25
Sie erwacht aus ihrem Dämmerzustand durch ihr eigenes Stöhnen. Irritiert bewegt sie den Kopf, obwohl sie absolut nichts sieht, und verzieht schmerzgepeinigt das Gesicht. Ihr ganzer Körper fühlt sich an, als wäre er eine brennende Fackel. In ihr wütet hohes Fieber.
Sie liegt auf kaltem Beton. Der fensterlose Raum, in dem sie eingeschlossen ist, ist winzig klein, vielleicht vier Meter lang und zwei Meter breit. Das weiß sie nur, weil sie ihn immer wieder abgegangen ist, die kalten Wände wieder und wieder abgetastet hat, wenn das Fieber ein wenig zurückging und ihr eine kleine Verschnaufpause gönnte.
Sie reißt die Augen auf, als würde es ihr so gelingen, die Schwärze zu durchdringen.
Vollkommen dunkel. Vollkommen leer.
Sie weiß nicht, wie lange es her ist, dass die Tür sich zum ersten Mal hinter ihr geschlossen hat. Tage? Wochen? Seitdem öffnet sie sich immer mal wieder für ein paar Sekunden, in denen jemand ihr eine Flasche Wasser und einen Teller mit belegten Broten auf den Betonboden stellt, während sie geblendet die Augen zusammenkneift und den Unterarm zum Schutz darüberlegt.
Mühsam stemmt sie sich hoch, schafft es schließlich, an der Wand abgestützt zu stehen.
Ihre Muskeln zittern, die Knie drohen, jeden Moment einzuknicken. Dennoch muss sie es versuchen. Auch wenn sie weiß, es hat sich nichts geändert.
Unter Aufbietung aller Kraft macht sie einen kleinen Schritt nach dem anderen. Plötzlich wird ihr eiskalt, ihr nackter Körper wird von krampfartigem Schüttelfrost erfasst, die Zähne schlagen klappernd aufeinander. Es kostet sie unmenschliche Anstrengung, auf den Beinen zu bleiben. Weiter. Sie muss weiter, auch wenn es aussichtslos erscheint.
Sie schafft es, erreicht die Stahltür, tastet sie ab, bis ihre zitternde Hand auf der Klinke liegt. Sie drückt sie nach unten, stellt fest, dass die Tür – wie befürchtet – verschlossen ist, und sackt in sich zusammen.
Sie schlingt die Arme um den Oberkörper, Tränen laufen ihr über die Wangen, sie schließt die Augen, obwohl es in der totalen Finsternis keinen Unterschied macht.
Bilder tauchen vor ihr auf. Schlaglichter auf die seltsamen und schrecklichen Dinge, die geschehen sind, bevor man sie hier eingesperrt hat.
Sie erinnert sich an fast alles, sie hatte viel Zeit zum Nachdenken, obwohl sie zwischendurch immer wieder weggetreten war, wenn das Fieber stieg. Dann phantasierte sie und sah die verrücktesten Sachen. Schöne, die sie festhalten wollte. Aber da waren auch andere Bilder, furchtbare Geschehnisse … sie sind kein Produkt ihrer Phantasie, sie sind wirklich geschehen, das weiß sie.
Die Angst wird wieder größer, als ihr Gedächtnis die Ereignisse vor ihr abspult wie einen Film.
Sie ist im Badezimmer, um sich bettfertig zu machen, als sie dieses Geräusch hört. Es klingt, als wäre etwas Schweres umgefallen, irgendwo unten im Haus. Sie geht barfuß und im Schlafshirt die Treppe nach unten, um nachzusehen. Sie ruft, erhält aber keine Antwort. Unten angekommen, tappt sie in Richtung Wohnzimmer, ruft erneut. Plötzlich wird etwas auf ihr Gesicht, ihren Mund gedrückt. Der ekelhaft süße Geruch …
Sie ist auf einer Bahre festgeschnallt, als sie aufwacht, ihre Augen sind verbunden. Panik greift nach ihr, sie möchte schreien, doch ihr Mund ist zugeklebt. Dann ist da diese Stimme, unnatürlich dunkel verstellt. Und doch hat sie das Gefühl, etwas Bekanntes herauszuhören, aber sie kann es nicht zuordnen.
»Du wirst es nicht verstehen, aber was ich jetzt tue, hält dich am Leben«, sagt diese Stimme langsam und abgehackt. Dann spürt sie einen Stich am Oberarm, und binnen Sekunden breitet sich ein brennender Lavastrom aus. Als er den Hals erreicht, verliert sie das Bewusstsein.
Ein Stich in die Armbeuge holt sie aus der Ohnmacht. Sie öffnet
die Augen und ist überrascht, dass sie etwas sehen kann. Einen Mann. Er trägt Kleidung, Kopfbedeckung und Mundschutz eines Operateurs und beugt sich über sie. Sie versucht, dem Blick aus seinen kalten, forschenden Augen auszuweichen, doch ihr Kopf bewegt sich keinen Millimeter.
Er zeigt ihr eine Art Reagenzgläschen, das halb gefüllt ist mit Blut. Ihrem Blut.
»Nur noch ein letzter Check.« Die Stimme des Mannes ist nicht verstellt, aber sie ist sicher, es ist ein anderer Mann als zuvor.
»In einer Stunde sind wir sicher und können dich verarbeiten.«
Verarbeiten? Ihr Verstand irrt um das Wort herum, weigert sich aber zu begreifen, was damit gemeint sein könnte. Sie versucht zu schreien, doch es dringt kein Ton aus ihrem Mund. »Oh, keine Angst«, sagt der Mann. »Du wirst nichts spüren. Ich werde dich vorher wegschießen. Ich bin ja kein Unmensch.«
Dann ist der Mann aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Als er nach unendlich langer Zeit, in der sie vor Angst fast den Verstand verliert, wieder zurückkommt, brüllt er sie an.
»Was soll diese Scheiße?« Er hält ihr ein zerknülltes Blatt Papier vor die Nase, als wüsste sie genau, worum es sich dabei handelt. »So kann ich nichts mit dir anfangen. Was, zum Teufel, hast du getan?«
Plötzlich hat er eine Spritze mit einer dicken Kanüle in der Hand, die er ihr wütend seitlich in den Oberschenkel rammt. Dann schiebt er den Tisch, auf dem sie liegt, aus dem Raum. Kurz darauf zerrt er sie von dem Tisch herunter und legt sie auf dem Betonboden der kleinen Kammer ab. Als sich die Tür schließt und die absolute Finsternis sie umklammert, kommt zum ersten Mal ein krächzender Ton über ihre Lippen.
Ein Geräusch an der Tür reißt sie in die Gegenwart zurück. Ein Lichtblitz dringt in den Raum und schießt glühende Pfeile direkt in ihre Pupillen, bevor sie die Lider schließen kann. Noch während sie die Augen mit dem Unterarm bedeckt, betritt jemand den Raum, packt sie am Arm und zischt: »Halt still, sonst wird es weh tun.«
Sie will ihn anschreien, womit er ihr eigentlich noch drohen möchte nach alldem, was er ihr schon angetan hat. Sie spürt den vertrauten Stich in die Armbeuge. Er nimmt ihr Blut ab. Das hat er
schon zweimal gemacht, seit sie eingesperrt ist.
Dann ist es vorbei. Wortlos verlässt er ihr Gefängnis, im nächsten Moment hüllt die Schwärze sie wieder ein.