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Hendrik sah Julia nach, bis sie hinter dem Gebäude einbog und aus seinem Blickfeld verschwand, bevor er sich selbst in Bewegung setzte. Er hatte sein Auto etwa zehn Minuten entfernt an den Landungsbrücken unterhalb der St. Pauli Hafenstraße geparkt.
Trotz der schlechten Erfahrung entschloss Hendrik sich, zum Polizeipräsidium zu fahren. Er würde den Beamten so lange auf die Nerven gehen, bis sie anfingen, nach Linda zu suchen. Schließlich waren die Parallelen zum Verschwinden von Julias Mann zu augenfällig: Die beiden hatten nicht aus freien Stücken ihr bisheriges Leben hinter sich gelassen.
Er wählte die Strecke über die Rothenbaumchaussee, um zum Bruno-Georges-Platz zu gelangen. Nach einer knappen halben Stunde hatte er die rund zehn Kilometer durch Hamburgs Innenstadt geschafft und stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz vor dem beeindruckenden, sternförmigen Gebäude des Polizeipräsidiums ab.
Der Zivilangestellte, der hinter Panzerglas auf der linken Seite der großzügigen Eingangshalle saß, hörte sich Hendriks Anliegen an und bat ihn dann, einen Moment zu warten. Nachdem er ein kurzes Telefonat geführt und Hendriks Ausweis kontrolliert hatte, legte er einen Besucherausweis in den Blechkasten der schmalen Durchreiche, schob ihn unter der Glasscheibe durch und deutete auf eine Sitzgruppe. »Setzen Sie sich bitte, Sie werden gleich abgeholt.«
Es dauerte knappe fünf Minuten, bis ein Mittdreißiger die Schleuse passierte und lächelnd auf Hendrik zukam. Er trug weiße Chucks unter ausgebleichten Jeans und ein weißes T-Shirt. Seine kurzen blonden Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab und verliehen ihm ein spitzbübisches Aussehen, was durch die Waffe, die in einem Gürtelholster auf der linken Seite steckte, allerdings wieder relativiert wurde.
»Herr Zemmer?«
Hendrik nickte, stand auf und schüttelte die Hand, die sich ihm entgegenstreckte.
»Mein Name ist Thomas Sprang, ich bin Kommissar beim LKA
. Sie sind wegen Ihrer Verlobten hier, richtig? Bitte, kommen Sie mit.«
Hendrik folgte dem Kommissar zu der Schleuse, die der Zivilangestellte mit einem Knopfdruck öffnete, nachdem Sprang ihm zugenickt hatte.
Hinter der Schleuse gingen sie direkt auf zwei Aufzüge zu und warteten davor.
»Ich habe heute Morgen schon mit einem Kollegen von Ihnen gesprochen«, erklärte Hendrik, woraufhin Sprang nickte. »Ja, ich weiß. Das war mein Partner. Er wartet oben auf uns.«
Hendrik war davon nicht gerade begeistert, sagte aber nichts. Dennoch schien Sprang Hendriks Unbehagen zu bemerken, denn nachdem sie den Aufzug betreten hatten, sagte er beruhigend lächelnd: »Lassen Sie sich vom Kollegen Kantstein nicht einschüchtern. Er ist etwas bärbeißig, was damit zusammenhängen mag, dass er den Job schon dreißig Jahre macht.«
»Ich muss gestehen, es ist mir ziemlich egal, warum jemand ist, wie er ist«, entgegnete Hendrik, während die Aufzugtür sich mit einem schmatzenden Geräusch schloss. »Meine Verlobte ist letzte Nacht aus unserem Haus verschwunden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen oder sich seitdem zu melden. Ich bin sicher, dass sie das nicht freiwillig getan hat, und erwarte von der Polizei, dass zumindest der erkennbare Wille vorhanden ist, herauszufinden, was mit ihr passiert ist. Und diesen Eindruck hatte ich bei Ihrem Partner nicht.«
»Ja.« Das Lächeln war aus Sprangs Gesicht verschwunden. »Ich weiß, was Sie meinen.«
Das Büro, das sie betraten, lag am Ende eines kurzen Flurs und hatte etwa die Größe von Hendriks Schlafzimmer. In der Mitte des Raums waren zwei mit Akten und Dokumenten überladene Schreibtische an den Stirnseiten zusammengestellt. Auf der linken Seite saß Hauptkommissar Kantstein, und er sah etwas anders aus, als Hendrik ihn sich nach ihrem Telefonat vorgestellt hatte. Er hatte einen fülligen Mann mit Doppelkinn und Halbglatze, Mitte fünfzig,
erwartet. Kantstein hatte jedoch volles, dunkles Haar, das an den Schläfen angegraut war und einen Haarschnitt vertragen hätte. Unter dem blauen, kurzärmeligen Hemd war zwar ein leichter Bauchansatz auszumachen, aber davon abgesehen schien er recht gut in Form zu sein. Das Alter stimmte ungefähr.
Als der Hauptkommissar zu ihnen herübersah, glaubte Hendrik, einen Anflug von Verdrossenheit in seinem Gesicht zu erkennen.
»Herr Zemmer«, sagte Kantstein, ohne Anstalten zu machen, Hendrik die Hand zu reichen. »Hat sich etwas Neues bezüglich Ihrer Verlobten ergeben?«
»Ich dachte immer, das läuft in solchen Fällen umgekehrt«, entgegnete Hendrik, ohne sich zu bemühen, die Antipathie, die er dem Hauptkommissar gegenüber empfand, zu verbergen. »Normalerweise ist es doch so, dass die Polizei ein Verbrechen untersucht und die Angehörigen fragen nach, ob es etwas Neues gibt.«
Kantstein verzog verärgert das Gesicht. »Wenn es zumindest geringe Hinweise auf ein Verbrechen gibt, dann ist das sicher so.«
Sprang ging zu seinem Schreibtischstuhl und setzte sich. »Ich schlage vor, wir hören uns erst einmal an, was Herrn Zemmer zu uns führt. Bitte …« Er deutete auf den einzigen weiteren Stuhl, der an der Wand gegenüber der Tür stand. »Nehmen Sie doch Platz.«
»Danke, ich stehe lieber.« Hendrik sah Sprang an, als er fortfuhr: »Ich hatte eine interessante Begegnung mit einer jungen Frau, der genau das Gleiche widerfahren ist wie mir. Ich gehe davon aus, Sie wissen, wen ich meine.«
Hendrik ignorierte den Blick, den die beiden Polizisten miteinander tauschten, begann mit seiner Schilderung ab dem Moment, in dem er sich dazu entschlossen hatte, seine Suche nach Linda auf Facebook zu posten, und beendete sie mit dem Treffen mit Julia. Dann blickte er Kantstein direkt an. »Denken Sie wirklich, es ist Zufall, dass innerhalb einer Woche in Hamburg zwei Menschen nachts einfach so aus ihren Häusern verschwinden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen?«
»Sie haben recht, wir wissen natürlich von Herrn Krollmanns Verschwinden«, bestätigte Kantstein, wovon Hendrik ausgegangen war. Es beruhigte ihn jedoch nicht, sondern machte ihn eher noch
wütender.
»Wollen Sie wirklich die auffälligen Gemeinsamkeiten ignorieren, die es in diesen beiden Fällen gibt?«
Kantstein lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte auf den Kugelschreiber, den er immer wieder durch seine Finger gleiten ließ.
»Noch gibt es keine Fälle
, Herr Zemmer, aber gut, schauen wir uns doch mal die reinen Fakten an. Ein Mann und eine Frau aus derselben Stadt, beide Ende dreißig, verlassen mit gepackten Koffern heimlich ihre Partner.« Er schürzte die Lippen und sah Hendrik herausfordernd an. »Sie wohnen nicht sehr weit auseinander. Die wahrscheinlichste Schlussfolgerung, die man daraus ziehen kann, ist nicht, dass sie entführt oder gewaltsam aus dem Haus gezerrt wurden, sondern dass die beiden sich kennen. Sie könnten sich jederzeit über den Weg gelaufen sein, haben sich ein paarmal getroffen und irgendwann festgestellt, dass da mehr zwischen ihnen ist. So viel, dass sie aus ihrem gewohnten Leben ausbrechen wollten und jetzt gemeinsam irgendwo an einem weißen Sandstrand in der Sonne liegen.«
Es kostete Hendrik all seine Kraft, ruhig zu bleiben und nicht laut zu werden.
»Ich fasse es nicht. Statt Ihren Job zu machen und zwei Verbrechen aufzuklären, die offensichtlich zusammenhängen, unterstellen Sie meiner Verlobten, dass Sie mich betrogen hat und eine Woche vor unserer Hochzeit …«
»Ich bin sicher, das hat der Kollege Kantstein so nicht gemeint«, unterbrach Sprang Hendrik mit ruhiger Stimme. »Wie er schon sagte, wäre das eine mögliche
Schlussfolgerung, wenn man die Fakten betrachtet.« Er sah zu Kantstein hinüber. »Oder?«
Kantsteins Blick wanderte von Sprang wieder zu Hendrik und ruhte eine Weile nachdenklich auf ihm, bevor er sagte: »Richtig. Ich wollte Ihnen damit lediglich aufzeigen, dass es stets mehrere Sichtweisen auf die Dinge gibt und jeder natürlich immer von dem Stuhl aus urteilt, auf dem er sitzt.
Sie
sitzen auf dem Stuhl des Partners, der sich diese Situation verständlicherweise nicht erklären kann und der – ganz sicher unbewusst – Alternativen ausblendet, die er einfach nicht glauben möchte
. Verrückterweise sind Sie eher bereit, von einem
Verbrechen auszugehen – was für Ihre Verlobte die schlimmere Option wäre –, als die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sie Sie verlassen haben könnte.
Wir hingegen sitzen auf neutralen Stühlen. Unsere … Herzen
flüstern uns nicht zu, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Und wenn ich mir die reinen Fakten anschaue, sehe ich kein einziges Anzeichen für ein Verbrechen.«
Eine ganze Weile herrschte Stille im Raum. Es war Kantstein, der das Schweigen unterbrach. »Verstehen Sie, was ich meine?«
Natürlich tat Hendrik das, zumal er sich durch Kantsteins sachliche Art wieder ein wenig beruhigt hatte. Er nickte. »Das tue ich. Aber verstehen Sie denn auch, dass ich mir große Sorgen mache?«
Kantstein beugte sich nach vorn. »Durchaus. Wir sind an der Sache mit Herrn Krollmann dran, und wenn Ihre Verlobte bis morgen immer noch nicht aufgetaucht ist und sich auch nicht bei Ihnen gemeldet hat, werden wir eine Vermisstenanzeige aufnehmen.«
»Danke.«
Kommissar Sprang erhob sich und ging an Hendrik vorbei zur Tür. »Ich bringe Sie wieder nach unten.«
Hendrik nickte Kantstein kurz zu und folgte Sprang.
»Er ist kein schlechter Kerl«, erklärte Sprang, während sie wieder auf den Aufzug warteten. »Ich denke, er hat es gerade privat nicht leicht.«
»Ja«, entgegnete Hendrik und stieg in den Fahrstuhl, »ich auch nicht.«
Nachdem sie den Aufzug im Erdgeschoss verlassen hatten, hielt Sprang ihm eine Visitenkarte hin. »Hier, für alle Fälle. Meine Mobilfunknummer steht auf der Rückseite.«
Hendrik nahm sie, nickte dem Kommissar zu und betrat die Schleuse.
Vom Präsidium aus fuhr er auf direktem Weg nach Hause. Falls Linda sich meldete, würde sie zwar wahrscheinlich auf seinem Handy anrufen, aber er wollte dennoch möglichst auch unter der Festnetznummer erreichbar sein.
Den restlichen Tag verbrachte er damit, zu telefonieren – dreimal
allein mit Lindas Mutter und zweimal mit Susanne –, im Wohnzimmer zu sitzen und darüber nachzugrübeln, ob es nicht vielleicht doch irgendein Anzeichen dafür gegeben hatte, dass Linda sich in ihrer Beziehung nicht so wohlfühlte, wie sie behauptete, doch er kam immer wieder zu dem Ergebnis, dass das Gegenteil der Fall war. Und dann waren da noch die unzähligen Nachrichten, die ihn über Facebook erreichten. Einen Großteil davon löschte er sofort, weil sie entweder dumme Sprüche enthielten oder aber vollkommen abstrus waren. In einer Nachricht, die von einem offensichtlichen Fake-Account mit dem Namen Miri May
stammte, wurde er derart grob beschimpft und beleidigt, dass er sie für alle Fälle aufbewahrte.
Auf einige Nachrichten von Facebook-Nutzern, die glaubten, Linda irgendwo gesehen zu haben, antwortete er, doch bei allen stellte sich im Laufe der Konversation heraus, dass sie sich entweder geirrt hatten oder ihre Nachricht nur Wichtigtuerei war. Irgendwann am späten Nachmittag spielte er kurz mit dem Gedanken, den Post wieder zu löschen, brachte es dann aber doch nicht übers Herz.
Am Abend nahm er das Fotobuch aus dem Schrank, das Linda gerade erst von ihrem Rom-Aufenthalt hatte anfertigen lassen, und blätterte es durch.
Linda lächelnd vor dem Trevi-Brunnen, dicht umringt von hundert anderen Touristen, die dasselbe Motiv haben wollten. Am Abend in dem kleinen, gemütlichen Restaurant, das sie durch Zufall in einer Seitenstraße entdeckt hatten, mit einem Glas Rotwein in der Hand. Sie beide gemeinsam zwischen den Ruinen des Forum Romanum … Seite um Seite ein Zeugnis dafür, wie glücklich sie miteinander waren, wie sehr sie sich auf das freuten, was vor ihnen lag.
Irgendwann klappte er das Buch zu, legte sich auf die Couch und zog sich die Decke, die zusammengefaltet an einem Ende lag, über die Beine. Lindas Decke.
Je länger er darüber nachdachte, je mehr Situationen der vergangenen Tage und Wochen er Revue passieren ließ, umso sicherer wurde er, dass sie ihn auf keinen Fall aus freien Stücken verlassen hatte. Harmonischer als das Leben, das sie miteinander hatten, konnte eine Beziehung kaum sein. Nein, entweder war Linda
entführt worden, oder aber jemand hatte etwas gefunden, womit er sie erpressen und zwingen konnte, noch in der Nacht ihren Koffer zu packen und das Haus zu verlassen. Wohin auch immer.
Wie hatte Julia gesagt? Vielleicht, um mich zu schützen
.
Vielleicht musste Linda auch gehen, um ihn zu schützen. Aber wovor?
Seine Gedanken verschwammen, und er fiel in einen unruhigen Schlaf.
Als Hendrik vom Klingeln seines Smartphones hochschreckte, dauerte es nur einen kurzen Moment, bis er die Benommenheit des Schlafs abgeschüttelt hatte und sein Verstand wieder vollkommen klar war. In der nächsten Sekunde hatte er das Handy am Ohr. »Ja?«, stieß er erwartungsvoll aus, hörte dann aber enttäuscht, wie die Stimme am anderen Ende sagte: »Julia hier. Wir müssen uns sehen. Morgen früh.«
»Warum?«
»Ich habe etwas entdeckt.«
»Was?«
»Nicht am Telefon. Kommen Sie einfach. Selbe Stelle. Um acht.«
»Nun sagen Sie mir doch wenigstens …« Hendrik stockte. Sie hatte aufgelegt.