17
Nur Minuten nach dem Gespräch mit Paul Gerdes rief Kantstein erneut an. »Warum haben Sie mich vorhin gefragt, woher ich weiß, dass der Kollege Sprang wegen Krollmanns Nachricht mit Ihnen persönlich gesprochen hat?«, begann er ohne Umschweife.
»Deshalb rufen Sie mich an? Das scheint Sie ja sehr zu beschäftigen.«
»Also? Warum?«
Hendrik überlegte kurz. Was sollte er darauf anderes antworten als die Wahrheit? »Weil ich dachte, ich hätte Sie vor meinem Haus vorbeifahren sehen. Unmittelbar nachdem Kommissar Sprang in sein Auto gestiegen ist.«
»Dachten Sie?«
»Ja, ich habe den Fahrer nur kurz gesehen.«
»Aha. Sonst noch was?«
»Wie, sonst noch was?«, erwiderte Hendrik, überrascht von der Frage und der brüsken Reaktion Kantsteins. »Wenn ich mich nicht täusche, dann haben Sie
gerade mich
angerufen. Wenn also jemand diese Frage stellen dürfte, dann ich.«
»Gibt es sonst noch was, das Sie von mir wissen wollen, außer woher ich wusste, dass Sprang sich mit Ihnen getroffen hat?«
»Nein.«
»Gut, dann wäre das ja geklärt.«
»Idiot!«, zischte Hendrik verärgert, nachdem Kantstein das Gespräch beendet hatte.
Innerlich aufgewühlt begann er, in seinem Wohnzimmer auf und ab zu gehen, und versuchte, über Linda und nicht über diesen Polizisten nachzudenken, doch vergeblich, denn kurz darauf ertönte die Türklingel.
Auf dem Weg zur Tür überlegte Hendrik, Adam
zumindest für die Türkamera wieder zu aktivieren. Er öffnete und sah sich einem
unbekannten, blondhaarigen Mann gegenüber, den er auf Mitte vierzig schätzte. Er war schlank, trug eine dunkle Jeans und ein blütenweißes Poloshirt und lächelte ihn an, als wollte er ihm etwas verkaufen.
»Guten Tag, Herr Zemmer«, begann der Mann. »Haben Sie einen Moment Zeit? Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.«
Hendrik schüttelte erschöpft den Kopf. »Wenn Sie mir etwas verkaufen oder mit mir über die Bibel reden möchten – nein danke.«
»Ich möchte mit Ihnen über Ihre Verlobte reden.«
Sofort war Hendrik hellwach. War das etwa derjenige … kamen jetzt die Forderungen?
»Wer sind Sie?«, fragte er harsch. »Und was haben Sie mit meiner Verlobten zu tun?«
Der Mann schaute nach links und rechts, was absolut lächerlich war, denn die Nachbarhäuser standen weit genug weg, so dass niemand auch nur andeutungsweise hätte hören können, worüber sie sprachen.
Dann richteten sich die hellblauen Augen wieder auf Hendrik. »Ich heiße Dirk Steinmetz und bin Chirurg, wie Sie. Herr Zemmer, es gibt keinen Grund, in diesem Ton mit mir zu reden. Ich gehöre zu den Guten. Vielleicht weiß ich ein paar Dinge, die Ihnen in Bezug auf Ihre Verlobte weiterhelfen könnten. Aber sollten wir das nicht lieber im Haus besprechen?«
Hendriks Blick fiel auf die Hände des Mannes, ein Tick, den er sich angewöhnt hatte, nachdem er von den ständigen Desinfektionsmitteln rissige Haut an den Fingern bekommen hatte. Seitdem achtete er fast schon zwanghaft auf die Hände von anderen Ärzten. Die seines Gegenübers waren für einen Chirurgen ungewöhnlich kräftig.
»Ich frage noch einmal: Was haben Sie mit Linda zu tun? Woher kennen Sie sie?«
»Hören Sie: Ich weiß vielleicht etwas, das Ihnen weiterhilft. Aber nicht hier zwischen Tür und Angel.« Hendrik war unsicher, ob er nicht vielleicht einen Fehler machte, gab aber den Eingang frei. Der Mann schien etwas über Lindas Verbleib zu wissen, und das war alles, was zählte. »Also gut, kommen Sie rein.«
Im Wohnzimmer setzte Steinmetz sich, ohne eine Aufforderung
abzuwarten, auf die Couch und blickte sich um. »Nett haben Sie es hier.«
Hendrik blieb neben dem Sessel stehen, er war zu nervös, um sich ruhig hinzusetzen. »Ich denke, wir sollten nicht über meine Einrichtung reden, sondern über Linda. Was wissen Sie über sie und woher?«
»Ja, richtig, entschuldigen Sie, ich neige dazu abzuschweifen. Ich bin ein Schöngeist, wissen Sie, und wenn ich …«
»Entweder Sie rücken jetzt mit der Sprache raus, oder Sie können gleich wieder gehen.«
»Wie ich schon sagte, entschuldigen Sie bitte. Also: Ich bin Arzt und habe bis vor kurzem im Evangelischen Krankenhaus Alsterdorf gearbeitet, wo auch Julia Krollmann beschäftigt war.«
»War?«, unterbrach Hendrik ihn.
»Ja, zu der Zeit, als ich noch dort gearbeitet habe. Jedenfalls tauchte irgendwann ihr Mann, der Journalist, in der Klinik auf und fing an, einigen leitenden Ärzten und Verwaltungsmitarbeitern Fragen zu stellen. Es ging dabei wohl um irgendwelche krummen Geschäfte, die einige der hohen Herren am Laufen hatten und in die auch die Bank verwickelt gewesen sein soll, in der Ihre Verlobte gear … arbeitet. Vielleicht hat er den Tipp von seiner Frau bekommen – keine Ahnung. Jedenfalls hat er offenbar bei seinen Recherchen in der Bank auch Ihre Verlobte kennengelernt.«
Hendriks Herz schlug ihm bis zum Hals. »Wie kommen Sie darauf? Nur, weil …«
»Ich habe sie zusammen gesehen.«
Hendrik verstummte und starrte den Mann an. Diese Information saugte schlagartig alle Gedanken aus seinem Kopf und hinterließ nichts als Leere.
»Sie haben sie …« Bevor seine Knie nachgaben, setzte sich Hendrik in einen Sessel.
»Ja, ich weiß, dass das schmerzt, und ich bin niemand, der so was hinausposaunt, weil ich denke, das sollten die Beteiligten unter sich klären. Aber in diesem Fall bedeutet das doch, dass Ihrer Verlobten wahrscheinlich nichts geschehen ist, sondern …«
»Dass sie klammheimlich mit einem andern Mann verschwunden ist«, vervollständigte Hendrik den Satz.
»Die Möglichkeit besteht zumindest. Aber noch einmal: Das heißt auch, sie ist wohlauf.«
Hendrik starrte vor sich hin, versuchte, von den Gedankenfetzen, die ihm durch den Kopf sausten, ein paar aufzugreifen und zu vernünftigen Sätzen zusammenzufügen.
Ihre gemeinsame Zeit, die unvergesslichen, glücklichen Momente … der letzte Abend, an dem sie dann ja wohl schon gewusst hatte, dass sie die nächstbeste Gelegenheit nutzen würde, mit diesem Kerl zu verschwinden.
»Herr Zemmer?«
Hendrik schreckte hoch und sah Steinmetz an. »Ja, ich … entschuldigen Sie.« Er richtete sich auf. »Woher haben Sie überhaupt die Informationen über Frau Krollmann und Linda? Von Facebook? Da stand aber meines Wissens nach nichts über die beiden.«
»Ich kann über meine Quelle nichts sagen. Nur so viel: Sie ist zuverlässig.«
»Sie können mir über die Quelle nichts sagen?«, hakte Hendrik in scharfem Ton nach. »Sie können das weder aus einer Zeitung noch von irgendwelchen Social-Media-Kanälen haben. Da könnte mir doch der Gedanke kommen, dass Sie etwas mit der Sache zu tun haben.« Hendrik merkte selbst, dass er immer lauter geworden war.
Steinmetz schüttelte den Kopf und lächelte dabei noch immer, allerdings wirkte es nun noch aufgesetzter als zuvor.
»Warum sollte ich dann zu Ihnen kommen, um Ihnen zu helfen? Das ergibt doch keinen Sinn.«
Darauf entgegnete Hendrik nichts. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Wie auch immer, ich muss los.« Steinmetz erhob sich.
»Halt, warten Sie.« Hendrik löste sich aus seiner Starre. »Sie sagten, Sie hätten Linda zusammen mit diesem Krollmann gesehen. Wo war das, und woher wussten Sie, dass die Frau Linda ist?«
Steinmetz’ linke Braue schob sich nach oben und verlieh seinem Gesicht einen überheblichen Zug. »Nun also doch? Okay. Als ich eines Nachmittags das Krankenhaus verließ, kam Krollmann gerade angefahren und stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz ab. Sie saß auf dem Beifahrersitz und hat auf ihn gewartet, während er im Haus
war. Ich bin direkt an ihr vorbeigegangen und habe sie deutlich gesehen. Da wusste ich natürlich noch nicht, dass es sich um Ihre Verlobte handelt, und ich hätte der Sache wahrscheinlich auch keine weitere Bedeutung geschenkt, wenn ich nicht zufällig Ihren Aufruf auf Facebook mit dem Foto gesehen hätte. Da habe ich Ihre Verlobte wiedererkannt und mich an die Szene erinnert.«
Das alles wirkte auf Hendrik nicht sehr überzeugend, aber irgendwoher musste dieser Mann ja seine Informationen haben.
»Also gut. Ich werde jetzt einen der Ermittler anrufen, der sich mit Lindas Verschwinden befasst. Der wird in etwa zwanzig Minuten hier sein, dann können Sie ihm die Geschichte noch mal erzählen.«
»Herr Zemmer, mit der Polizei möchte ich nichts zu tun haben, und ich möchte auch nicht in die ganze Sache mit hineingezogen werden. Was ich Ihnen gesagt habe, ist sicher alles andere als erfreulich, aber ich hoffe, es ist trotzdem eine Erleichterung für Sie, zu wissen, dass es Ihrer Verlobten wahrscheinlich gutgeht.«
Hendrik antwortete darauf nichts. Wenn diese Geschichte stimmte, war er kein bisschen erleichtert, sondern tief verletzt.
Nachdem er die Haustür hinter Steinmetz geschlossen hatte, ließ er den Kopf gegen die kühle Oberfläche sinken. Tränen rannen ihm über die Wangen und fielen zu Boden.
Konnte es stimmen, was dieser Mann ihm erzählt hatte? Diese ganze Geschichte klang eigenartig, aber dennoch … sie passte zu dem, was er bisher erfahren hatte. Jonas Krollmann und Linda … Wie konnte sie ihm das antun? Wut stieg in ihm auf wegen seiner Gutgläubigkeit, wegen seines unerschütterlichen Vertrauens in sie.
Er löste sich von der Tür und wollte zurück ins Wohnzimmer gehen, als sein Blick an der Steuerung für Adam
hängen blieb.
Wozu sollte er das System nun noch abgeschaltet lassen? Er dachte daran, was Alexandra über die Möglichkeiten gesagt hatte, die jemand hätte, der sich in das System einklinken konnte, und er dachte daran, was Paul Gerdes von dieser Idee hielt: Science-Fiction
.
Und was war mit ihm selbst? Was glaubte er? Ja, er hatte es zumindest für denkbar gehalten, dass jemand diese Möglichkeit genutzt hatte, um Linda zu entführen. Aber mittlerweile …
»Science-Fiction«, stieß er aus und hob die Hand, um Adam
wieder zu aktivieren, verharrte aber inmitten der Bewegung, als er die beiden grün leuchtenden LED
-Punkte sah. Adam
war aktiv.