12
Hendrik brauchte einen Moment, um die Überraschung zu verarbeiten. »Und? Wie lautet die Nachricht?«
»Moment, ich lese sie Ihnen vor. Da steht:
Julia, ich bin habe dich verlassen. Verzeih, dass ich so feige bin, aber es gibt da jemand Neues in meinem Leben. Sie war auch gebunden und hat ihr altes Leben genauso hinter sich gelassen wie ich. Wir sind weggegangen aus Hamburg. Du kannst alles behalten. Das hier und unser Zuhause in Hamburg. Ich weiß, dass ich dir weh tue, und auch wenn ich es dir nicht persönlich sagen konnte, möchte ich, dass du weißt, dass du nichts falsch gemacht hast. Es liegt an mir. Ich habe sie gesehen und mich verliebt. Ich konnte nichts dagegen machen. Es tut mir unendlich leid.
Ende.«
Hendrik bemühte sich, das Gehörte sachlich zu analysieren und einzuordnen, auch wenn er längst begriffen hatte, was diese Zeilen bedeuten konnten. Zumindest aus Sicht der Polizei.
»Und es ist sicher, dass diese Nachricht von ihrem Mann kam?«
»Zumindest ist sie von seinem Handy aus gesendet worden.«
»Das heißt aber auch, sie könnte von jedem geschrieben worden sein, der Krollmanns Handy hat.«
»Ja, rein theoretisch könnte auch jemand anderes sie geschrieben haben, aber denken …«
Hendrik hörte laute Geräusche, ein überraschtes »Hey!«, und dann die genervt klingende Stimme von Hauptkommissar Kantstein, der Sprang offenbar den Hörer aus der Hand genommen hatte.
»Herr Zemmer, zwei erwachsene Menschen verschwinden innerhalb weniger Tage samt gepackten Koffern aus ihren Häusern. Ein Mann und eine Frau. Ohne auch nur die kleinste Spur, die auf ein Gewaltverbrechen hindeutet. Dann erhält die Ehefrau des Verschwundenen die Nachricht, dass er sie Hals über Kopf verlassen hat, weil er verliebt ist, und zwar in eine Frau, die ebenfalls gebunden war und getürmt ist. Das klingt alles logisch und passt haargenau zu der Situation, die wir haben. Jetzt sagen Sie mir eines: Welchen Grund sollte ein wie auch immer gearteter Verbrecher haben, das alles vorzutäuschen?«
»Das weiß ich nicht, aber …«
»Ich weiß es auch nicht, weil es einen solchen Grund nicht gibt. Eine Entführung mit Lösegeldforderung fällt weg. Ein psychopathischer Mörder, dem es nur ums Töten geht, hätte sich kaum die Mühe gemacht, das alles zu inszenieren. Warum also sollen wir Kollegen aus unserem unterbesetzten Kriminalkommissariat damit beauftragen, mit den Ermittlungen zu beginnen? Und gegen wen oder was sollen wir ermitteln? Die Sache ist so glasklar, dass es kaum noch deutlicher geht.«
Es folgte ein entfernt klingendes »Bitte«, dann war erneut Sprangs Stimme zu hören. »Ich bin’s wieder. Es tut mir leid, aber mein Kollege hat recht. Gerade nach dieser Nachricht gibt es für uns einfach keinen Grund, etwas zu unternehmen.«
»Und was denken Sie, wo Julia Krollmann ist?« Hendriks Stimme klang genauso niedergeschlagen, wie er sich fühlte. »Sie sagten doch selbst, die Terrassentür stand offen, und sie ist verschwunden, ohne ihr Handy mitzunehmen. Da kann man doch vermuten, dass sie nicht zu einem Spaziergang aufgebrochen ist.«
»Vielleicht ahnt sie, wo ihr Mann und … und die Frau, mit der er zusammen ist, sich aufhalten? Dann ist sie sicherlich überstürzt aufgebrochen und hat weder an die Tür noch an das Handy gedacht.« Es entstand eine kurze Pause, dann klang Sprangs Stimme plötzlich leise, verschwörerisch.
»Ich verstehe Sie ja, Herr Zemmer. Und ich bin nicht so sicher wie mein Kollege, dass das alles wirklich so ist, wie es scheint. Das ist mir alles zu … glatt. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich allein bin, okay? Bis dann.«
»Ja, gut.«
Hendrik legte auf und starrte eine Weile auf die Tischplatte vor sich, bis ihm bewusst wurde, dass Alexandra ihn fragend ansah. Er berichtete ihr in wenigen Worten, was sie nicht sowieso schon mitgehört hatte.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich war insgesamt vier Wochen beim LKA , die letzten beiden davon bei Sprang und Kantstein. Ich weiß nicht, was mit dem Hauptkommissar los ist, aber anfangs habe ich ihn ganz anders erlebt. So, wie er sich gerade benimmt, war er erst in den letzten Tagen. Dafür muss es einen Grund geben.«
Hendrik dachte daran, dass Sprang persönliche Probleme Kantsteins erwähnt hatte, doch letztendlich war das egal. Allem Anschein nach konnte er nicht auf die Hilfe der Polizei hoffen.
»Letztendlich ist es unwichtig, warum der Herr Hauptkommissar sich benimmt wie ein Arsch. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass Linda mich nicht verlassen hat.«
Alexandra trank ihren Kaffee aus und stand auf. »Gut. Haben Sie Ihr Smart-Home-System direkt vom Hersteller? Hamburg Home Systems
»Ja, genau. Ich glaube, man kann dieses System nur direkt von denen beziehen. Die haben es auch eingebaut.«
»Wie bei den anderen. Was halten Sie davon, wenn wir denen mal einen Besuch abstatten?«
Die Firma Hamburg Home Systems hatte ihren Sitz in Eidelstedt, wo sie eine knappe halbe Stunde später ankamen. Alexandra hatte ihren Kleinwagen vor dem Haus stehen lassen und war bei Hendrik mitgefahren.
Der Flachbau im Siebziger-Jahre-Stil stand in krassem Gegensatz zu den hochmodernen Smart-Home-Systemen und anderen digitalen Anlagen, die die Firma baute, vertrieb und installierte.
Als sie das Büro betraten, sah die junge, dunkelhaarige Frau hinter dem Empfangstresen von ihrem Monitor auf und lächelte sie freundlich an. »Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?«
Hendrik nannte seinen Namen und erklärte, dass er ein Smart-Home-System von ihrer Firma habe und mit Herrn Buchmann, dem Inhaber, sprechen wolle.
Ihr Lächeln veränderte sich nicht. Sie hatte bemerkenswert gerade und weiße Zähne. »Darf ich erfahren, worum es geht?«
»Ich habe ein paar Fragen zu dem System, über die ich gern mit Herrn Buchmann sprechen möchte.«
»Eine Reklamation?«
Hendrik überlegte kurz, ob sie irgendwann die Gesichtsmuskeln auch mal entspannte. »Nein, eher allgemeine Fragen zu dem, was das System kann, und zur Sicherheit.«
Die Dunkelhaarige deutete zu einer Sitzgruppe, die seitlich um einen kleinen Tisch angeordnet war. »Bitte, nehmen Sie doch einen Moment Platz, ich rufe Ihnen unseren Serviceleiter.«
»Nein, nicht den Serviceleiter, ich möchte bitte mit Herrn Buchmann selbst sprechen.«
»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Herr Buchmann ist sehr beschäftigt und meist auch nicht im Haus. Ich bin ganz sicher, unser Serviceleiter, Herr Meinhard, wird Ihnen alle Fragen beantworten können. Dafür ist er da.«
Hendrik hätte sie am liebsten angeblafft, sie solle sofort dieses aufgesetzte Lächeln abschalten, beherrschte sich aber. Dennoch spürte er, wie Ärger in ihm aufstieg. Bevor er jedoch etwas entgegnen konnte, trat Alexandra an ihm vorbei und flötete mit einem Lächeln, das dem der Dunkelhaarigen in nichts nachstand: »Ich verstehe Sie voll und ganz. Es ist nur so, dass Herr Zemmer den berechtigten Verdacht hat, dass Ihr System ihn ausspioniert hat und zu einem Verbrechen benutzt wurde. Und ich fürchte, er wird in der nächsten halben Stunde mit irgendjemandem darüber reden. Entweder mit dem vielbeschäftigten Herrn Buchmann, mit einem Polizisten oder mit einem Journalisten. Wahrscheinlich mit den beiden Letztgenannten. Also, was denken Sie? Wer ist wohl der richtige Ansprechpartner?«
Sie hatten Glück, Herr Buchmann war anwesend und nahm sich Zeit.
Keine fünf Minuten später saßen sie dem Mann in seinem Büro gegenüber. Buchmann war um die sechzig und hatte sorgsam frisierte graue Haare. Er war gut und auf die Art konservativ gekleidet, wie Hendrik sich einen hanseatischen Geschäftsmann vorstellte. Nachdem er sie freundlich begrüßt hatte – obwohl oder gerade weil er sicher von der Lächelnden erfahren hatte, worum es ging –, kam Hendrik gleich zur Sache.
»In meinem Haus ist Ihr Smart-Home-System Adam installiert, und ich habe ein paar Fragen dazu. Ist es möglich, dass jemand das System von außen steuert?«
»Entschuldigen Sie bitte, ich habe ganz vergessen zu fragen, ob Sie etwas trinken möchten. Einen Kaffee vielleicht, oder ein Wasser?«
»Nein, danke.«
»Nun, Sie selbst können natürlich Adam über die App von überall aus steuern, sofern Sie einen Internetzugang haben.«
»Eben. Und wenn ich das kann, könnte das doch auch jemand anderes, der es schafft, sich einzuhacken.«
Buchmann lächelte nachsichtig. »Herr Zemmer, dazu müsste derjenige schon durch den Master, also Sie, mit Ihrer Iris als Administrator angelegt worden sein. Ansonsten ist das nicht möglich. Wir reden hier von einem High-End-Sicherheitsprozess. Das ist doch der Zweck des Augenscans.«
»Wie ist es mit der Möglichkeit des Zugangs über die Werkseinstellungen?«, mischte sich Alexandra in das Gespräch ein.
Buchmann schüttelte den Kopf und wandte sich wieder Hendrik zu. »Erinnern Sie sich, dass unser Service-Techniker Sie mit Ihrem fünfstelligen Code und dem Scan Ihres Auges als Masterzugang für Adam eingerichtet hat, als das System fertig eingebaut war? Als dieser Prozess abgeschlossen war, ist der Installationszugang automatisch gelöscht worden. Niemand außer Ihnen und den Menschen, die mit Ihrem Zugang als Administratoren eingerichtet worden sind, kann dann auf das System zugreifen.
»Was wäre, wenn Herrn Zemmer etwas passieren würde?«, fragte Alexandra.
»Dann müsste das System komplett auf die Werkseinstellung zurückgesetzt werden, womit alle Daten gelöscht würden und Adam nicht mehr funktionsfähig wäre, bis ein neuer Master eingerichtet würde. Aber worüber reden wir hier eigentlich? Frau Recktenwald erwähnte, Sie hätten den Verdacht, von Adam ausspioniert worden zu sein. Wie kommen Sie auf diese absurde Idee?«
»Es gab einige Fehlfunktionen«, wich Hendrik aus.
»Seine Frau ist entführt worden«, erklärte Alexandra, woraufhin sowohl Hendrik als auch Buchmann sich ihr abrupt zuwandten. »Und er denkt, dass der Täter über Adam die Haustür geöffnet hat.«
Die Stille, die sich plötzlich im Raum ausbreitete, war fast mit Händen zu greifen.
Hendrik starrte Alexandra fassungslos an und hätte sie am liebsten angefahren, was zum Teufel ihr einfiel, ohne seine Erlaubnis von Lindas Verschwinden zu erzählen, doch er riss sich zusammen. Das würde warten müssen.
»Wie bitte?« Hendrik war nicht sicher, ob er Buchmann seine Überraschung abnahm. »Ihre Frau ist … das ist ja schrecklich.«
»Ja, das ist es.«
»Und Sie denken … großer Gott. Sie waren doch sicher schon bei der Polizei, oder?«
»Ja, aber die haben genau mit dieser Tatsache ein Problem: Dass es weder Einbruchspuren noch einen konkreten Hinweis auf ein Verbrechen gibt.«
»Ich verstehe …« Buchmann erhob sich, schob eine Hand in die Tasche seines marineblauen Sakkos und ging neben den Sesseln auf und ab, bevor er vor Hendrik stehen blieb. »Allein der Gedanke, einem Menschen könne Schaden zugefügt worden sein, indem man eines unserer Systeme gehackt hat, wäre Grund für mich, meine Firma sofort zu schließen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass das nicht möglich ist. Wir haben eine TÜV -Zertifizierung und das System zudem den besten Hackern zur Prüfung zur Verfügung gestellt, bevor es auf den Markt kam. Keiner hat es geschafft, es zu knacken.«
Alexandra stand ebenfalls auf. »Wer hat eigentlich Adams Software programmiert?«
»Wir haben unsere eigenen Systemprogrammierer im Haus. Alles made in Germany.«
»Und seit wann ist Adam auf dem Markt?«
»Seit knapp drei Jahren.« Buchmann zuckte mit den Schultern. »Es tut mir leid, Ihnen nicht weiterhelfen zu können, aber mehr kann ich dazu nicht sagen. Adam ist sicher, darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel. Und jetzt bitte ich Sie, mich zu entschuldigen. Ich habe noch einige wichtige Termine.«