30
Im ersten Moment dachte Hendrik, er hätte sich verhört, aber die Stimme passte, wenn sie auch etwas anders klang, als er in Erinnerung hatte.
»Kommissar Sprang? Ich dachte …«
»Ich säße in U-Haft?«
»Ja.«
»Tja, bis vor kurzem tat ich das auch, und es wäre dem einen oder anderen wahrscheinlich auch lieber, es wäre noch immer so.«
Nun wusste Hendrik, was an Sprangs Stimme anders klang. Die jungenhafte Unbeschwertheit, die ihm bei seinen bisherigen Gesprächen mit dem Kommissar aufgefallen war, war verschwunden.
»Zum Glück hat sich aber herausgestellt, dass an der Geschichte etwas faul sein muss. Auf meiner Dienstwaffe, mit der ich diesen Mann angeblich erschossen haben soll und die in der Nähe des Tatorts gefunden wurde, gab es keinerlei Fingerabdrücke. Alles penibel sauber abgewischt.«
Auch ohne Polizist zu sein, wusste Hendrik, was das bedeutete.
»Das wäre ja vollkommen unlogisch.«
Sprang stieß einen kurzen Zischlaut aus. »Eben. Auch die Staatsanwältin glaubt nicht, dass ich einen Mann mit meiner eigenen Dienstwaffe erschieße, die Waffe dann – weil ich in Panik bin – in der Nähe des Tatorts wegwerfe, so dass sie zwangsläufig von den Kollegen gefunden wird, mir aber vorher die Zeit nehme, meine Fingerabdrücke gründlich abzuwischen.«
»Na, Gott sei Dank. Also hat jemand versucht, Ihnen diesen Mord unterzuschieben.«
»Ganz genau.«
»Aber wie ist derjenige an Ihre Waffe gekommen?«
»Wenn ich das wüsste. Ich weiß nur, dass sie mir definitiv im
Präsidium gestohlen wurde. Das bedeutet, jemand war an meinem Schreibtisch.«
»Vielleicht ein Besucher?«
»Ja, vielleicht.«
»Denken Sie, es ging dabei nur um Sie? Ich meine, glauben Sie, Dr. Steinmetz wurde nur deshalb ermordet, damit Sie verdächtigt werden?«
»Keine Ahnung. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass wer immer auch dahintersteckt, etwas mit dem Verschwinden Ihrer Verlobten zu tun hat.«
Bis eben war Hendrik noch die Frage durch den Kopf gegangen, warum der Kommissar ausgerechnet ihn anrief, kaum dass er wieder auf freiem Fuß war. Jetzt wusste er es.
»Was werden Sie jetzt tun?«
»Alle Hebel in Bewegung setzen, dass dieser Mord schnellstmöglich aufgeklärt wird. Ich bin zwar offiziell vom Dienst suspendiert, bis die Sache aufgeklärt ist, aber das wird mich nicht abhalten. Und ich wollte Sie fragen, ob wir uns zusammentun.«
Darüber musste Hendrik nicht lange nachdenken. Ganz davon abgesehen, dass Sprang von Anfang an – im Gegensatz zu Kantstein – zumindest in Betracht gezogen hatte, Linda könnte entführt worden sein, hatte der Kommissar in entscheidenden Situationen sicher ganz andere Möglichkeiten als er selbst.
»Ja, das halte ich für eine gute Idee.«
»Sind Sie zu Hause?«
»Nein«, antwortete Hendrik. »Im Moment noch nicht. Aber ich bin auf dem Weg. Später wollte Alexandra noch vorbeikommen. Sie hilft mir bei der Suche nach Linda.«
Hendrik rechnete damit, dass Sprang davon nicht begeistert sein würde, und war umso überraschter, als der sagte: »Das ist gut. Alexandra hat einen ausgesprochen analytischen Verstand und zudem eine sehr gute Menschenkenntnis. Ich bin dann in etwa einer halben Stunde bei Ihnen, okay?«
»Ja, gut«, antwortete Hendrik und beendete das Gespräch.
Während der restlichen Fahrt nach Hause versuchte Hendrik zum wiederholten Mal, die Geschehnisse der letzten Tage in einen Zusammenhang zu bringen, so etwas wie einen roten Faden zu
erkennen. Doch immer wieder brach sein Gedankenkonstrukt zusammen. Er würde später gemeinsam mit Alexandra und vielleicht auch mit Kommissar Sprang versuchen, alle Fakten und Ereignisse auf Zettel zu schreiben und dann daraus ein Gesamtbild zu erstellen. Er bezweifelte, dass die Polizei – speziell Hauptkommissar Kantstein – bisher mit so einem Diagramm bei der Aufklärung von Vermisstenfällen gearbeitet hatte.
Hendrik spürte eine leichte Übelkeit, was ihn daran erinnerte, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte.
Als er kurz darauf den Wagen vor der Garage abgestellt hatte und gerade auf den Eingang zuging, blieb er abrupt stehen. Die Haustür stand einen Spaltbreit offen. Bevor er darüber nachdenken konnte, ob er sie vielleicht nicht richtig zugezogen hatte, wurde sie ganz geöffnet und eine Gestalt erschien, die im Begriff war, das Haus zu verlassen.
»Susanne?«, stieß er vollkommen überrascht aus. »Was tust du denn hier?«
Sie blieb stehen und versuchte ein Lächeln. »Oh, Gott sei Dank, da bist du ja.«
»Ja, allerdings.« Hendrik ging weiter und blieb kurz vor ihr stehen. »Was machst du hier? Und wie bist du überhaupt reingekommen?
»Die Tür stand offen.«
»Offen?« Mittlerweile war Hendrik ziemlich sicher, dass er die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Ja. Ich war bei einer Kundin in der Nähe und wollte kurz vorbeischauen. Als ich hier ankam, war die Tür offen. Ich bin in die Diele gegangen und habe Geräusche von irgendwo da drin gehört. Ich habe nach dir gerufen, und als sich niemand meldete, habe ich Angst bekommen und bin wieder raus, um dich anzurufen, ob du da bist oder nicht. Da drin wollte ich nicht bleiben. Ich fand das unheimlich.«
Hendrik blickte an ihr vorbei ins Innere seines Hauses und hörte tatsächlich ganz leise Geräusche, die er nicht zuordnen konnte.
Er war schon im Begriff, hineinzugehen, hielt dann aber inne. Was würde er tun, wenn sich wirklich jemand im Haus befand? Er zog sein Handy hervor und deutete mit dem Kopf in Richtung Garage.
»Komm mit!«
Während sie an seinem Wagen vorbeigingen und auf der anderen Seite stehen blieben, wählte er Sprangs Nummer.
»Wo sind Sie?«, fragte er, als der Kommissar abhob.
»Fast bei Ihnen, warum?«
»Das ist gut. Wie es aussieht, ist jemand in meinem Haus. Die Tür stand offen, und von drinnen hört man Geräusche.
»Was für Geräusche?«
»Ich weiß es nicht. Wann sind Sie hier?«
»In fünf Minuten. Unternehmen Sie nichts, bis ich da bin. Und gehen Sie vor allem auf keinen Fall ins Haus.«
»Nein, mache ich nicht.« Hendrik legte auf und steckte das Smartphone ein.
»Wer kann das sein?«, fragte Susanne ängstlich.
»Keine Ahnung.« Hendrik riss seinen Blick von der noch immer halb offen stehenden Haustür los und sah Lindas Freundin an. »Es war ganz schön leichtsinnig von dir, da einfach reinzugehen.«
»Ich konnte doch nicht wissen, dass du nicht da bist. Aber als ich diese Geräusche gehört habe …«
Hendrik sah wieder zum Eingang hinüber. »Wenn da jemand drin war, ist er mittlerweile wahrscheinlich längst durch den Garten verschwunden. Kommissar Sprang vom LKA
ist gleich hier.«
Als Sprang kurz darauf eintraf, ließ er sich von Hendrik und Susanne noch einmal genau erzählen, was geschehen war. Dann forderte er sie auf, sich nicht von der Stelle zu rühren, während er drinnen nachsehen würde.
»Haben Sie eine Waffe?«, wollte Hendrik wissen. »Nein«, entgegnete Sprang. »Es wird auch so gehen.«
Es dauerte etwa drei Minuten, bis der Kommissar wieder in der Haustür erschien und den Kopf schüttelte. »Da ist niemand, Sie können kommen.«
Als Susanne und Hendrik ihn erreicht hatten, sagte er: »Wahrscheinlich haben Sie die Tür nicht richtig zugezogen, als Sie das Haus verlassen haben. Und die Geräusche, die Sie gehört haben, kamen vom Fernseher.«
»Vom Fernseher? Den hatte ich aber nicht an. Und ich weiß, dass ich die Tür geschlossen habe.«
Sprang zuckte mit den Schultern. »Sie können sich ja drinnen mal umschauen, ob irgendetwas fehlt. Es deutet jedenfalls nichts auf einen Einbruch hin.«
»Ja, das kommt mir bekannt vor«, murmelte Hendrik und wollte hineingehen, wurde aber von Susanne zurückgehalten.
»Ich fahre wieder, okay? Ich melde mich.«
Hendrik sah sich um. »Wo ist dein Auto?«
»Das steht noch vor dem Haus meiner Kundin in einer Seitenstraße, zwei Minuten von hier. Ich bin die paar Meter zu Fuß gegangen.«
Hendrik nickte ihr zu. »Ich rufe dich morgen an.«
Nachdem er gefolgt von Sprang einen Rundgang durchs Haus gemacht und festgestellt hatte, dass alles an Ort und Stelle war, war er ein wenig erleichtert. Vielleicht hatte er die Tür in der Eile doch nicht richtig geschlossen?
Als er gemeinsam mit Sprang das Wohnzimmer betrat, richtete sich der Blick des Kommissars auf die umwickelte Kamera an der Decke. Er deutete darauf. »Haben Sie nur die Kamera funktionsunfähig gemacht oder das ganze System abgeschaltet?«
»Letzteres. Ich traue Adam
nicht mehr. Vor allem nach dem, was ich gerade mit den Aufzeichnungen erlebt habe.«
»Was denn?« Sprang deutete auf die Couch. »Darf ich?«
»Ja, bitte.« Hendrik wartete, bis Sprang saß, dann berichtete er von seinem Erlebnis mit Kantstein. Als er geendet hatte, schüttelte Sprang den Kopf. »Mal ganz davon abgesehen, dass das mit diesen Aufnahmen geradezu beängstigend ist … Ich weiß nicht, was mit Georg los ist. Seit …«
»Georg?«, unterbrach Hendrik ihn.
»Ja, Georg Kantstein. Sorry! Wie gesagt, ich verstehe ihn nicht mehr. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich im Moment auch ziemlich sauer auf ihn bin.«
Hendrik stieß ein kurzes, bellendes Lachen aus. »Das wundert mich nicht. Ich hatte den Eindruck, er war recht schnell davon überzeugt, dass Sie diesen Mord begangen haben.«
Sprangs Blick richtete sich an Hendrik vorbei. »Ja.«
Seine Stimme klang leise und verletzlich. »Ich dachte allerdings, er kennt mich besser.«
Hendrik überlegte, ob er dem Kommissar seine Gedanken mitteilen konnte, und entschied sich für Offenheit. »Da ist noch etwas, das ich seltsam finde. Kantstein hat doch angeblich mit Herrn Buchmann von der Firma Hamburg Home Systems
über Adam
gesprochen.«
»Ja, warum?«
»Buchmann schwört, dass nie ein Gespräch mit einem Polizisten stattgefunden hat.«
Auf Sprangs Stirn zeigten sich Falten.
Hendrik zuckte mit den Schultern. »Ich bin kein Polizist und kenne Kantstein nicht, aber … wäre es möglich, dass er in irgendeiner Form … ich meine …«
»Sie wollen wissen, ob Georg etwas mit diesen Dingen zu tun haben könnte, die gerade geschehen?«
»Ja, so was in der Art.«
Es verging eine Weile, bis Sprang antwortete. »Ich weiß es nicht, aber alles in mir wehrt sich gegen diesen Gedanken. Und diese Geschichte mit dem angeblichen Gespräch … keine Ahnung. Vielleicht lügt dieser Buchmann? Vielleicht hat Georg sich auch vertan, oder ich habe etwas falsch verstanden. Georg ist seit dreißig Jahren Polizist, und er ist mein Partner. Dass er so schnell bereit war zu glauben, ich hätte diesen Mord begangen, hat mich sehr verletzt, und ich denke, es wird nicht mehr möglich sein, vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Aber … trotzdem hat er nur seinen Job als Ermittler gemacht. Er ist nach der Beweislage vorgegangen, und die hat eindeutig gegen mich gesprochen.«
»Ja, so eindeutig, dass es eigentlich jedem hätte auffallen müssen, dass da etwas nicht stimmt.«
»Wie auch immer. Ich muss jetzt versuchen herauszufinden, wer mir diesen Mord in die Schuhe schieben wollte. Ich bin mittlerweile sicher, dass wir dann auch wissen, wer für das Verschwinden Ihrer Verlobten verantwortlich ist.«
»Das ist gut möglich. Auf jeden Fall bin ich fest davon überzeugt, dass jemand Adam
dazu benutzt hat, um in mein Haus einzudringen und Linda zu entführen. Ebenso wie bei den Krollmanns.«
»Die Möglichkeit besteht jedenfalls.«
Hendrik ging zum Sideboard und öffnete eine Tür. »Möchten Sie
etwas trinken? Ich glaube, ich brauche jetzt einen Wodka.«
»Nein, danke, ich bin im …«, setzte Sprang an, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, ich bin nicht im Dienst, und ja, ich möchte.«
»Gibt es eigentlich etwas Neues zum Verschwinden von Julia Krollmann?«
»Meinem letzten Kenntnisstand nach nicht«, erwiderte Sprang, zog sein Smartphone aus der Hosentasche und tippte darauf herum. »Die Kollegen in Greetsiel haben das Ferienhaus und die nähere Umgebung durchsucht, die Nachbarn befragt und ihr Foto im ganzen Ort herumgezeigt. Niemand hat sie dort gesehen. Ebenso wenig wie ihren Mann oder Linda.« Er blickte zu Hendrik auf, der vor ihm auf dem Tisch ein Glas abstellte. »Das ist zumindest mein letzter Stand. Seit gestern ist es schwieriger für mich, an aktuelle Informationen heranzukommen.«
»Ja, das denke ich mir. Ich war übrigens in der Zwischenzeit im Krankenhaus in Alsterdorf und habe mich nach Dr. Steinmetz erkundigt. Dabei hat mir sein ehemaliger Chef, Professor Geibel, erzählt, dass Krollmann tatsächlich dort recherchiert und auch einige Ärzte wegen irgendwelcher dubiosen Bankgeschäfte befragt hat, in die einige Mitarbeiter der Führungsetage verwickelt sein sollen. Vielleicht hat der Mord an Steinmetz etwas damit zu tun?«
»Und warum versucht dann jemand, mir diesen Mord in die Schuhe zu schieben? Ich weiß nichts von irgendwelchen Recherchen oder Bankgeschäften.« Sprang blickte nachdenklich an Hendrik vorbei. »Es sei denn, jemand wollte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, und ich hatte mit dem Grund, diesen Dr. Steinmetz zu töten, gar nichts zu tun.«
»Ja, so was in der Art.«
»Hm … darüber muss ich nachdenken. Vielleicht ist das ein Ansatz.«
»Ja, da könnte einiges zusammenhängen. Krollmanns Verschwinden, nachdem er im Krankenhaus recherchiert hat, die Entlassung von Dr. Steinmetz, seine anschließende Ermordung … Aber es gibt auch eine ganze Menge Dinge, die ich nicht verstehe. Was hat Linda mit alldem zu tun? Und wie passt Julia Krollmann dazu, die verschwindet, nachdem sie mich abends noch angerufen und mir gesagt hat, sie habe etwas gefunden, das sie mir zeigen
müsse. Und weiter: Warum taucht bei mir jemand auf, um mir zu erzählen, er habe Linda mit Krollmann zusammen gesehen? Und – noch rätselhafter – warum gibt derjenige sich als Dr. Steinmetz aus?«
»Wow!«, stieß Sprang anerkennend aus. »Sie würden einen guten Ermittler abgeben.«
»Finden Sie? Ich habe aber bisher nur Fragen aufgelistet und keine Antworten.«
»Was einen guten Ermittler ausmacht, ist die Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen.«
»Ich habe auch eine Frage an Sie«, sagte Hendrik, nachdem sie eine Weile schweigend nachgedacht hatten. »Wenn Linda entführt worden ist … Glauben Sie, dass sie noch lebt?«
Sprang griff nach dem Glas, trank aber nicht, sondern behielt es in der Hand und betrachtete den Inhalt. »Das lässt sich schwer sagen, und es wäre unseriös, wenn ich Ihnen jetzt irgendwelche Prognosen geben würde. Dieser ganze Fall ist äußerst ungewöhnlich, aber da noch keine Leiche gefunden worden ist, sollten wir grundsätzlich davon ausgehen, dass sie zwar wahrscheinlich entführt worden ist, aber noch lebt.«
Hendrik horchte in sich hinein und versuchte herauszufinden, ob das, was Sprang gerade gesagt hatte, ihn aufmunterte. Es gab da jedoch etwas, das dagegen sprach.
»Müsste dann nicht irgendjemand mit Forderungen an mich herangetreten sein? Lösegeld oder was auch immer man von mir erpressen könnte?«
Sprang sah von seinem Glas auf und blickte Hendrik in die Augen. »Normalerweise schon.«