Prolog
Als er aufwacht, fühlt es sich so an, als müssten seine Lider gegen einen Widerstand ankämpfen.
Während sein träge arbeitender Verstand zu verstehen versucht, was das zu bedeuten hat, nimmt er verwaschene, konturlose Flecken wahr. Er zwinkert ein-, zweimal, was das Bild allerdings nicht klarer macht. Er überlegt, ob er am Vorabend zu viel getrunken hat, kann sich aber seltsamerweise nicht erinnern.
Er möchte die Hand heben, um sich mit Daumen und Zeigefinger die Schlieren von den Pupillen zu wischen, doch sein Arm gehorcht ihm nicht. Mehr noch, er spürt ihn nicht mehr.
Panisch versucht er, den anderen Arm zu heben, ohne Erfolg.
Binnen weniger Schläge beschleunigt sein Herz vom gleichgültigen Ruherhythmus zum Spurt. Ist er gefesselt? Was für ein absurder Gedanke. Zudem würde er dann ja seine Gliedmaßen spüren können. Aber was, zum Teufel, passiert eigentlich gerade?
Hat er ungünstig gelegen, und der Arm ist ihm eingeschlafen? Das war schon öfter passiert, allerdings immer nur bei einem Arm oder Bein, die restlichen Gliedmaßen ließen sich ganz normal bewegen.
Sein Verstand brüllt ihn an, dass er sich sofort aufrappeln soll, dass er unmöglich gelähmt sein kann. Unter Aufbietung aller Willenskraft versucht er erneut, die Lage der Arme zu ändern, der Beine, der Füße, wenigstens einen Finger zu heben … Nichts. Nicht einmal den Kopf kann er auch nur einen Zentimeter drehen. Lediglich seine Augenmuskeln funktionieren, so dass er die Augen bewegen kann und zumindest die Schlieren verschwinden.
Er starrt gegen eine mit mattsilbernen Alu-Paneelen abgehängte Decke. Nicht sein Schlafzimmer.
In der zunehmenden Panik atmet er immer hektischer.
Konzentrieren, befiehlt er sich
. Du musst dich, verdammt
nochmal, konzentrieren. Schau dich um.
Schräg über ihm ist eine flache, quadratische Lampe angebracht, durch deren Milchglas sich das kalte Licht von Neonröhren drückt.
Sein Blick richtet sich nach links, heftet sich auf eine weitere Lampe, etwas kleiner als die über ihm. Am unteren Rand seines Sichtfeldes schimmert etwas Dunkles, das seine Position verändert. Doch um es deutlicher sehen und erkennen zu können, müsste er den Kopf wenigstens ein kleines Stück zur Seite drehen, was er aber trotz aller Anstrengung nicht schafft.
Er befürchtet, dass die Angst schon bald völlig von ihm Besitz ergreifen und auch seine Gedanken lähmen wird. Das darf er nicht zulassen. Er muss sich zwingen, strukturiert zu denken.
Vielleicht ist das alles nur ein Traum? Sein Unterbewusstsein hat ihm im Schlaf schon die verrücktesten Dinge vorgegaukelt. Dass er in eine bodenlose Dunkelheit gefallen ist oder dass er fliegen konnte.
Aber das ist kein Traum, denn egal, wie deutlich diese Sequenzen gewesen waren, sie haben sich nie so real angefühlt wie die Situation jetzt. Zudem tauchen unvermittelt Erinnerungsfetzen auf, und diese Bruchstücke reichen aus, seinen Pulsschlag noch weiter zu beschleunigen.
Er ist von einem Geschäftsessen nach Hause gekommen. Und, ja, er hatte einige Gläser Wein getrunken, aber er war nicht betrunken gewesen. Seine Frau hatte Nachtdienst. Er ist in die Küche gegangen, hat sich Saft aus dem Kühlschrank genommen und ein paar Schlucke getrunken. Anschließend hat er das Licht im Wohnzimmer eingeschaltet und wollte zur Couch gehen, aber … er kann sich nicht erinnern, sie erreicht zu haben. Zwischen diesen wenigen Sekunden und seinem Erwachen gerade gähnt ein dunkles Loch.
Ein Geräusch neben ihm zieht seine Aufmerksamkeit zurück in den Raum mit der silbernen Decke. Ein … Klappern.
Er möchte »Hallo!« rufen und »Hilfe!«, doch seine Stimmbänder gehorchen ihm ebenso wenig wie seine Gliedmaßen. Erneut greift die Panik mit kalten Klauen nach ihm, und er spürt, dass er sich ihr nicht mehr lange widersetzen kann.
Ruhig, beschwört er sich selbst.
Denk nach. Es muss eine Erklärung für all das geben.
Wieder Geräusche neben ihm. Jemand befindet sich mit ihm in diesem Raum, da ist er sich jetzt ganz sicher. Ist es derjenige, der ihn in diese Situation gebracht hat? Natürlich muss er es sein. Wer sonst würde irgendwelchen Beschäftigungen nachgehen, während jemand gelähmt neben ihm liegt?
Er überlegt, ob er nackt ist, und fragt sich im selben Moment, ob es nichts Wichtigeres gibt, über das er sich Gedanken machen sollte. Zum Beispiel die Frage, was dazu geführt hat, dass er anscheinend bewegungsunfähig ist, aber trotzdem atmen und seine Augen bewegen kann.
Vielleicht liegt er ja in einem Krankenhaus? Nach einem Schlaganfall? Aber würde dann nicht seine Frau an seinem Bett sitzen und ihm die Hand halten? Mit ihm reden und ihm erklären, was passiert ist?
Also muss etwas anderes geschehen sein. Etwas, von dem sie nichts weiß, denn wenn …
Der Kopf schiebt sich so unvermittelt in sein Sichtfeld, dass er befürchtet, sein Herz bliebe stehen.
Mund und Nase des Mannes sind von einer grünen Stoffmaske bedeckt, die Haare unter einer Haube in gleicher Farbe verborgen, so dass lediglich die Augen zu sehen sind.
Ein Arzt. Ein Chirurg. Also doch ein Krankenhaus?
Als sich der Mann etwas weiter über ihn beugt und eine Hand auftaucht, während die Augen des Mannes offenbar eine Stelle auf seiner Brust fixieren, stockt ihm der Atem. Die in einem Gummihandschuh steckenden Finger umschließen ein Skalpell, dessen Klinge im diffusen Licht silbrig glänzt und das sich langsam auf seinen Brustkorb senkt.
Nein!, schreit er innerlich auf.
Tu das nicht! Ich bin nicht narkotisiert. Siehst du denn nicht, dass meine Augen geöffnet sind und sich bewegen?
Als hätte der Mann seine innere Stimme gehört, hebt sich die Hand und verschwindet wieder aus seinem Sichtfeld. Vor Erleichterung füllen sich seine Augen mit Tränen, so dass er den Kopf nur noch verschwommen sieht. Doch eine weitere Erkenntnis,
die ihm endgültig den Verstand zu rauben droht, drängt die Erleichterung beiseite.
Auch wenn er nicht einmal den kleinen Finger rühren kann, ist offenbar eines nicht ausgeschaltet: seine Empfindungen. Er hat deutlich die Tränen gespürt, als sie ihm über das Gesicht gelaufen sind, also wird er auch etwas anderes empfinden können. Schmerz. Sein Blick sucht hektisch nach der Hand mit dem Skalpell, bleibt am Oberkörper des noch immer über ihn gebeugten Mannes hängen und liefert die nächste, grausame Erkenntnis:
Das ist kein Krankenhaus, und der Mann ist kein Arzt.
Ein Arzt in einem Krankenhaus trägt keine über und über mit Blut beschmierte weiße Gummischürze.
So etwas trägt ein Schlachter.