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Alexandra traf einige Minuten vor dem verabredeten Zeitpunkt ein. Hendrik hatte mittlerweile in einem digitalen Telefonbuch die Hausnummer der Krollmanns herausgefunden und stand nun mit Gerdes schon vor dem Haus. Er umarmte ihn, als der Wagen hielt. »Danke, dass du für mich da warst.«
Gerdes sah ihm in die Augen und nickte ernst. »Ich wollte, ich könnte mehr tun für dich und Linda.«
»Nochmals, danke«, sagte Hendrik und wandte sich ab.
Sekunden später stieg er zu Alexandra in deren Wagen. Während er sich anschnallte, sah sie ihn fragend an. »Alles okay bei dir?«
»Ja, bei dir auch? Hat das mit Marvin geklappt?«
»Die Software ist installiert. Ob es funktioniert, werden wir sehen, wenn wir vor dem Haus der Krollmanns stehen.«
Hendrik nickte. »Lass uns fahren.«
Nach Mitternacht herrschte kaum noch Verkehr auf Hamburgs Straßen, so dass sie gut vorankamen.
»Wonach suchen wir in dem Haus eigentlich genau?«
»Als Julia Krollmann mich angerufen hat, sagte sie, wir müssten uns dringend treffen, weil sie etwas herausgefunden hätte. Vielleicht haben wir Glück, und sie saß mit dem, was sie gefunden hat, im Wohnzimmer. Dann müsste es eine Aufnahme davon im Medienordner ihres Adam
geben, worauf man – wieder mit Glück – erkennen kann, was es war.«
»Puh … da brauchen wir aber tatsächlich eine ganze Menge Glück.«
»Nach dem Mist, den ich in den letzten Tagen erlebt habe, hätte ich das auch verdient.«
Knappe zwanzig Minuten später hatten sie ihr Ziel erreicht.
Alexandra stellte ihr Auto in einer Seitenstraße ab. Die zweihundert Meter zum Haus von Julia und Jonas Krollmann legten
sie zu Fuß zurück.
Links neben dem Gebäude gab es einen Durchgang, an dem nur eine hüfthohe hölzerne Tür angebracht war, die zudem einen Spalt weit offen stand. Hendrik deutete zu der Stelle, sagte: »Komm mit« und ging los.
Der Weg war etwa einen Meter fünfzig breit und gegenüber der Hauswand durch eine Hecke begrenzt. Das Licht des Halbmondes, der am wolkenlosen Himmel schräg über ihnen stand, reichte aus, um erkennen zu können, wohin sie traten. Der Garten war nicht sehr groß, bestand zum größten Teil aus einer Rasenfläche und sah zumindest im silbernen Schein des Mondes sehr gepflegt aus.
Auf der Terrasse angekommen, zog Alexandra ihr Notebook aus der Tasche, platzierte es auf einem kleinen Holztisch und klappte es auf. Nachdem sie ihr Handy danebengelegt und den Hotspot aktiviert hatte, öffnete sie ein Fenster, das einen schwarzen Hintergrund hatte und in dessen oberer linker Ecke ein Cursor blinkte. Dann huschten Alexandras Finger mit faszinierender Geschwindigkeit über die Tatstatur, während in dem schwarzen Fenster eine Abfolge von Zeichen und Wörtern erschien, die für Hendrik so aussahen, als würde ein Kind wahllos auf der Tatstatur herumtippen. Zum wiederholten Mal fragte er sich, wo sie das gelernt hatte. Zum Psychologiestudium gehörten diese Computerkenntnisse eher nicht.
»Was geschieht nun?«, flüsterte Hendrik.
»Marvin wird sich jetzt auf mein Notebook schalten und es übernehmen. Dann startet er ein Programm, mit dem er über einen bestimmten Port mit dem Smart-Home-System kommunizieren kann.«
»Und er kennt die Zugangsdaten zu dem System?«
»Nein, aber er kann Adam
glauben lassen, er hätte sich als Admin angemeldet.«
»Hm …« Hendrik war nicht klar, wie genau das funktionierte.
Alexandra richtete sich auf und beobachtete ebenso wie er, wie mit hoher Geschwindigkeit Kolonnen an Zahlen und Buchstaben durch das schwarze Fenster rauschten. Ein wenig erinnerte ihn das an den Film Matrix
, wo er etwas Ähnliches gesehen hatte. Alexandra deutete darauf. »Okay, Marvin hat übernommen.«
»Was ist mit dem Augenscan? Wenn Marvin den Admin-Code kennt, fehlt immer noch der Augenscan.«
Alexandra lächelte nachsichtig. »Also noch mal«, flüsterte sie. »Er kennt das Admin-Passwort nicht, er suggeriert dem System aber, er hätte sich erfolgreich legitimiert. Du kannst dir das so vorstellen, als ob du hungrig wärst und eine Tablette nehmen würdest, die gewisse Rezeptoren in deinem Gehirn so anspricht, dass es denkt, du hättest gegessen, woraufhin es ein Sättigungsgefühl aussendet.«
»Und das, was Marvin da tut, ist die Tablette?«
»Genau! Er suggeriert dem System durch verschiedene Sequenzen, die er durch die Backdoor einschleust, erst mal, dass er sich sowohl mit dem Code als auch mit dem Augenscan erfolgreich identifiziert hat, und anschließend, dass ein erfolgreicher Fingerscan an der Haustür durchgeführt worden ist.«
»Wie man so etwas macht, wird mir ewig ein Rätsel bleiben, aber ich denke, ich habe es verstanden.«
Das hatte Hendrik zwar noch nicht ganz, aber er glaubte zumindest, das Grundprinzip begriffen zu haben.
Alexandra klappte das Notebook zu und steckte es in die Tasche zurück. »Wir sollten nach vorn gehen. Wenn Marvin recht hat, wird die Tür sich bald öffnen.«
Sie mussten nur etwa eine Minute vor der Tür warten, in der Hendrik sich immer wieder nervös umblickte, bis plötzlich ein leises Summen zu hören war. Im nächsten Moment sprang die Tür auf.
Obwohl Alexandra angekündigt hatte, was passieren würde, starrte Hendrik mit einer gewissen Ehrfurcht auf den Türspalt.
»Ich bekomme plötzlich ein ganz neues Verständnis des Themas Sicherheit.«
»Das ist der Fluch der Technik«, sagte Alexandra, während sie die Tür aufdrückte und, gefolgt von Hendrik, ins Haus schlüpfte.
Nachdem Hendrik die Tür vorsichtig zugezogen hatte, wandte er sich Alexandra wieder zu. »Ja, offenbar.«
Sie aktivierte die Taschenlampe ihres Smartphones und leuchtete damit den Flur entlang. »Man investiert Hunderttausende von Euro in die Entwicklung eines Sicherungssystems, und keine vier Wochen später hat es jemand mit dem Einsatz von höchstens einem Prozent
der Kosten geknackt. Das ist bei Waffensystemen genauso. Da werden dreistellige Millionenbeträge in die Entwicklung neuer Stahllegierungen für Panzer gesteckt, und kaum dass die ersten Prototypen getestet werden, entwickelt jemand für fünfzigtausend Euro eine Waffe, die den neuen Stahl wie Butter durchdringt.«
»Ich wundere mich immer wieder, womit du dich beschäftigst«, gestand Hendrik und wandte sich dem Steuerelement zu, das wie in seinem Haus nicht weit von der Tür entfernt in die Wand eingelassen war. Als sein Blick auf die beiden grün leuchtenden LED
s fiel, bohrte sich eine Faust in seinen Magen. »Ich brauche Zugriff auf den Medienspeicher des Systems. Kann Marvin das auch?«
Alexandra wandte sich ab und lief den Flur entlang. »Komm mit.«
Die erste Tür auf der rechten Seite führte zur Küche. Gefolgt von Hendrik, ging Alexandra hinein und legte die Tasche mit ihrem Notebook auf einer Art Theke ab, die an dem freistehenden Block mit der Herdplatte angebracht war. Davor standen zwei Barhocker mit Ledersitzfläche. »Marvin hat uns ein Passwort eingerichtet, mit dem wir Zugang zu allem haben.«
Hendrik zog die Stirn kraus und deutete auf das noch geschlossene Notebook, das Alexandra gerade aus der Tasche zog. »Woher weißt du das? Das Notebook war doch die ganze Zeit in der Tasche? Wie hat er dir das mitgeteilt?«
»Das haben wir vorher besprochen.« Sie wandte sich ihm zu und verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum habe ich bei fast allem, was du sagst, das Gefühl, dass du mir misstraust?«
»Dir nicht«, entgegnete Hendrik und fügte hinzu: »Ich habe vielleicht in den letzten Tagen und speziell in den letzten Stunden einfach zu viele Dinge erlebt, die mich misstrauisch allem und jedem gegenüber gemacht haben. Es geht wirklich nicht gegen dich.«
Alexandra legte ihm eine Hand auf den Oberarm. »Schon gut, ich kann dich ja verstehen. Vielleicht bin ich gerade auch ein bisschen dünnhäutig. Also, lass uns mal sehen, was wir finden.«
Hendrik beobachtete sie dabei, wie sie die Adam
-App öffnete und ein Passwort eingab. Kurz darauf hatte sie die Verzeichnisstruktur des Smart-Home-Systems der Krollmanns vor sich. Hendrik fragte sich, wie die App auf ihr Notebook kam, verkniff sich allerdings eine Bemerkung darüber. Wahrscheinlich hatte sie auch das schon zuvor
mit diesem Marvin besprochen und die App auf seinen Rat hin bereits installiert.
»Welche Kamera brauchst du?«, fragte Alexandra und riss ihn aus seinen Überlegungen.
»Wie, welche …« Hendrik betrachtete die Verzeichnisstruktur und stieß überrascht »Hoppla!« aus.
Neben einem Verzeichnis Wohnzimmer
gab es noch welche mit den Namen Flur
, Küche, Büro
und Schlafzimmer
.