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Nachdem Alexandra sich verabschiedet hatte, nahm Hendrik seinen Autoschlüssel und verließ kurz darauf ebenfalls das Haus. Er musste etwas über diesen falschen Doktor Steinmetz in Erfahrung bringen. Vielleicht bekam er ja einen Hinweis auf ihn, wenn er sich mit dem echten Steinmetz befasste.
Das Evangelische Krankenhaus Alsterdorf war nur knapp fünf Kilometer entfernt. Hendrik erreichte es nach zwanzig Minuten, nach weiteren zehn Minuten hatte er sich zum leitenden Arzt der chirurgischen und orthopädischen Station durchgefragt und stand in dessen Vorzimmer.
Die Frau, die ihn über den oberen Rand ihrer Lesebrille hinweg begutachtete, mochte um die sechzig sein und sah so aus, als hätte die Casting-Agentur einer Arztserie sie für diese Rolle ausgesucht.
»Herr Professor Geibel hat sehr viel zu tun. Ohne Termin …«
»Mir ist vollkommen klar, dass der Herr Professor ein vielbeschäftigter Mann ist«, erklärte Hendrik mit sanfter Stimme. »Aber es geht hier um einen Menschen, der spurlos verschwunden ist. Meine Verlobte. Ich habe nur ein paar kurze Fragen an ihn. Vielleicht kann er mir helfen, sie zu finden.«
»Wen zu finden?«, fragte ein Mann hinter ihm.
Hendrik wandte sich um und wusste sofort, dass es der Chefarzt war, der in der Durchgangstür zum nächsten Raum stand. Der weiße Kittel, den er trug, schien eine Nummer zu groß zu sein, was der schmächtigen Gestalt des Mannes geschuldet war. Das schmale Gesicht unter den kurzen grauen Haaren wirkte mit den tief in den Höhlen liegenden Augen und der verhältnismäßig großen Nase wie ein Vogelkopf.
Hendrik verabscheute Vorurteile, konnte sich aber nicht dagegen wehren, dass Professor Geibel ihm auf Anhieb unsympathisch war.
»Mein Name ist Doktor Hendrik Zemmer, Herr Professor, ich bin Chirurg am UKE
. Ich denke, Sie kennen meinen Chef, Professor Paul Gerdes.«
Das Lächeln kam knapp eine Sekunde verzögert und verwandelte den Vogelkopf in etwas, für das Hendrik keinen Vergleich hatte.
»Ach, Paul … ja. Was kann ich für Sie tun? Suchen Sie ein neues Betätigungsfeld?« Der erneute Versuch eines Lächelns missglückte ebenso wie der vorherige.
»Nein, nein, es geht nicht um den Beruf. Ich habe ein paar Fragen zu Dr. Steinmetz. Wenn Sie kurz Zeit hätten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
»Dr. Steinmetz?« Geibel taxierte Hendrik, als schätzte er dessen Gewicht. »Ich habe davon gehört. Schlimme Sache.«
»Ja, furchtbar.« Und nach einem Blick auf die Vorzimmerdame fügte Hendrik hinzu: »Bitte, wenn Sie ein paar Minuten für mich hätten …«
Dieses Mal vergingen mindestens drei Sekunden, bis Geibel reagierte. Er trat zur Seite und deutete in das Zimmer hinter sich. »Also gut. Fünf Minuten.«
Der Raum war etwa fünfunddreißig Quadratmeter groß und mit schweren Möbeln aus Mahagoni eingerichtet. Als Geibel sich in den großen, ledernen Chefsessel hinter den riesigen Schreibtisch setzte, verschwand seine hagere Gestalt fast darin.
Im Gegensatz zum Rest der Einrichtung wirkten die beiden einfachen Besucherstühle, die schräg vor dem Schreibtisch standen, fast deplatziert.
Geibel lehnte sich in seinem Sessel zurück, wartete, bis Hendrik saß, und faltete dann die Hände vor dem flachen Bauch. »Also, womit kann ich Ihnen bezüglich Herrn Steinmetz helfen?«
»Professor Gerdes hat mir erzählt, dass der Kollege ein hervorragender Chirurg war, dass er aber gewisse … Defizite im zwischenmenschlichen Bereich aufwies.«
»Sie erwarten jetzt von mir, dass ich mit Ihnen über das Sozialverhalten eines ehemaligen Mitarbeiters rede, der zudem mittlerweile verstorben ist?«
»Der ermordet wurde. Herr Professor, meine Verlobte ist verschwunden, und jemand, der sich als Dr. Steinmetz ausgegeben hat, ist irgendwie in die Sache verwickelt.«
»Was heißt das, jemand hat sich als Steinmetz ausgegeben?«
Hendrik atmete tief durch, dann erzählte er kurz, was geschehen war.
Als er seine Schilderung beendet hatte, beugte der Professor sich nach vorn. »Dieser … falsche Dr. Steinmetz behauptete also, ein Journalist habe hier im Haus wegen irgendeiner Geschichte recherchiert?«
»Ja. Und dabei sei er – mit meiner Verlobten im Auto – hier aufgetaucht.«
»Nun, von Ihrer Verlobten weiß ich nichts, aber es ist richtig, dass ein Reporter hier war und Fragen gestellt hat. Auch mir.«
»Das ist seltsam. Damit habe ich nicht gerechnet. Warum gibt sich jemand als ein anderer aus, um mir dann aber richtige Informationen mitzuteilen?«
»Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Aber ich habe eine Frage: Was genau erwarten Sie jetzt von mir?«
Das wusste Hendrik selbst nicht so genau, würde es Geibel aber nicht auf die Nase binden.
»Worum ging es bei den Recherchen von Jonas Krollmann?«
»Krollmann?«
»Ja. So heißt der Journalist, der hier recherchiert hat. Zumindest behauptete das der falsche Dr. Steinmetz.«
»Ach so, ja, das mag sein. Ich merke mir nur Namen von Menschen, die in irgendeiner Form wichtig sind.«
In der Gewissheit, dass Geibel unter diesen Umständen seinen Namen vergessen würde, sobald die Tür sich hinter ihm schloss, wiederholte Hendrik: »Worum ging es also?«
»Irgendetwas mit Bankgeschäften, keine Ahnung. Vollkommen abstrus. Ich habe mich nach zwei Minuten von dem Mann verabschiedet. Meine Zeit ist kostbar.« Er nickte Hendrik zu. »Das war Ihr Stichwort. Schade, dass ich Ihnen in dieser Sache mit Ihrer Verlobten nicht weiterhelfen konnte. Vielleicht hat sie sich ja nur eine Auszeit genommen und taucht bald wieder auf. Auf Wiedersehen.«
Ohne Hendrik weiter zu beachten, widmete Geibel sich einem Stapel Dokumente auf seinem Schreibtisch.
Auch wenn es ihm schwerfiel, das Verhalten des Chefarztes
unkommentiert zu lassen, stand Hendrik auf und verließ schweigend das Büro.
Als er kurz darauf in seinen Wagen stieg, griff er spontan nach seinem Smartphone, suchte die Nummer der Firma Hamburg Home Systems
und rief dort an.
Die Frau, die ihn freundlich begrüßte, war erst dann bereit, ihn zu Buchmann durchzustellen, als Hendrik versicherte, es ginge um einen Großauftrag, den ihr Chef sich nicht entgehen lassen wolle.
»Hendrik Zemmer hier«, sagte Hendrik, als Buchmann sich schließlich meldete. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Buchmann, dass ich zu diesem kleinen Trick gegriffen habe, aber ich muss Sie unbedingt sprechen.«
»Sind Sie nicht derjenige, der mit der jungen Frau hier war? Dessen Verlobte verschwunden ist?«
»Ja, aber bitte legen Sie nicht auf, es ist wirklich wichtig.«
»Also gut, um was geht es?«
»Als Hauptkommissar Kantstein bei Ihnen war, um sich mit Ihnen über Adam
zu unterhalten, was genau wollte er wissen?«
»Hauptkommissar wer?«
»Kantstein. Kriminalhauptkommissar Kantstein vom LKA
.«
»Es tut mir leid, aber der Name sagt mir nichts.«
»Der Name spielt ja auch keine Rolle, es geht um den Polizeibeamten, der Ihnen vor kurzem Fragen zu Adam
gestellt hat.«
»Wie ich schon sagte, ich kenne niemanden mit diesem Namen, und bei mir war auch kein Polizist, der mir Fragen zu Adam
gestellt hat.«