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Die Männerstimme klingt wie in ein zusammengeknülltes Handtuch gesprochen. Etwas Kaltes drückt gegen die Wange. In ihrem Kopf beginnt ein schmerzhaftes Hämmern gegen die Schädeldecke, ihre Zunge fühlt sich so ekelhaft pelzig an, dass sie sich fast übergeben muss.
All diese Eindrücke stürmen auf sie ein, während ihr Verstand sich den Weg an die Oberfläche ihres Bewusstseins erkämpft. Dann ist die Erinnerung mit einem Schlag wieder da. Das Licht, der Fernseher … die Haustür. Plötzlich etwas Weiches, das sich gegen ihren Mund drückt. Gleichzeitig eine Hand, die sich ihr auf die Stirn legt, den Kopf zurückzieht. Der süßliche Geruch … die bodenlose Schwärze, in die sie stürzt.
Das Herz hämmert ihr vor wahnsinniger Angst so unbarmherzig gegen die Brust, dass sie sicher ist, dass jemand, der im selben Raum ist, es hören muss.
Sie ist entführt worden. So wie Jonas? Nun liegt sie irgendwo auf dem Boden, neben ihr steht … ihr Entführer? und unterhält sich. Mit wem auch immer. Sie atmet ganz flach, bewegt sich keinen Millimeter. Wer weiß, was der mit ihr anstellt, wenn er bemerkt, dass sie wieder bei Bewusstsein ist.
Täuscht sie sich oder entfernt sich die Stimme? Dann ist sie verstummt.
Stille. Sie wartet, ob er wiederkommt. Nach einer Weile wagt sie es, die Augen zu öffnen. Niemand neben ihr. Nur glatter Linoleumboden. Sie muss jetzt strukturiert denken. Ihr Leben kann davon abhängen. Erst einmal muss sie ihre Situation verstehen.
Sie bewegt die Beine, die Arme … nur Zentimeter, aber ausreichend, um feststellen zu können, dass nichts sie daran hindert. Keine Fesseln. Gut. Sofern man in dieser Situation von gut sprechen kann.
Sie dreht den Kopf, kann jetzt einen Bereich des Raumes bis zur Wand überblicken. Die ist nur zwei Meter von ihr entfernt. Kahl, weiß gekachelt. Aber der Raum scheint lang zu sein. Nur der Teil, in dem sie auf dem Boden liegt, ist beleuchtet. Sie kann weder das eine noch das andere Ende erkennen, die Wand verschwindet nach einigen Metern in beide Richtungen in der Dunkelheit.
Sie spannt die Muskeln an, stützt die Hände auf dem Boden ab und drückt sich in eine sitzende Position hoch, dann schaut sie sich um. Auf der anderen Seite gibt es mehr zu sehen. Verchromte Beine auf Rollen … ebenfalls verchromte, lange Ablageflächen … drei Stück nebeneinander. Tische, wie in einem …
OP
? Ein Krankenhaus? Die weißen Wände und der Linoleumboden deuten ebenso darauf hin wie die Alupaneele über ihr an der Decke. Der Raum ist viel zu groß für ein Krankenzimmer. Zudem stehen Rollschränke mit verchromten Ablageflächen daneben. Das sieht tatsächlich eher aus wie ein
OP
. Andererseits erscheint es ihr nicht klinisch genug.
Egal. Sie muss aufstehen, bevor der Mann zurückkommt. Vielleicht kann sie ja fliehen. Sie schafft es, sich aufzurichten, schaut sich um, und schlägt sich vor Grauen eine Hand vor den Mund.
Auf dem mittleren der drei Tische liegt ein nackter Mann, und sie weiß augenblicklich, dass er tot ist. Sie sieht seine Füße, die Beine, seinen verschrumpelten Penis, der auf der Hautfalte des Hodensacks liegt wie in einem Nest, dann die leichte Wölbung eines Bauchansatzes. Und dann etwas, das ihr Verstand nicht erkennen möchte. Etwas Dunkles, Wulstiges.
Die Hand noch immer auf den Mund gepresst, bewegt sie sich auf die Leiche zu, obwohl alles in ihr aufschreit, sich sofort umzudrehen und wegzulaufen, so schnell und so weit es geht.
Der nächste Schritt, noch einer. Sie geht um die kalkweißen Beine herum, bis sie mehr erkennen kann. Mehr, als sie erkennen möchte. Vom Schambein bis fast zum Hals zieht sich ein Schnitt, der mit breiten, ungelenk angebrachten, großen Stichen grob zusammengehalten wird. Der Anblick ist so furchtbar, dass er ihr fast die Sinne raubt, und doch muss sie noch einen letzten Schritt machen, um den Kopf des Mannes zu sehen. Sein Gesicht.
Sie bewegt sich wie eine Marionette.
Es dauert eine Sekunde, einen Blick, dann verliert sie die Besinnung.