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»Wie siehst du denn aus?«, fragte Gerdes statt einer Begrüßung, nachdem er Hendrik die Tür geöffnet hatte.
Hendrik tastete mit den Fingerkuppen über das Pflaster an der Stirn. »Ach, das ist nichts.«
»Komm rein!« Paul Gerdes machte eine einladende Handbewegung und trat einen Schritt zur Seite, so dass Hendrik an ihm vorbei den großzügigen Eingangsbereich des zweigeschossigen Hauses in Eppendorf betreten konnte. Die Gemälde an den Wänden glichen denen in Gerdes’ Büro im Krankenhaus und hatten wahrscheinlich ein Vermögen gekostet.
»Entschuldige bitte, dass ich dir solche Umstände mache«, sagte Hendrik, nachdem er im großen Wohnzimmer in einem der schweren, englischen Ledersessel Platz genommen hatte.
Gerdes schüttelte den Kopf und deutete auf zwei Gläser, die in der Mitte des Tisches standen und etwa zwei Finger breit mit einer goldgelben Flüssigkeit gefüllt waren. »Da gibt es nichts zu entschuldigen. Ich habe auf den Schock hin schon mal etwas vorbereitet.« Er schob eines der Gläser zu Hendrik hinüber, nahm das andere selbst in die Hand und hielt es sich unter die Nase. »Excalibur . Scotch, fünfundvierzig Jahre alt. Ein Schätzchen.«
Er hob das Glas kurz in die Höhe, während er Hendrik mit einem seltsam forschenden Blick bedachte, so, als versuchte er herauszufinden, ob mit ihm alles in Ordnung war. »Zum Wohl. Den können wir jetzt beide brauchen.«
Hendrik nahm einen Schluck, und obwohl er kein Freund von Whisky war, musste er gestehen, dass dieser ihm tatsächlich schmeckte.
»Tropische Früchte«, sinnierte Gerdes und betrachtete die Flüssigkeit, als suchte er nach etwas, das darin herumschwamm. »Papaya, Guave, Passionsfrucht und Mango. Dann eine Spur Minze, gefolgt von Zimt und Birne. Lang und wärmend im Abgang. Nussige Noten, dazu Ahornsirup und Sahne.«
Hendrik hatte keine Ahnung, wie Gerdes das alles herausgeschmeckt haben wollte, aber das gehörte im Moment auch nicht zu den Dingen, über die er sich Gedanken machen wollte.
»Du sagst, wir können den beide gebrauchen – was meinst du damit?«
Gerdes stellte das Glas auf den Tisch und winkte ab. »Persönlicher Kram. Nichts, was wir besprechen müssen. Es geht jetzt um dich. Und um Linda.«
Hendrik richtete den Blick auf den Couchtisch. »Ich habe Angst, Paul«, gestand er leise. »Nicht um mich, sondern um Linda. Sprang meinte zwar, ihr wird heute Nacht nichts mehr passieren, aber … du hättest die Stimme von dem Dreckskerl hören müssen. Wenn ich je einem Verrückten zugehört habe, dann war das gerade eben.«
Hendrik bemerkte, dass Gerdes ihn die ganze Zeit über angesehen hatte, und verzog den Mund zu einem traurigen Lächeln. »Tut mir wirklich leid, dass ich dich mit reinziehe.«
Gerdes beugte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf seine Oberschenkel. »Hendrik … wir sind nicht nur Kollegen, sondern auch Freunde. Es tut mir unendlich leid, was gerade passiert, und ich verspreche dir, alles zu tun, was ich kann, um dir zu helfen. Das ist eh schon wenig genug.« Nach einem kurzen Moment wiederholte er: »Ich werde alles tun, versprochen.«
»Glaubst du, Linda lebt noch?«
Gerdes stieß die Luft aus. »Ich weiß, ich müsste dir jetzt vielleicht sagen, dass sie selbstverständlich noch am Leben ist und es ihr gutgeht, aber … was wäre ich für ein schlechter Freund, wenn ich etwas anderes sagen würde, als ich denke? Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Ich hoffe es sehr, aber ich weiß es nicht.«
Sie tranken beide ihre Gläser leer, als hätten sie es abgesprochen.
»Ich habe dir noch gar nicht erzählt, dass ich deinem Kollegen Geibel einen Besuch abgestattet habe«, sagte Hendrik, als er das leere Glas abgestellt hatte. Er glaubte zu bemerken, dass Gerdes kurz zusammenzuckte. »Ach, was wolltest du von ihm?«
»Ich habe ihn nach Dr. Steinmetz gefragt und nach Jonas Krollmann.«
»Und?«
»Ein seltsamer Mensch, finde ich. Er wirkte auf mich genau so, wie du mir diesen Dr. Steinmetz beschrieben hast. Über Steinmetz als seinem ehemaligen Mitarbeiter wollte er natürlich aus Datenschutzgründen nicht viel sagen, aber er hat bestätigt, dass Krollmann im Krankenhaus Fragen gestellt hat. Angeblich wegen irgendwelcher krummer Bankgeschäfte, in die Mitarbeiter des Krankenhauses verwickelt sein sollen. Was er natürlich als vollkommenen Quatsch abgetan hat.«
»Hm …«, brummte Gerdes.
»Davon abgesehen, dass ich den Teil noch immer nicht glaube, in dem der falsche Steinmetz behauptet hat, Linda in Krollmanns Auto gesehen zu haben, finde ich auch alles andere sehr merkwürdig.«
»Was meinst du damit?«
»Warum taucht der ehemalige IT -Leiter von Hamburg Home Systems bei mir zu Hause unter falschem Namen auf, um mir Dinge zu sagen, die – zumindest größtenteils – tatsächlich passiert sind? Er hätte mir eine anonyme Mail schreiben können mit dem Hinweis, oder was weiß ich. Und warum war es dem Kerl überhaupt wichtig, dass ich von Krollmanns Recherchen erfuhr? Warum hat er sich diese Mühe gemacht und dabei ausgerechnet den Namen von jemandem benutzt, der kurz darauf ermordet wird? Wusste er das zu diesem Zeitpunkt schon? Hat er vielleicht sogar etwas mit dem Tod von Steinmetz zu tun?«
Gerdes gab ein zischendes Geräusch von sich und schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Diese Fragen solltest du vielleicht der Polizei stellen.«
»Tja, da hätten wir die nächste seltsame Geschichte. Ich weiß nicht einmal, wem von der Polizei ich trauen kann. Einer der beiden Ermittler, die sich mehr oder weniger mit dieser Sache befasst haben, soll angeblich Steinmetz erschossen haben, hätte dabei aber so offensichtliche Beweise hinterlassen, dass er nicht in ein Gefängnis, sondern in eine Klapsmühle gehörte, wenn er es wirklich gewesen wäre. Sein Partner hingegen, der sich die ganze Zeit über mehr als merkwürdig verhält, hat nichts anderes zu tun, als seinen Kollegen schnellstmöglich hinter Gitter zu bringen. Schließlich wird der vermeintliche Mörder wieder auf freien Fuß gesetzt, weil auch die Staatsanwältin erkennt, dass diese angeblichen Beweise extrem widersprüchlich sind, er bleibt aber vom Dienst suspendiert. Er möchte mir inoffiziell helfen, Lindas Entführer zu finden, weil er überzeugt ist, dass der ihm auch den Mord an Steinmetz anhängen wollte. Und bei alldem denke ich jede Sekunde daran, dass Linda seit Tagen verschwunden ist und ich nicht einmal weiß, ob sie überhaupt noch lebt.« Hendrik blickte Gerdes an, sah ihn aber nur verschwommen, weil seine Augen sich mit Tränen füllten.
»Du hättest hören sollen, wie dieser Irre mit mir geredet hat, Paul. Und was er sagte. Wer weiß, was dieses Schwein ihr schon alles angetan hat.« Hendrik konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Als er nach einer Weile wieder zu Gerdes hinsah, hatte der das Gesicht in den Händen vergraben, ließ sie aber schnell wieder sinken. »Hast du herausgefunden, ob dieser Journalist tatsächlich an einer Story dran war, die das Krankenhaus betrifft?«
»Nein, wie denn auch? Und außerdem – Professor Geibel hat doch bestätigt, dass das so war.«
Gerdes’ Gesicht verdüsterte sich. »Das will nicht unbedingt etwas heißen.«
»Wie? Ich dachte, ihr seid Freunde?«
»Freunde? Mit jemandem wie Friedrich Geibel ist man nicht befreundet. Der Mann kennt nur einen Freund, und das ist er selbst. Zudem hast du recht, Geibel ist genau so, wie ich dir Dr. Steinmetz beschrieben habe. Manchmal habe ich das Gefühl, er hat Freude daran … Aber lassen wir das.«
Hendrik wunderte sich über diese Aussage. Beim ersten Mal, als Gerdes seinen Kollegen erwähnt hatte, hatte er das Gefühl gehabt, die beiden würden sich näherstehen.
»Wenn das, was dieser Krollmann entdeckt hat, wirklich mit einer Bank zu tun hat«, fuhr Gerdes fort, »und das die Bank ist, in der Linda gearbei…, entschuldige bitte, arbeitet , dann könnte da tatsächlich der Grund für ihr Verschwinden liegen.«
Hendrik dachte an Julia Krollmann. An ihren Anruf bei ihm an dem Abend, bevor sie verschwand. Sie wollte sich unbedingt mit ihm treffen, weil sie etwas entdeckt habe. War das, was sie gefunden hatte, der Grund für Lindas und schließlich auch für ihr eigenes Verschwinden?
»Hendrik?«
Er schreckte auf. »Entschuldige.«
»Alles okay?«
»Ja, mir ist nur gerade etwas eingefallen.«
»Darf ich fragen, was?«
»Krollmanns Frau hat mich am Abend, bevor sie verschwunden ist, angerufen. Sie wollte sich am nächsten Morgen mit mir treffen, weil sie wohl etwas Wichtiges entdeckt hatte. Kurz danach ist sie verschwunden.«
»Und sie hat nicht erwähnt, was es war, das sie entdeckt hat?«
»Nein, und jetzt werden wir es wahrscheinlich auch nicht mehr erfahren.«
Hendrik stand auf und begann, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Obwohl er sich völlig ausgelaugt fühlte, konnte er nicht mehr sitzen bleiben. Es war zum Verzweifeln. Jeder Gedanke endete in einer Sackgasse. Warum hatte er an dem Abend nicht darauf bestanden, sich sofort mit Julia Krollmann zu treffen? Vielleicht hatte sie wirklich den entscheidenden Hinweis gefunden? Dass sie kurz danach verschwunden war, konnte kein Zufall sein. Hatte sie noch jemanden angerufen? Vielleicht den Falschen?
Oder hatte jemand sie über die Kameras ihres Adam beobachtet und dadurch erfahren, was sie gefunden hatte? Hatte dieser Jemand die Notwendigkeit gesehen, sie daraufhin verschwinden zu lassen?
Hendrik blieb stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Falls es so war … Hektisch zog er sein Handy hervor und wählte Alexandras Nummer. Gerdes beobachtete ihn interessiert, stellte aber keine Fragen.
Auch Alexandra war offensichtlich noch wach, wie Hendrik an ihrer Stimme zu hören glaubte. »Gibt es eine Möglichkeit, in das Haus der Krollmanns zu kommen?«, fragte er ohne weitere Erläuterung.
»Was? Warum?«
»Das erkläre ich dir später. Wir müssen nur irgendwie da rein.«
»Die Polizei hat bestimmt …«
»Neineinein, keine Polizei. Ich weiß nicht mehr, wem ich da noch trauen kann.«
»Was? Ich verstehe nicht … Sprang ist doch auf deiner Seite.«
»Ja, ich weiß, aber er ist verständlicherweise mehr daran interessiert, herauszufinden, wer ihm den Mord in die Schuhe schieben wollte. Das muss aber nicht zwangsläufig auch derjenige sein, der Linda entführt hat. Also, hast du eine Idee, wie wir in das Haus kommen?«
»Wie kommst du darauf, ich wüsste … Moment mal.«
»Ja? Was ist?«, fragte Hendrik hoffnungsvoll.
»Vielleicht … Ich rufe dich gleich zurück.«
»Okay, ich …«, begann Hendrik, aber Alexandra hatte bereits aufgelegt.
»Und?« Gerdes stellte die Whisky-Flasche auf dem Tisch ab, nachdem er nachgeschenkt hatte.
»Ich weiß es noch nicht, aber es hörte sich so an, als hätte Alexandra vielleicht eine Idee.«
»Wie bist du überhaupt an diese Alexandra gekommen?«
»Sie tauchte auf, kurz nachdem Linda verschwunden war.«
Gerdes betrachtete seine Hände. »Und welches Interesse hat sie daran, dir zu helfen?«
»Sie studiert Psychologie und hat ein Praktikum bei der Kripo gemacht, weil sie als Profilerin oder Polizeipsychologin arbeiten möchte. Als Jonas Krollmann und diese Frau Peters verschwanden, hat sie herausgefunden, dass in beiden Häusern das gleiche Smart-Home-System installiert ist. Als ich dann über Facebook nach Linda gesucht habe, hat Alexandra das gesehen und sich bei mir gemeldet.«
»Hm … das ist sehr uneigennützig von ihr.«
»Ja, das ist es.« Hendrik kniff die Augen ein wenig zusammen. »Höre ich da einen Unterton in deiner Stimme?«
Gerdes griff nach seinem Glas und nahm einen Schluck. »Nein, nicht unbedingt. Aber hast du noch nicht darüber nachgedacht, warum sie das tut?«
»Ehrlich gesagt, ist mir das im Moment ziemlich egal. Ich bin einfach froh, dass ich sie habe. Sie hat Kontakt zu dem Hacker, der offensichtlich die Lücke bei Adam gefunden hat. Allein wäre mir das nicht gelungen.«
Gerdes winkte ab. »Schon gut, du hast recht. Manchmal höre ich einfach die Flöhe husten.«
»Ich finde es richtig, dass du …« Das Summen seines Smartphones unterbrach Hendrik.
»Es könnte klappen«, sagte Alexandra aufgeregt.
»Wie?«
»Marvin!«
»Wer auch sonst.« Hendrik hörte selbst, wie genervt er klang, und fügte sofort schuldbewusst hinzu: »Sorry, schieß los.«
»Wir können es auch lassen, wenn du ein Problem damit hast, dass er sich mitten in der Nacht bereiterklärt, uns beim Einbruch in ein Haus zu helfen. Er hat vielleicht auch Besseres zu tun.«
»Ich sagte doch gerade, es tut mir leid. Meine Nerven liegen zurzeit ziemlich blank. Also, wie kann Marvin uns helfen?«
»Okay. Er schickt mir den Link zu einem Programm, das ich auf meinem Laptop installiere. Wenn wir vor dem Haus der Krollmanns stehen und ich das WLAN von ihrem Smart-Home-System erreiche, schaltet er sich über diese Software dazu, hackt sich in das System und öffnet die Tür für uns.«
»Das kann er? In ein angeblich einbruchsicheres System?«
»Du vergisst, dass er es war, der die Lücke gefunden hat, die ja offensichtlich nicht geschlossen wurde und jetzt von diesem Irren dazu benutzt wird, in die Häuser ihrer Opfer einzudringen. Also kann Marvin das auch.«
Hendriks Magen krampfte sich bei dem Gedanken zusammen.
»Hattest du nicht behauptet, er könnte genau das nicht?«
»Das habe ich so nicht gesagt. Ist das denn jetzt wichtig?«
»Nein. Das bedeutet also, Marvin kann sich immer noch in die Steuerung von jedem Haus einklinken, in dem Adam eingebaut ist?«
»Theoretisch ja, aber das würde er niemals tun. Er ist nämlich kein Krimineller.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Das klingt nicht sehr überzeugt.«
»Alexandra, ich kenne Marvin nicht, und du letztendlich auch nicht.«
»Aber er möchte uns helfen.«
»Ja, ich weiß.«
»Okay, lass mich dir kurz etwas erklären. Jemand hat ihn getäuscht und benutzt, um auf elegante Weise in Häuser einbrechen zu können. Er hat Schuldgefühle, weil er das, was gerade passiert, letztendlich erst möglich gemacht hat. Deshalb ist es ihm so wichtig, dass dieser Kerl gefasst wird. Deshalb hilft er uns. Also: Möchtest du nun in dieses Haus rein oder nicht?«
Hendrik musste nicht lange überlegen. Etwas über Lindas Verbleib herauszufinden, das war wichtiger als alles andere.
»Ja, das möchte ich.«
»Ich komme dich in einer halben Stunde abholen.«
»Okay, aber ich bin nicht zu Hause, sondern bei meinem Chef.«
Er nannte ihr die Adresse, dann legte er auf.
Gerdes betrachtete ihn eine Weile nachdenklich, bevor er wieder zu seinem Glas griff. »Ich hoffe, du weißt, was du tust.«
»Nein«, antwortete Hendrik, und das entsprach der Wahrheit.