir standen an einer Kreuzung, sie zerrte mich in einen Gang nach links, weg von den Gleisen. Bei einem letzten Blick nach vorn sah ich zwei Männer in Uniform in unsere Richtung rennen, das Licht von Grubenleuchten wackelte im Takt ihrer schnellen Schritte, sie hielten Gewehre in der Hand. Eigentlich waren sie zu weit entfernt, als dass ich ihre Gesichter hätte erkennen können, aber mir schien dennoch, als hätte ich beide deutlich gesehen und als wären sie ebenso überrascht gewesen wie wir.
»Halt!«, schrie einer.
»Stehen bleiben!«, der andere. Sie kamen schnell näher.
Ich stieß mir das Knie an einer Felskante, greller Schmerz schoss durch mein Bein, durch meinen ganzen Körper, ich heulte laut auf.
»Wer da?«, schrie wieder eine der Männerstimmen. Sie klang tief, wie die von Hoss Cartwright aus Bonanza .
»Vite!« , rief Sola. Sie nahm mich an der Hand und zog mich hinter sich. »Halt dich an meinem Rücken, lauf juste hinter mir!«
Sie rannten hinter uns her. »Stehen bleiben! Bleibt sofort stehen!«, rief die zweite Stimme.
Sola schaltete das Taschenlampenlicht immer wieder kurz ein, um den Weg zu sehen, dann wieder aus, damit wir möglichst unentdeckt bleiben konnten.
Mein Bein schmerzte höllisch. Ich humpelte hinter ihr her, immer wieder durch völlige Nachtschwärze, meine Hände hielten ihre Hüfte.
Laute Rufe hinter uns. Stehen bleiben! Halt!
»Plus vite!«
Wir rannten, so schnell ich konnte. Sola schlug Haken, wann immer wir an eine Abzweigung kamen, ich hörte, wie sie sich selbst den Weg zuflüsterte … Gauche … Gauche … Droite … Gauche …
»Achtung! Wir schießen!«, wieder die erste Stimme, viel heller als die zweite, jünger.
»Sola!«, schrie ich. Ich hatte Angst.
»Die schießen nicht.« Sie war auch außer Atem. »Vite!«
Ich bückte mich unwillkürlich. So bot ich weniger Fläche, falls die Soldaten wirklich schießen würden. Dann fiel mir auf, dass ich ja direkt hinter Sola lief und ihr Schutz bieten konnte. Dann schießt lieber auf mich. Ich richtete mich wieder auf.
Immer wieder stieß ich mit den Füßen gegen Steine, knickte um, auch Sola stolperte, aber wir fielen nicht und rannten.
Gauche … Droite … Droite … Immer weiter.
Wer hatte all diese Tunnel gegraben?
Warum waren die Soldaten immer noch hinter uns?
Die ätzende Luft schmerzte in meinen Lungen, ich schwitzte, humpelte, die Schmerzen in meinem Knie waren kaum auszuhalten.
»Ich kann nicht mehr!« Meine Stimme war rau geworden wie bei einer Bronchitis.
»Ich auch nicht!«
Nichts mehr zu hören von unseren Verfolgern. Sola knipste die Taschenlampe an und schlug einen letzten Haken … Gauche … Dann blieb sie so plötzlich stehen, dass ich gegen ihren Rücken prallte.
»Muss mich … attends «, keuchte sie. Sie knipste die Taschenlampe wieder aus. »Licht bleibt aus.«
Ich tastete an der Wand entlang bis zum Boden, kickte mit dem Fuß ein paar Steine aus dem Weg und setzte mich, mein Kopf hing vor Erschöpfung zwischen meinen Knien. Das rechte Knie hielt ich mit meiner rechten Hand.
»Bleiben wir leise«, flüsterte Sola.
»Okay.«
»Atme nicht so laut.«
Ich hörte meinen raschen Atem und spürte mein pumpendes Herz, sonst blieb es still.
Dann hörten wir die Soldaten wieder. Schritte.
»Chut!« , machte Sola.
Ich nickte, obgleich ich wusste, dass sie mein Nicken nicht sehen konnte. Hier unten herrschte völlige Finsternis, ein anderes, tieferes, vollständigeres Dunkel als das Dunkel der Nacht. Wir standen auf und drückten uns nah zueinander in eine schmale Felsspalte. Sola vor mir.
Die Schritte kamen näher. »Rauskommen!«
Die dunklere Stimme. Hoss Cartwright.
Er würde sicher nicht schießen, dachte ich.
Oder?
Sola presste sich von vorn an mich, ich konnte ihr festes, elastisches Haar riechen und den schweren Duft vom Schweiß ihres Körpers. Der Kunststoff des Rucksacks auf ihrem Rücken raschelte leise gegen mein Gesicht.
Sie tastete nach meiner Hand und umschloss sie. Dann drückte sie meine Hand zweimal.
So wie es mein Vater oft macht. Ich stehe über ihm, im Kirschbaum, und schaue in sein glückliches Gesicht, eine für mich, eine für ihn. Ich pflücke die Kirschen, versuche, sie ihm direkt in den Mund zu werfen, manchmal gelingt es. Die Kerne spuckt er in hohem Bogen in die Landschaft, er hat es raus, sie fliegen weit, weiter noch als meine, obwohl ich sie von viel weiter oben spucke. Ich frage ihn, ob Kirschenklauen nicht verboten sei, er spricht von Mundraub, das sei erlaubt, solange man wirklich Hunger leide, und das tun wir ja wohl, oder nicht? Ich nicke und esse und werfe und spucke. Ich setze mich oben auf einen dicken Ast.
Du bist noch da, solange wir an dich denken, oder?
Die Schritte der Soldaten wurden leichter, leiser. Sie hatten sich wohl aufgeteilt, es schien nur noch der ältere Soldat in unserer Nähe zu sein.
»Haben Sie sie?« Ein Ruf von fern. Die andere, hellere Stimme.
»Noch nicht!« Hoss Cartwright. Nicht weit weg.
Sola drückte meine Hand zweimal.
Der Aufstieg zur Burg Falkenstein ist nicht lang, aber steil. Hier ist das Tal noch enger. Die Schiltach rauscht heute mit viel Wasser, die Heidelbeersträucher am Wegrand sind schon abgeerntet, der alte, weiche Stein trägt Moos und gibt unter meinen Schritten nach. Geh nicht hin, hatte meine Mutter gesagt, aber mich doch gehen lassen. Mit welchen Gedanken ist er hier hinauf, das Abschleppseil bei sich? Wie entschieden muss er gewesen sein, um diesen Weg zu gehen? Und warum hier? Wem wollte er sich zeigen? Wem wollte er hier nah sein, oder fern? Die roten Steine der Ruine liegen verteilt, an manchen Stellen ahnt man noch ein Fenster, eine Feuerstelle, und eingelassen in die einzige Mauerwand, die hier seit dem Mittelalter steht und noch steht, ein Eisenring. Der Absatz einer Schießscharte in einigem Abstand darunter, da hinauf, ja, so, wird er gedacht haben, so könnte das reichen.
Ich legte meinen Kopf auf Solas Rücken, der leere Rucksack war im Weg. Sie ließ es geschehen, auch wenn es für sie eine weitere Beschwernis bedeuten musste. Sie hielt noch immer meine Hand.
Die Schritte von Soldat Hoss Cartwright entfernten sich.
Sie entdeckten uns nicht.
Ich hörte Sola wimmern.
»Was ist?«, flüsterte ich von hinten in ihr Ohr.
»Spürst du sie nicht?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Mach die Augen zu, mein kleiner Affe.«
Ich schloss meine Augen.
Dann seh ich sie.
Sie sind umgeben von ihrem eigenen Leuchten und kommen aus dem Dunkeln auf uns zu. Zuerst nur wenige, ich merke mir ihre Namen und vergesse sie nie mehr. Jean-Baptiste Durand, der Gendarm aus Pluherlin. Roelof Elsinga aus Maarsbergen, auch ein Polizeibeamter. Ich sehe ihre kurz geschorenen Köpfe, vor der Zeit grau gewordene Haut, vom Hunger kantige Wangen. István Tohl, der nur einen Tag nach Ajzyk Abramowicz hier ankam. Jerzy Domański. Ihre Augen liegen tief in den Höhlen und strahlen in seltsam leuchtendem Schwarz, so wie ein reinschwarzer Turmalin auch in einer finsteren Nacht deutlich zu erkennen wäre, als schönstes, durch und durch dunkelstes Dunkel. Carlo Garlatti, kaum älter als Sola, ein Student aus dem Friaul, von Jungs aus seinem Dorf als Kommunist denunziert. Dann kommen auch all die anderen, immer mehr, nur Männer, in zerschlissenen Hemden, manche mit Wolljacken darunter, aus denen die Zeit und das Unglück die Fäden gelöst haben. Sie sind allesamt barfuß. Ich sehe ihre Hände, die eingerissenen Nägel, verschorfte Ballen, ich möchte sie halten, umarmen, trösten, aber berühren kann ich sie nicht, sie sind sichtbare Wesen, aber körperlos, wie menschliche Wolken. Sie sprechen in all ihren Sprachen, keinen von ihnen verstehe ich, alle verstehe ich, Italienisch, Ungarisch, vielleicht Polnisch, Tschechisch, ernste, kehlige, kernige Laute, ich höre ein paar Worte Französisch, Holländisch, einer auf Deutsch. Ich stehe stumm vor Mitleid und Angst vor ihnen, bewegungslos, ich fürchte mich, auch nur einen Schritt zu tun und mit diesem Schritt durch die Männer hindurchzugehen, sie dadurch zu verletzen, noch mehr zu verletzen.
Sola weint.
Tausende Männer haben diesen Stollen gebaut, in kaum einem Jahr, sie wurden gezwungen, ihn zu bauen, und sind dabei gestorben. Es sind immer mehr, von allen Seiten drängen sie zu uns, und Sola nimmt sie auf, sie breitet ihre Arme aus, lässt sie zu sich, hält dabei meine Hand, und wie kleine, heftige Schockschläge spüre ich jeden Einzelnen von ihnen in meinem Körper, spüre all ihr Leid, all ihren Schmerz, die Entbehrungen, den Kummer, die Wut, die Ausweglosigkeit, die Sorge, die Angst, die Einsamkeit, die Sehnsucht, die Folter, die Qual, die Liebe, Freundschaft, den Hunger, den Durst, die Trauer, höre all ihre Geschichten in all ihren Sprachen, die dadurch meine Sprachen werden, sie hinterlassen sich mir, sie geben sich mir zu tragen, und nichts davon kann ich tragen, das Schicksal jedes einzelnen dieser Männer wäre zu viel zu tragen, wer bin ich schon. Ich strecke meine andere Hand nach Sola aus, und Sola, die doch immer alles weiß und alles kann, hält auch meine zweite Hand, hilflos schluchzend vor mir, sie will die Männer trösten, umarmen, sie lässt mich los und greift nach ihnen wie nach Schatten, und dann sind die Männer verschwunden und doch für immer bei uns.
»Du hast sie auch gesehen, oder?«, flüsterte ich weinend.
»Oui.«
»Was wollten sie?«
»Zu uns. Zu irgendwem. Unglückliche Menschen wollen nicht alleine sein, auch nicht, wenn sie gestorben sind.«
»Es waren so … so viele.«
»Oui.«
»Warum können wir sie sehen?«
»Ich weiß nicht, mein kleiner Affe. Vielleicht sind wir so was wie Engel.«
Ich blieb stumm. Ich fürchtete die Finsternis hier unten, und doch war all das hier nur im Dunkeln zu ertragen.
»Also ich, für mich … ich bin ziemlich sicher ein Engel. Bei dir weiß ich nicht. Vielleicht bist du ein halber Engel. Oder du wirst es noch.«
Dann flüsterte sie noch leiser: »Ich kenne deine Maman schon.«
»Wie meinst du das?«
»Ich hab sie schon mal gesehen. Am Meer.«
Und wir saßen weiter in der Dunkelheit, manches macht das schwerer, manches macht das auch leichter. Und Sola erzählte, noch immer zitternd, aber mit fester Stimme, wie sie mit Vincent am Atlantik war, ein Ausflug, zur selben Zeit, als auch ich in Frankreich war und mit Olivier in der Schule saß. Und dass sie eine Frau am Strand sitzen sah, auf einem kleinen Handtuch, in ihrer hellblauen Arbeitskleidung und mit einem Namensschildchen an der Brust, auf dem »Schwester Ursula« stand, mit blauen und grünen Trauben vor sich und einer Flasche Wein, und wie sich die Wellen aufs Weißwasser rollten und wie die Frau zum Horizont schaute und nicht mehr aufhören konnte zu weinen.
»Ich hab mich zu ihr gesetzt.«
Und meine Mutter schaute dankbar und schwieg, Sola nahm sie in den Arm, meine Mutter wurde viel zu selten in den Arm genommen, und sie weinte laut, ein Heulen, rau vor Verzweiflung, und die Wellen rollten weiter heran, und ihr Heulen war lauter. Dann malte sie ein Gesicht in den Sand und schaute Sola an, und Sola nickte, und das Meer kam näher und überspülte das Bild, und das Handtuch wurde nass, und niemand bewegte sich, und sie hielt meine Mutter noch lange, bis eine weitere Welle kam, die Flut setzte ein. »Allez« , sagte Sola und nahm der Frau den kleinen Stock aus der Hand und malte auch ein Gesicht in den Sand, und ein zweites dazu, und meine Mutter schaute sie an und nickte, und die beiden umarmten sich, bis meine Mutter die Umarmung löste und Sola noch einmal genau ansah. »Merci«, sagte sie wohl, so leise, dass es niemals im Weltenprotokoll vermerkt werden würde, und dann drehte sie sich um, und die Trauben und den Wein hatte das Meer hinfortgespült, und sie ging zurück zu ihrem kleinen roten Auto, barfuß, in Arbeitskleidung, ihre Schuhe in einer Hand, die Socken darin, und auf halbem Weg drehte sie sich noch mal um, und Sola, die stehen geblieben war, winkte ihr, und meine Mutter winkte ihr zurück.
»Sie war am Meer. Da wollte sie immer hin.«
»Oui , mein kleiner Affe.«
»Hat sie dich wiedererkannt?«
»Ich denke schon.«
»Deshalb hat sie dir auch das Auto einfach so gegeben.«
»Possible.«
»Haben Sie hier bereits nachgesehen, Herr Obergefreiter? C06 Ost?«
Die helle Stimme. Der junge Soldat.
»Woher soll ich das noch wissen.« Das war Hoss.
Ein harter, heller Lichtkegel leuchtete in den Gang, in dem wir, an die Wand gedrängt, in einer Felsspalte kauerten.
»Nix.«
Ein trockenes Husten. »Verdammte Luft hier unten. Verdammte Geldratten. Weiter! Und halt mal die Knispel nicht so, dass du dir damit selbst in den Fuß schießt, Sprutze.«
»Was ist meine Knispel, Herr Obergefreiter?«
»Na, die Kalaschnikow in deiner Hand, Soldat. So nennen wir die hier.«
Die beiden Soldaten entfernten sich.
»Wo sind die nur reingekommen, Herr Obergefreiter?«
»Keine Ahnung. Aber die Frage ist: Kommen sie je wieder raus?«
»Sie haben sie ganz schön gejagt!« Devotes Kichern der hellen Stimme.
Stille.
Mir fiel auf, dass ich die Luft angehalten hatte. Ich atmete laut aus und tief ein. Die bittersaure Luft brannte immer schlimmer in meinen Lungen.
»Wieso konnten wir die Männer sehen, die den Stollen hier gegraben haben?«, flüsterte ich zu laut.
»Mon Dieu , mein Affe … woher soll ich alles wissen? Dich rufen die Toten an, wir stehen in einer Grube am Ende der Welt, wundert dich noch irgendwas?«
Sie hatte recht.
Ich wusste noch alle Namen der Männer, ich sah sie vor mir als die Kinder, die sie mal gewesen waren, als die Liebenden, die Geliebten, die Freunde. Ich hatte Durst und wollte mir nicht erlauben, Durst zu haben, denn wie schlimm war der Durst, den diese Männer gelitten hatten?
Sola knipste die Taschenlampe an.
»Ça va , mein kleiner Affe?« Sie leuchtete auf meinen Bauch, um mich nicht zu blenden.
Ich nickte tapfer. Sola zog mich aus der Felsspalte heraus.
»Was macht das Bein?«
»Wird schon. Weißt du, wohin wir gehen müssen?«
»Pas du tout.«
»Was?«
»Ich hab kein Plan. Viens. «
Wir liefen nach Gefühl durch die Dunkelheit. Rechts. Rechts. Links. Rechts. Die Markierungen halfen uns nicht mehr weiter. Links. Links. An jeder Kreuzung lurten wir vorsichtig um die Ecke, aber von den beiden Soldaten war nichts mehr zu sehen. Mein Bein schmerzte weiter, aber Sola leuchtete stets nur einen Meter vor uns auf den Boden und bemerkte mein Humpeln nicht.
»Sola?«
»Oui?«
»Wo ist Zaïre?«
»Mitten in Afrika.«
»Bist du da geboren worden?«
»Oui. In Lubumbashi, die Hauptstadt von die Provinz Katanga.« Sie sprach voller Stolz. »Wir haben dort, was alle wollen: Kupfer. Kobalt. Auch Diamanten, behaupten manche, aber Diamanten gibt es eigentlich nur in Kasai. Deshalb sind immer viele Weiße gekommen. Erst haben sie die Menschen gestohlen. Dann das Land. Dann alles darunter. Viele von den Weißen werden reich. Zaïre bleibt arm.«
»Und du?«
Sie ignorierte meine Frage. »Wir haben vier Sprachen. Kikongo, Lingala, Swahili und Tshiluba. Und wir haben Gorillas. Und mehr Schmetterlingsarten als in jedem anderen Land der Erde. Aber jetzt ist Krieg.«
»Ein großer Krieg?«
»Oui. Alle kämpfen gegen Mobutu. Der ist brutal. Und Mobutu kämpft gegen alle.«
»Und du?«
»Ich bin lang weg. Mein Großvater Papa Nkasi wurde von einem Mundele, einem Weißen, nach Belgique mitgenommen. Ein Händler für Kobalt. Er hat ihn Diener genannt, aber wie ein Sklave gehalten. Und dann wieder zurückgebracht. Mein Großvater durfte eine Frau heiraten, der Mundele hat es erlaubt. Sie wurde meine Oma, Faradje. Dann musste er wieder mit dem Händler gehen und alle zurücklassen. Meine Oma hat meinen Vater geboren, Augustin Amboulou. Mein Vater hat eine Frau geheiratet, Keithsa, meine Mutter. Sie hat mich gekriegt in Lubumbashi. Dann haben sie mich auf die Reise gegeben. Nach Belgique , zu den anderen Kindern von meinem Opa. Für meine Bildung. Ich war sieben. Ich wollte nicht weg, aber ich musste. Die anderen en Belgique wollten mich nicht. Also war ich allein. Bis ich Vincent fand. Und er mich.«
»Warst du traurig?«
»Oui , mein kleiner Affe. Aber dann hab ich was entdeckt.«
»Was denn?«
»Glücklich zu machen ist überhaupt nicht schlechter als glücklich zu sein.«
Ich überlegte. Stimmte das?
»Als ich zum Beispiel deine Maman am Meer gesehen habe – da habe ich irgendwie gewusst, dass ich da bin, um sie glücklicher zu machen. Oder zumindest, um sie zu retten. Und wenn ich das schaffe, macht mich das glücklich.«
»Sola?«
Meine Frage kam mir so albern vor, dass ich eine Pause machte.
»Wie lange bist du schon ein …«
»… ein Engel? Ich weiß nicht. Vielleicht seit ich aus Zaïre weg bin. Vielleicht bin ich auch kein Engel, sondern nur ein super Mensch. Oder verrückt, weil ich Stimmen von Toten höre.«
»Du bist nicht verrückt, Sola. Du bist …«
In diesem Moment stolperte ich über ein Bahngleis und fiel.
»Qu'est-ce qui t'arrive?«
Sola leuchtete zu mir und half mir auf. Dann sahen wir das Loch in einer gewaltigen grauen Betonwand.
»Regarde! Das Geld, mein kleiner Affe, wir haben es gefunden!«
Wir liefen die letzten Schritte bis zu dem Loch. Am Boden lagen bereits zahllose Geldscheine. Ich begann, sie einzusammeln, konnte aber bald nichts mehr sehen, weil Sola mit der Taschenlampe in der Hand durch das Loch geschlüpft war. Ich hörte einen leisen Freudenschrei auf der anderen Seite der Wand und folgte ihr.
Es war mehr, als man sich vorstellen konnte. Von Erde und Dreck halb verdeckte Hügel von Scheinen, zum Teil noch in Plastik verpackt, zum Teil in Bündeln, zum Teil einzeln, manche halb verrottet, zerrissen, zerknickt, andere noch wie neu, grauschwarze Fünfmarkscheine, grüne Zwanziger, blaue Hunderter mit einem Mann darauf, der einen mächtigen weißen Bart trug, Zweihunderter, Fünfhunderter, das Geld füllte den Tunnel, so weit wir im Taschenlampenlicht sehen konnten. Riesige Berge von Geld.
Sola schrie noch mal auf und flüsterte zugleich. »Wir sind reich!«
Ich lachte und nahm den Rucksack von meinen Schultern. Die Scheine, die ich draußen schon eingesammelt hatte, ließ ich fallen, es waren zumeist Fünfmarkscheine und Zehnmarkscheine. Stattdessen sammelte ich die großen Scheine ein. Hunderter. Zweihunderter. Fünfhunderter.
»Man kann das Geld auf der Bank tauschen«, erklärte ich Sola, während ich hektisch Geld einsammelte. »Gegen unser Geld. Das haben die alle gemacht, ich hab’s in den Nachrichten gesehen. Und wenn wir das auch machen, dann sind wir wirklich reich!«
Sola hatte die Taschenlampe auf einen Geldscheinhügel gelegt und ebenfalls schon begonnen, ihren Rucksack vollzustopfen.
»Mit so viel Geld kann ich nach Hause.«
Schweigend strahlend erstellte ich eine Liste der Dinge, die ich mir kaufen würde:
Einen Trainingsanzug von Kappa.
Ein Haus wie das der Wolframs, mit Bibliothek.
Ein neues Auto.
Ein Haus am Meer. Mit Pool und Sonnenschirm.
Eine Nagelschere aus schwerem, solidem Metall.
Einen Walkman von Sony. Modell DD -2.
Jeden Tag echtes Spezi.
Eine Sonnenbrille mit Sehstärke in den Gläsern.
Der Rucksack war randvoll. Solas auch. Ich musste dem Drang widerstehen, auch noch Geld in meine Hosentaschen zu stecken. Ich umarmte Sola und fühlte ihren warmen Körper durch den schwarzen Pullover hindurch.
»Jetzt kann uns nichts mehr passieren«, sagte ich leise in ihren Pulli hinein.
»Bah … mein kleiner Affe … wir kennen den Rückweg nicht, es gibt Soldaten mit Gewehren, und wenn die Licht ausgeht, sind wir perdus .«
»Wir schaffen das schon.« Das Geld in meinem Rucksack gab mir unendlich Zuversicht.
Erst flackerte das Licht unserer Taschenlampe unruhig.
Dann erlosch es.
Als hätte das Licht der Taschenlampe auch Wärme gespendet, begann ich zu frieren. Ich rief nach Sola.
»Sola?« Ich rief zu laut.
»Ich bin hier, mein kleiner Affe.«
Ich spürte ihren Arm und ergriff ihn. Sie zitterte auch.
»Die Lampe …«
Die Finsternis war allumfassend. Wir stolperten in eine Richtung, in der wir das Loch in der Betonwand vermuteten. Ich begann laut zu schluchzen. Es fiel mir schwer zu atmen, ich hielt Sola mit beiden Händen fest.
»Ruhig bleiben, mein kleiner Affe.«
Aber ich hörte die rasselnde Panik in ihrer Stimme. Sie umarmte mich eine Weile. »Streck eine Hand aus, und such die Wand. Ich mach das auch.«
»Lass m-m-mich nicht los.«
»Jamais.«
Wir tasteten uns in kleinen Schritten voran, bis wir an eine grob behauene Wand stießen. Unsere Füße raschelten durch Geldscheine. Es war schwer, einen Schritt zu machen, wir standen oft bis zu den Knien in Haufen aus Geld. Wir tasteten uns weiter, bis wir endlich die glatte Oberfläche der Betonwand spürten.
Dann fanden wir das Loch in der Wand.
Ich weigerte mich, Sola loszulassen. Aber zu zweit passten wir nicht durch das Loch. Sie redete beruhigend auf mich ein, in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte und nicht verstand.
»Ich lass dich nicht los, mein kleiner tapferer Affe. Bon . Du zuerst. Ich halte dich an den Füßen.«
Ich kniete mich hin und tastete nach dem Loch.
Niemals. Ich konnte nicht weiter. Ich fror. Ich schwitzte. Ich wollte zurück. Aber Sola war hinter mir und hielt mich auf allen vieren an den Knöcheln meiner Füße. Sie schob mich sanft nach vorn.
Ich weinte. Das Dunkel war maßlos. Der Rucksack mit dem Geld hing mir schief über den Rücken und schien mich zur Seite zu ziehen – bis ich merkte, dass es Sola war, die mich nach oben zog, bis ich wieder stand.
Stille.
»Ich hab Angst.« Ich krallte mich an ihr fest.
»Ich auch.«
So blieben wir stehen, zitternd.
»Viens , armer kleiner Affe. Durch die Angst müssen wir durch.«
Wir tasteten uns durch die Finsternis. Es gab kein Licht.
Wie Blinde stolperten wir durch die Gänge, hielten uns an den Händen, tastend, suchend, verloren. Es gab keine Himmelsrichtungen mehr und keinen Plan. Ich humpelte, mein Knie war angeschwollen.
»Sola?«
»Quoi?«
»Wie schlimm ist der Tod?«
»Kommt drauf an, wen du fragst, mein kleiner Affe. Baudelaire sagt: ›C’est la Mort qui console, hélas! et qui fait vivre; C’est le but de la vie, et c’est le seul espoir.‹ «
»Was heißt das?«
»Es ist nicht verkehrt, dass das Leben auch ein Ziel hat.«
»Quatsch.«
»Ma foi, peut-être . Gibt aber guten Trost, wenn du so denkst.«
Sola stieß gegen irgendwas. Erst zögerte sie. Dann lachte sie laut auf und ließ meine Hand plötzlich los.
»Die Gleise, natürlich! Wir folgen einfach die Gleise! Damit kommen wir heim!«
Ich hörte, wie sie sich hinkniete, um die Schienen mit den Händen zu spüren.
»Wo die hinführen, ist der Ausgang. Die bringen uns raus. Sicherlich.«
Dann richtete sie sich auf und griff wieder nach meiner Hand, wir streckten die freien Hände nach vorn aus und liefen entlang des Gleises, die Füße immer in Kontakt mit dem alten Eisen.
»So schaffen wir das, kleiner Affe. So schaffen wir das.«
Und so schafften wir das. Wir liefen eine Ewigkeit durch die Finsternis, aber der fahle Lichtschein des Mondes durch die Deckenluke war schon von Weitem zu sehen, er schien uns ein mächtiges Leuchten, hell wie ein vergehender Stern. Wir machten Witze, erleichtert, bis wir wieder an den Eisenstreben angelangt waren, an denen wir vor tausend Jahren, vor ein paar Stunden hinabgestiegen waren.
Oben setzten wir uns und atmeten die frische Luft. Sola erzählte von der Venus, und ich schwor, nicht mehr mit den Toten zu sprechen.
Sola wollte ihren Rucksack in den Kofferraum werfen, als wir wieder am Auto ankamen, aber ich bestand darauf, beide Rucksäcke zwischen meinen Beinen zu verstauen. Wir waren unendlich erschöpft und hellwach zugleich.
»Kannst du fahren?«
»Ich kann.«
Noch einmal hielten wir bei McDonald’s. Ich bestand darauf, alleine hineinzugehen, Sola sollte die Rucksäcke im Auto bewachen. Ich kaufte zwei große Sprite, zwei Big Macs, große Pommes und zahlte mit einem der verbliebenen Hundertmarkscheine vom bösen Geld. Die Kassiererin grinste, als sie mich sah.
»Lange Nacht jewesen?«
Ich nickte. Ich fühlte mich prächtig. Ich stank fürchterlich. Es war mir egal.
Draußen passte Sola auf ein paar Millionen Mark auf. Ich wollte nach Hause.
Die Filiale der Deutschen Bank in Halberstadt war nicht schwer zu finden, sie befand sich in einer der wenigen alten, halbwegs erhaltenen Villen, der blaue Firmenschriftzug prangte wie ein schief gehängtes Provisorium über dem Eingang. Die Adresse lautete Westendorf 37a. Vergitterte Fenster. Wir mussten eine Weile warten, ehe die Bank öffnete, und waren darüber eingeschlafen. Als wir aufwachten, bildeten die Kundinnen und Kunden bereits eine lange Schlange bis vor die Eingangstür. Wir beschlossen, erst mal einen Testlauf zu unternehmen, also hatten wir ein paar besonders gut erhaltene Scheine aus meinem Rucksack geholt und waren mit 5000 Ostmark an die »Kasse 2« getreten. Den Rest des Geldes hatten wir – »Stell dich nicht so an, wird schon niemand klauen« – im Auto gelassen.
»Wir möchten das Geld bitte umtauschen in Westmark.« Ich legte das Geld in die Drehschale vor mir. Meine Stimme kam mir überraschend fest vor. Die Dame hinter der schusssicheren Glaswand hatte ein freundliches, schmales Gesicht, schulterlanges, blondes Haar mit einer Dauerwelle, durch deren kleine Locken man kaum noch einen Bleistift hätte stecken können. Sie trug einen blauen Deutsche-Bank-Pin an ihrem schwarzen Jackett und eine auffällige rote Brille, deren dicke Gläser ihre Augen riesengroß erscheinen ließen. Ich dachte an Nadine.
An dem Schalter der Rotbrillenfrau war die Warteschlange am längsten gewesen, aber Sola hatte darauf bestanden, sich bei ihr anzustellen.
Die Frau schaute auf die Scheine und dann neugierig zu uns beiden.
Einmal hatte ich meinen Vater weinen sehen. Ich saß neben ihm auf einem Stuhl, der seltsam wippte und dessen Stoffbezug an meinen nackten Beinen kratzte. Es war in irgendeinem Sommer, es war heiß, und mein Vater hatte mich zu dem Termin bei der Volksbank mitgenommen. Zwischen uns und dem jungen Mitarbeiter der Bank stand ein gewaltiger schwarz glänzender Tisch mit verchromten Beinen, der Mann hatte mir ein kleines Päckchen Gummibärchen angeboten, aber ich hatte abgelehnt, weil ich mir nicht sicher war, ob es ein Geschenk war oder ob mein Vater es später bezahlen müsste. Wir saßen am Rande der großen Schalterhalle, und der riesige Tisch machte es notwendig, dass mein Vater viel lauter sprechen musste, als er wollte. Er versuchte, überzeugend und fordernd zu sprechen, und zugleich so leise, dass nicht alle in der Schalterhalle mitbekamen, was er wollte. Ich verstand, dass es um Geld ging, das uns fehlte und das die Bank uns nicht geben wollte, Kreditrahmen, Dispo, Tilgungsmöglichkeiten, mein Vater schrie und flüsterte gleichzeitig, und der Mann uns gegenüber drehte einen gelb-schwarzen Bleistift zwischen den Fingern beider Hände, während er zuhörte. Manchmal schüttelte er den Kopf und schloss dabei kurz die Augen.
Der Vortrag meines Vaters dauerte eine ganze Weile. Die Reaktion des Mannes war kurz.
»Ich bedauere, wir können in dieser Sache nichts für Sie tun.«
Mein Vater schaute ihn an, als hätte der Mann in einer fremden Sprache zu ihm gesprochen. Dann nickte er und reichte dem Mann über den großen Tisch hinweg die Hand, er musste sich so weit hinüberbeugen, dass die Krawatte, die er sich für diesen Termin extra angelegt hatte und die er sonst nur im Casino trug, auf dem großen Tisch auflag und Falten warf. Zugleich streckte er seine linke Hand in meine Richtung aus, ein Zeichen des Aufbruchs an mich, aber mir kam es vor, als suchte er vor allem nach Halt. Der Mann von der Bank ergriff die rechte Hand meines Vaters und schüttelte sie, ich nahm zugleich seine linke. Für einen Moment waren wir alle drei miteinander verbunden, aber statt Strom flossen nur Fragen zwischen uns hin und her. Ich hatte verstanden, dass der Mann die Möglichkeit gehabt hatte, meinem Vater zu helfen. Ich verstand nicht, warum er es nicht tat.
Als wir die Volksbank verließen, hielt mein Vater noch immer meine Hand und sprach leise zu sich selbst: »Jetzt wird’s eng.«
»Was wird eng, Papa?«
Erst da schien er aus seinen Gedanken aufzutauchen und schaute mich an.
»Ach nix, Kleiner.« Er lächelte mir schepps zu.
Wir standen vor dem Bruckbeck, einer der kleinen Kneipen der Stadt. Durch die gefärbten Mosaikglasscheiben der Gaststätte flackerten die Lichter von zwei Spielautomaten. Mein Vater kramte in seiner Hosentasche, griff dann hinter mein Ohr und zauberte ein Fünfmarkstück zwischen Daumen und Mittelfinger. Er lachte mich an und ließ das Geldstück in seiner Hand über meinem Kopf kreisen wie einen zweiten Mond.
»Kaufen wir dir hiervon ein kleines Eis … oder spielen wir ’ne Runde am Automaten im Bruckbeck und kaufen dir danach ein Rieseneis?«
Ich wusste, was ich wollte. Aber ich spürte, welche Antwort er hören wollte.
»Ein Rieseneis!«
Er nahm mich in den Arm und knuddelte mich, seine Augen leuchteten vor Glück über meinen Sportsgeist, vielleicht auch über das Vertrauen, das ich ihm schenkte, oder die Möglichkeit zur Bewährung, die ich ihm bot.
Wir betraten das Bruckbeck, mein Vater grüßte fahrig in Richtung des Wirts. Er stand vor dem Automaten wie vor einer Wunschmaschine und holte einen Barhocker hinzu, auf den er mich klettern ließ.
Ich durfte das Geldstück in den Automaten werfen.
Das Gerät blinkte, ich sah die Spiegelungen der Lichter in seinen Augen. Drei Zahlenräder drehten sich zugleich. Eine »Risiko«-Taste blinkte in der Mitte des Automaten.
Eine Sieben, eine Krone, eine Sechs.
Eine Krone, eine Krone, eine Vier.
Eine Sechs, eine Sechs, eine Krone.
Komm schon.
Eine Vier. Eine Krone. Eine Sieben.
Bitte.
Mein Vater hielt seine rechte Hand über der »Risiko«-Taste. Seine linke Hand hielt seine rechte Hand.
Eine Sieben. Eine Sieben. Das dritte Rad drehte sich immer langsamer. Die Sieben rastete ein, fast, dann sprang sie doch um. Eine Krone.
Ich kniete auf dem Barhocker und hielt meinen Vater mit beiden Händen umarmt. Er blickte weiterhin auf den Automaten, so als wüsste er besser als das Gerät, wann das Spiel vorbei sei.
Das aufgeregte Blinken des Automaten wechselte wieder zurück zu einem gleichmäßig lockenden Leuchten, jetzt wieder ein Versprechen statt einer Herausforderung. Die »Risiko«-Taste hatte sich auf ihr warmes Orange zurückgestellt.
Keine Regung bei meinem Vater.
Ich wusste, was jetzt zu sagen war. »Ich mag eh kein Eis, Papa.«
Dann sah ich seine Tränen, und als ich ihn hielt, spürte ich, wie der Kummer seinen Körper schüttelte und wie er jeden Muskel seines Körpers anspannte, um mich so wenig wie möglich davon sehen zu lassen.
»Die Umtauschregeln sehen leider in keinem Fall den Tausch von Barmitteln vor.«
»Pardon?« , fragte Sola.
»Oh, Sie sind Französin? Comment allez-vous? «, fragte die Rotbrillenfrau, etwas stolz, auch dieser Situation gewachsen zu sein. Ihre Stimme wurde von einem Mikrofon durch das Panzerglas blechern zu uns getragen. So laut, dass es auch die Kundinnen und Kunden hinter und neben uns hören konnten.
»Belgierin, nicht Französin. Was haben Sie gesagt?«
»Bargeld tauschen wir nicht. Auch keine andere Bank. Der Umtausch von Ost- zu Westmark zu den festgelegten Wechselkursen erfolgt ausschließlich über zum Zeitpunkt der Währungsunion bestehende Konten von Bürgerinnen und Bürgern aus der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik.«
»Verstehe«, sagte ich, eher zu mir selbst.
»Ich nicht«, sagte Sola. »Wir haben Ostgeld. Viel Ostgeld. Wo können wir es in Westgeld tauschen?«
»Gar nicht.«
»Gar nicht?«
»Gar nicht«, wiederholte die Rotbrillenfrau. »Die Scheine sind wertlos.«
Und nach einer Pause, während sie erst mich, dann Sola, dann wieder mich ansah, als würde sie überlegen, wem von uns sie die Nachricht dringender verdeutlichen sollte: »Absolut wertlos.«
Dann beugte sie sich nach vorne, fast so weit, dass ihr Kopf die Panzerglasscheibe zwischen uns berührte. »Wobei mich persönlich sehr interessieren würde, wie Sie an die Scheine gekommen sind, die niemals Teil des offiziellen Zahlungsverkehrs in der DDR waren.«
Sie deutete mit dem Zeigefinger auf ein paar Zweihundertmarkscheine. »Ich weiß, dass diese Scheine gedruckt wurden. Aber ich habe noch nie einen in echt gesehen. Die Regierung der DDR hat sie nie in Umlauf gebracht. Darf ich fragen, woher Sie diese Scheine haben?«
»Dürfen Sie nicht.« Sola nahm das Geld und bedeutete mir mit einem Kopfnicken, dass es Zeit sei zu gehen.
Wieder hatte sich Sola auf die Motorhaube des Peugeots gesetzt und starrte Richtung Bank.
»Ich dachte, wir sind Millionäre. Aber wir haben nur auf eine unterirdische Müllhalde jede Menge Müll eingesammelt, mein kleiner Affe.«
Ich stand vor ihr und wusste nicht, wo ich meine Hände hintun sollte. Schließlich kreuzte ich sie vor meiner Brust und zuckte mit den Schultern. Der ärmste Millionär der Welt.
»Wie viel Maus haben wir noch?«
Ich kramte in meiner Hosentasche. Von den 200 Mark, die uns der Tankstellenwart gelassen hatte, waren noch 140 Mark und ein paar Pfennige da.
»Bon , damit kommen wir zurück.«
Wir stiegen ein, die beiden Rucksäcke mit den wertlosen Scheinen warfen wir achtlos auf die Rückbank.
Sola wollte gerade losfahren, als ein Mann gegen die Fensterscheibe auf ihrer Seite klopfte. Er trug eine blau getönte Sonnenbrille, einen sandfarbenen Anzug mit farblich abgestimmter Krawatte, sein volles, schwarzes Haar hatte er seitlich gekämmt. Das dunkelbraune Lederband einer kleinen goldenen Uhr war so eng um sein Handgelenk gelegt, dass sie den Blutfluss staute.
Sola ließ den Motor laufen, fluchte leise zu sich »Il veut quoi encore?« , kurbelte dann aber das Fenster runter.
»Was willst du?«, fragte sie barsch.
»Nun, ich stand in der Bank eben hinter Ihnen, und es war mir unmöglich zu überhören …« Er sprach langsam und gestelzt, aber irgendwie schief. Wie ein Hochstapler, der sich auf dem Traumschiff als britischer Adliger auszugeben versuchte.
»Et alors?«
»Nun, über wie viel Ostmark verfügen Sie denn?« Jeden seiner Sätze begleitete er mit ausladenden Handbewegungen. »Und, wenn ich fragen darf: über welche Scheine genau? Und in welcher Qualität?«
Eine Kunstpause. Er legte die Handflächen auf Höhe seiner Brust aneinander, als würde er zu uns beten.
»Wissen Sie …« Noch eine Kunstpause. »Ich bin Sammler.«
Irgendwo bei Neuengönna drehte Sola plötzlich das Radio auf, knurrte vor Glück und Erleichterung und sang mitten im Lied lauthals mit:
»She’s the heart of the funfair
She’s got me whistling a private tune
And it all begins where it ends
And she’s all mine, my magic friend.«
Einer der Ohrwürmer, die in diesem Sommer so oft im Radio gespielt wurden, dass man den Text auswendig wusste, ohne dem Lied jemals bewusst zugehört zu haben und ohne zu wissen, was man da sang – aber so wie Sola mitgrölte, bei offenem Fenster, den Fahrtwind im Gesicht und ein Glitzern in den Augen, so hatte das Lied noch niemand gesungen. Den Refrain sang ich mit, nein, ich schrie die erste Zeile, weil wir so schnell fuhren, dass der Wind fast jedes Geräusch verschluckte:
»She says: Hello, you fool, I love you!« Mein Herz schlug mir bis zum Hals vor hellgelbem Glück, draußen zog das Land in großen bunten Stücken an uns vorbei. »C’mon join the joyride … Join the joyride.«
Zwischen meinen Beinen klemmte ein Briefumschlag, in dem 8000 D-Mark waren, Geld, das der Sammler im sandfarbenen Anzug eilig bei der Bank abgehoben und uns überreicht hatte, nachdem wir ihm die Rucksäcke voll mit Ostmark aus dem Stollen gezeigt hatten.
Die Verhandlungen waren kurz gewesen. Er hatte gefragt, wie viel Geld das sei. Wir hatten die Schultern gezuckt. Er schnupperte an den Scheinen und grinste.
»Den Geruch kenn ick. Ick weeß, woher ihr das habt.«
Plötzlich war sein Feine-Leute-Akzent verschwunden.
»Und weil ihr genauso riecht wie das Geld, hab ick auch keene Zweifel, dass dat echtes Geld ist. Ihr wart unter Tage.«
Er hatte 5000 Mark für das Geld in den beiden Rucksäcken geboten, und für die Rucksäcke dazu.
»Bar und sofort! Ich geh da in die Bank zurück und hol euer Geld!«
»Was ist dein Beruf?«, hatte Sola gefragt. »Autos verkaufen?«
Als er auf ihre Frage antwortete, schaute er mich an.
»Jutes Auge, die junge schwarze Dame.« Es schien ihn nicht zu wundern, dass sie seinen Beruf erraten hatte.
Sola hatte 10 000 Mark gefordert.
Er sagte 6000. Sie sagte 8000.
Er zögerte, dann nickte er, grinste, nahm die Sonnenbrille ab, spuckte in die Handfläche und reichte Sola die Hand. Schien ihm noch immer ein gutes Geschäft zu sein. Sie spuckte ebenfalls in ihre Handfläche und schlug ein. Er bedeutete uns mit ausgestreckten Armen und abgespreizten Fingern, dass er gleich zurückkommen würde.
Als er weg war, schaute mich Sola ernst an.
»Entweder kommt gleich die Polizei, oder wir verkaufen ein paar Millionen Mark für 8000 Mark an einen Verbrecher.«
Sie wischte ihre Hand an ihrer Hose trocken.
Ich musste lachen.
Wir mussten nicht lange warten. Der Mann kam aus der Bank zurück, außer Atem, schwitzend, ebenso froh darüber, dass wir noch da waren, wie wir darüber, dass er zurückgekommen war. Er überreichte Sola einen Briefumschlag, feierlich wie ein flammendes Schwert. So aufgeregt wie er war, schien er uns über den Tisch zu ziehen. Was war wohl der Sammlerwert von Ostmark-Scheinen? Es war uns egal. Sola reichte mir den Umschlag. Ich öffnete ihn.
Natürlich wieder nur Tausender. Acht Scheine.
Der Autohändler nahm die beiden Rucksäcke, versicherte sich, dass sie gut verschlossen waren, warf sich je einen auf jede Schulter, blieb noch einen Moment stehen – »Passt alles, wa?«
Wir nickten, und er drehte sich um und ging.
»Sola?«
»Oui?«
»War das jetzt ein Wunder oder Zufall?«
»Ich bin nicht sicher, kleiner Affe. Mais ça ne change rien, si?«
And it all begins where it ends, and she’s all mine, my magic friend.
C’mon join the joyride.
Meine Mutter war schon im Nachtdienst, als wir wieder im Krankenhaus ankamen. Auf dem runden Esstisch klebte ein Post-it.
»Nudeln sind im Kühlschrank. Komm hoch, wenn du magst. Auf Station ist bestimmt ein Bett frei. Ich hab dich lieb.«
»Ich würde hochgehen zu ihr«, sagte Sola.
Ich hatte meiner Mutter zu viel zu erzählen. Und zugleich zu viele Geheimnisse vor ihr. Außerdem schlief ich fast im Stehen ein. »Ich seh sie ja morgen.«
Sola zuckte mit den Schultern.
Ich schrieb meiner Mutter auch ein Post-it: »Alles gut, wir sind heil und das Auto auch. Muss schlafen.«
Wir ließen die Nudeln im Kühlschrank, ich schaffte es gerade noch, Hose und T-Shirt auszuziehen. Dann schlief ich ein. Im Dunkel meines Traumes blinkte eine »Risiko«-Taste orange.