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Als er Susanne die Tür öffnete, hatte Hendrik schon jeden angerufen, der ihm eingefallen war, sowohl Lindas Freunde als auch einige entferntere Bekannte. Doch außer mitfühlenden Worten und der wiederholten Zusicherung, dass sich alles aufklären würde, hatten die Telefonate nichts gebracht. Was nicht ganz stimmte, denn mit jedem Anruf, mit jeder Freundin und jedem Bekannten, mit denen er gesprochen hatte, war es Hendrik klarer geworden, dass Linda nicht freiwillig fortgegangen war. Dass etwas oder jemand sie dazu gezwungen haben musste.
»Und?«, fragte Susanne, noch bevor sie das Haus betrat. Sie trug Jeans-Shorts und ein weißes T-Shirt. Ihre schlanken Beine waren leicht gebräunt, was daran lag, dass sie in den Sommermonaten jede freie Minute in ihrem Garten verbrachte, wie Hendrik von Linda wusste.
»Nichts. Niemand hat eine Ahnung, wo sie sein könnte.«
»Okay, ich brauche erst mal einen Kaffee.« Susanne drückte sich an ihm vorbei und ging geradewegs in die Küche. Hendrik schloss die Haustür und folgte ihr.
»Was ist mit der Polizei?«, erkundigte sie sich, während sie den Kaffeeautomaten einschaltete und sich eine Tasse aus dem Schrank nahm.
»Die wollten schon nichts unternehmen, bevor ich festgestellt habe, dass Lindas Koffer fehlt. Ich fürchte, bevor nicht ein paar Tage ohne Nachricht von ihr vergangen sind, tun die auch weiterhin nichts.«
»Oder bis es Hinweise darauf gibt, dass ihr tatsächlich …«
»Dass ihr was?«
Susanne schüttelte den Kopf. »Hast du mal nachgeschaut, ob sie ihren Koffer vielleicht woanders hingestellt hat? Ihr wart doch vor kurzem erst in Rom. Vielleicht hat sie …«
»Nein, ich selbst habe die Koffer nach dem Auspacken wieder in dem Zimmer abgestellt.«
Susanne nahm die Tasse mit dem dampfenden Kaffee in die Hand und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. »Ich kann einfach nicht glauben, dass das hier real ist. Dass Linda verschwunden sein soll.«
»Ja, ich hoffe auch, dass gleich die Tür aufgeht und sie vor uns steht und alles erklären kann. Aber mein Gefühl sagt mir, dass das nicht passieren wird.«
»Okay. Nehmen wir mal an, es ist jemand hier eingedrungen und …«
»Es gibt keine Einbruchspuren.«
»Dann hat derjenige vielleicht geklingelt und sich unter irgendeinem Vorwand Zutritt verschafft.«
»Mitten in der Nacht? Ich glaube nicht, dass Linda einfach so aufgemacht hätte. Wir haben eine Sprechanlage und eine Kamera an der Tür, wie du weißt. Das müsste dann schon jemand gewesen sein, den sie kannte.«
»Oder jemand, der einen überzeugenden Grund hatte.«
»Und sie überredet hat, samt Koffer mit ihm zu kommen? Es gibt keine Hinweise darauf, dass sie sich gewehrt hat.«
»Verdammt, nun such doch nicht für alles nach Gegenargumenten.«
»Ich bemühe mich, realistisch zu sein.«
»Also gut. Jemand bringt Linda dazu, ihm die Tür zu öffnen. Als er im Haus ist, drückt er ihr einen Lappen mit irgendeinem Zeug aufs Gesicht, das sie betäubt. Schon tausendmal in irgendwelchen Gangsterfilmen gesehen. Dann nimmt er ihren Koffer, packt irgendwas hinein und verschwindet mit ihr.«
»Und warum das alles? Wir sind nicht reich, um Lösegeld wird es kaum gehen.«
»Ich weiß es doch auch nicht. Jetzt lass uns mal weiter nachdenken. Fehlen Kleidungsstücke von ihr?«
»Das kann ich nicht sagen.«
Susanne zog verwundert die Stirn kraus. »Hast du nicht nachgeschaut?«
»Doch, aber … ich hab keine Ahnung, ob etwas fehlt.«
Susanne verdrehte die Augen. »Okay, dann lass uns nachsehen.«
Kurz darauf stand sie, die Hände in die Hüften gestemmt, vor Lindas Bereich des begehbaren Kleiderschranks und betrachtete die Kleidungsstücke. »Ihr dunkelrotes Kleid fehlt, der gelbe Rock auch. Außerdem ein paar Blusen, glaube ich.«
Eine Faust bohrte sich in Hendriks Magen.
Susanne zeigte auf das Regal mit den Hosen. »Ich weiß nicht genau, wie viele Jeans sie hat, aber das da scheint mir zu wenig zu sein.«
Sie bückte sich und zog die breite Schublade auf, in der Linda ihre BH
s und Slips aufbewahrte. Sie war leer.
Die Faust in Hendriks Bauch drückte unbarmherzig zu. Und dennoch … »Das heißt noch gar nichts. Wenn jemand sie entführt hat, richtet er sich vielleicht darauf ein, dass sie länger bei ihm bleibt.«
»Ja, das stimmt.« Susanne klang nicht sehr überzeugt. Ihre Stimme war deutlich leiser geworden.
Als das Telefon läutete, zuckten beide zusammen. Mit wenigen Schritten war Hendrik im Schlafzimmer und griff mit zittrigen Händen nach dem Hörer, der auf der Nebenstation auf seinem Nachttisch stand. »Ja? Zemmer hier!«
»Hendrik, was ist mit Linda?« Die besorgte Stimme von Lindas Mutter Elisabeth. »Wir haben gerade einen seltsamen Anruf von Mario aus Thailand bekommen. Er sagt, Linda sei verschwunden?«
Mario! Lindas Bruder lebte in Hannover, und natürlich hatte Hendrik auch ihn angerufen und ihn gefragt, ob er etwas von Linda gehört hatte, dabei aber erfahren, dass Mario sich gerade beruflich in Thailand aufhielt. Daraufhin hatte Hendrik ihn gebeten, ihren Eltern noch nichts von Lindas Verschwinden zu erzählen. Das wollte er selbst tun, wenn sie bis zum Vormittag nicht wieder aufgetaucht war. Offenbar hatte Mario anders entschieden.
»Ja, es stimmt. Als ich …«
»O mein Gott. Was ist passiert?«
Hendrik atmete tief durch und erzählte Lindas Mutter, was vorgefallen war und was er bisher unternommen hatte. Sie unterbrach ihn nicht, nur ein Schluchzen hier und da verriet, dass sie noch in der Leitung war und ihm zuhörte. Erst als er seine Schilderung beendet hatte, sagte sie: »Das ist ja … Wir kommen nach
Hamburg.«
»Nun wartet doch erst mal ab. Die Polizei ist sicher, dass sie bald wieder auftaucht. Sie hat wahrscheinlich einfach Angst vor der Hochzeit und braucht ein wenig Zeit für sich selbst. Ich bin sicher, es dauert nicht lange, und sie ist wieder da.«
Als Elisabeth zögerte, fügte er hinzu: »Außerdem könnt ihr hier sowieso nichts tun. Ich verspreche, ich halte euch auf dem Laufenden.«
»Also gut. Aber du rufst später noch mal an, ja?«
»Versprochen. Spätestens heute Abend melde ich mich wieder.«
Hendrik legte auf und wandte sich Susanne zu, die im Durchgang zum Kleiderzimmer stand. »Ich mag die beiden, aber …«
Susanne winkte ab. »Schon gut, ich weiß, was du meinst.«
Hendrik warf einen Blick auf die Uhr. Fast halb acht. Er wählte die Nummer des Krankenhauses und die Durchwahl seines Chefs. Nach nur einmaligem Läuten wurde abgehoben.
»Gerdes!«
»Hallo, Paul, ich bin’s, Hendrik. Ich … ich rede nicht lange um den heißen Brei herum. Linda ist verschwunden.«
»Wie? Was heißt das, sie ist verschwunden?«
»Als ich heute Nacht nach Hause kam, war sie weg. Ich habe schon überall herumtelefoniert, niemand weiß, wo sie ist. Die Polizei glaubt nicht an ein Verbrechen, aber ich bin sicher, dass sie nicht freiwillig gegangen ist.«
»O Gott. Aber warum sollte jemand Linda etwas antun?«
»Ich weiß es nicht. Es gibt keine Einbruchspuren, und soweit ich sehen kann, ist auch nichts gestohlen worden. Ich verstehe das alles nicht. Aber sie ist weg. Und ihr Koffer fehlt auch.«
»Ihr Koffer?« Es entstand eine längere Pause, und Hendrik konnte sich in etwa vorstellen, was Paul durch den Kopf ging.
»Ich bin trotzdem sicher, dass sie nicht aus freien Stücken verschwunden ist.«
»Das ist ja unglaublich. Du kommst die nächsten Tage natürlich nicht ins Krankenhaus und siehst zu, dass du Linda findest. Ich hole Dr. Breuer aus dem Urlaub, der ist eh zu Hause. Kann ich sonst noch was tun?«
»Nein, danke dir.«
»Mensch, Hendrik, das tut mir sehr leid. Aber ich bin sicher, dass sich alles aufklären wird. Du wirst sehen, sie taucht schnell wieder auf. Vielleicht hat irgendjemand ihre Hilfe benötigt? Eine Freundin?«
»Ich habe schon alle abtelefoniert, die in Frage kommen.«
»Vielleicht ist jemand von früher, den du nicht kennst, in einer Notlage?«
»Aber dann hätte sie mir doch zumindest eine Nachricht geschrieben oder mich angerufen. Und außerdem … hätte sie dann ihren Koffer mitgenommen?«
»Ja, das stimmt. Trotzdem … ich bin sicher, das wird sich alles klären. Melde dich bitte, wenn du was hörst, ja?«
»Das mach ich, danke. Bis später.«
Hendrik legte das Telefon zur Seite und wandte sich Susanne zu, die von ihrem Smartphone aufsah. »Auf ihrem Facebook-Profil kann ich nichts Ungewöhnliches entdecken, aber ich weiß natürlich nicht, ob sie dort mit jemandem in Kontakt stand. Oder über Instagram.«
»Keine Ahnung. Sie hat jedenfalls nichts erwähnt.«
»Sie hat doch seit kurzem diese App, in der es um berufliche Kontakte geht. Weil sie sich vielleicht nach einem anderen Job umsehen wollte.«
»Ja, aber ich denke, das war nur eine spontane Reaktion auf den Streit mit ihrem Chef vor drei Wochen. Eigentlich ist sie mit ihrer Arbeit zufrieden. Ich glaube nicht, dass sie oft da reingeschaut hat.«
»Aber möglich wäre es.«
»Möglich ist alles.«
»Und jetzt?«
Erneut sah Hendrik auf seine Armbanduhr. »Um in der Bank anzurufen ist es noch zu früh, das mache ich nachher. Ich halte es zwar für unwahrscheinlich, aber ich möchte nichts unversucht lassen. Wenn sie mich verlassen hätte, würde sie ja vielleicht trotzdem zur Arbeit gehen.« Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Ich bin ziemlich fertig und springe schnell unter die Dusche. Vielleicht fällt mir dort etwas ein.«
Er verließ den Raum und ging zum Badezimmer. Vor dem Spiegel blieb er stehen und sah sich in die geröteten Augen. Die dunklen Schatten darunter hoben sich deutlich von der bleichen
Gesichtshaut ab. Die kurzen braunen Haare wirkten stumpfer als sonst. Er sah so fürchterlich aus, wie er sich fühlte.
Als er nach seiner Zahnbürste greifen wollte, stockte er mitten in der Bewegung und starrte ungläubig auf den Becher, der in einer Wandhalterung über dem Waschbecken hing und in dem normalerweise ihre beiden Zahnbürsten standen.
Eine fehlte.
Seine.