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»Mist!«, entfuhr es Hendrik. »Aber die Sachen könnte auch jemand anderes mitgenommen haben. Zum Beispiel derjenige, der dafür gesorgt hat, dass Julia Krollmann mir nichts von ihrer Entdeckung berichten konnte.«
Alexandra ließ sich auf den Stuhl fallen und blickte Hendrik nachdenklich an.
»Was ist?«, fragte er.
»Hm … darf ich mal ein wenig herumspinnen, ohne dass du wütend wirst?«
»Das deutet ja schon darauf hin, dass gleich etwas kommen wird, das mich wahrscheinlich wütend macht, aber gut, schieß los.«
»Wir haben nicht gesehen, was es war, das Julia Krollmann auf dem USB
-Stick entdeckt hat, oder?«
»Nein. Warum fragst du?«
»Könnte es nicht – rein theoretisch – auch sein, dass sie irgendwelche Dokumente oder vielleicht auch Fotos gefunden hat … also Beweise dafür, dass ihr Mann und Linda … sich besser kannten?«
»Was?«, brauste Hendrik auf. »Fängst du jetzt auch noch mit diesem Mist an? Ich dachte, du glaubst mir!«
»Das tue ich auch. Wie ich schon sagte, es ist einfach nur eine Überlegung.«
»Aha.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Und weiter? Oder war es das schon?«
»Na ja, zumindest würde der Anruf bei dir dazu passen. Sie wollte sich mit dir treffen, weil sie entdeckt hat, dass … du weißt schon. Schließlich würde dich das ja ebenso betreffen wie sie.«
»Okay. Dann verrate mir doch mal eins: Warum gibt es keine Aufzeichnungen mehr von der Nacht, ab dem Moment, in dem Julia das Wohnzimmer verlassen hat? Hat sie sie vielleicht selbst
gelöscht, bevor sie aus dem Haus ging, um ihren untreuen Ehemann aus den Armen meiner untreuen Verlobten zu retten?« Er bemerkte selbst, dass er lauter geworden war, hatte aber keine Lust, sich dafür zu entschuldigen.
»Hey … ist ja schon gut. Du hast ja recht, das ist der Punkt, der nicht dazu passt. Wie gesagt, es war nur so ein Gedanke. Man sollte immer alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«
»Mit diesem Gedanken würdest du wahrscheinlich bei Herrn Kantstein offene Türen einrennen.«
Hendrik spürte das Summen seines Smartphones in der Hosentasche und zog es heraus. Es war Paul Gerdes, sein Chef.
»Ja?«
»Hendrik, hör mir zu!« Gerdes flüsterte, und doch klang er gehetzt, außer Atem. »Bist du noch in diesem Haus?«
»Ja, bin ich. Wir …«
»Ihr müsst da weg«, wisperte er eindringlich. »Sofort.«
»Was? Aber …«
»Nein. Hör mir zu. Im Keller im Evangelischen Krankenhaus … Mist!« Im nächsten Moment war das typische Tuten zu hören, das anzeigte, dass die Verbindung unterbrochen worden war.
»Paul?«, rief Hendrik, obwohl er wusste, sein Chef konnte ihn nicht mehr hören.
»Was ist los?«, fragte Alexandra beunruhigt.
Hendrik schüttelte den Kopf, ignorierte Alexandra und klickte nervös auf der Anrufliste Gerdes’ Nummer an. Es klingelte acht-, neunmal, dann sprang die Sprachmailbox an.
»Verdammt«, stieß Hendrik aus und steckte das Telefon in die Tasche zurück. »Das war mein Chef. Er hat geflüstert. Es klang hektisch, als hätte er nur ein paar Sekunden Zeit. Er sagte, wir müssten sofort von hier verschwinden, und erwähnte noch den Keller im Evangelischen Krankenhaus, dann brach das Gespräch ab.«
»Klingt so, als wüsste er mehr als wir«, vermutete Alexandra. »Du kennst ihn. Sollten wir das ernst nehmen?«
Hendrik blickte zu der Stelle an der Decke, an der die Kamera installiert sein musste, und entdeckte sie auf einem hohen Regal. Am unteren Rand blinkte ein roter Punkt. »Das sollten wir.«
Sie verließen das Büro, und noch auf der Treppe nach unten wählte Hendrik Sprangs Nummer. Es klingelte mehrere Male, dann schaltete sich auch dort die Mailbox an. »Zemmer hier«, sagte Hendrik hastig. »Rufen Sie mich bitte sofort zurück, wenn Sie das abhören. Es ist wichtig.«
Unten angekommen, fragte Alexandra: »Warum hast du nichts von dem Anruf gesagt?«
»Weil ich nicht weiß, wer wo was mithört.« Als Hendrik die Hand auf die Klinke der Tür legte, rechnete er fast schon damit, dass sie verschlossen wäre, und stieß erleichtert die Luft aus, als sie sich öffnen ließ.
»Ich wollte doch noch die Aufnahmen von uns löschen«, versuchte Alexandra, ihn zu bremsen, doch Hendrik schüttelte den Kopf. »Nein, das ist jetzt egal. Wir müssen zu diesem Krankenhaus. So wie Paul gerade geklungen hat, ist es wichtig und dringend.«
Mit schnellen Schritten legten sie die zweihundert Meter zum Auto zurück und waren wenige Minuten später auf dem Weg.
»Glaubst du, das hat etwas mit Linda zu tun?«, fragte Alexandra, nachdem sie einige Zeit schweigend nebeneinandergesessen und nach vorn auf die Straße gestarrt hatten.
»Gut möglich. Ich habe keine Ahnung, was da gerade bei Paul los war, aber offensichtlich weiß er tatsächlich etwas. Ich hoffe nur, dass er nicht in ernsthaften Schwierigkeiten steckt.«
Nach diesem Telefonat vermutete Hendrik jedoch, dass genau das der Fall war.
Normalerweise hätte er sich nun auf den Weg zu seinem Chef machen oder zumindest offiziell die Polizei alarmieren müssen, aber es musste einen Grund geben, dass Paul ihn so dringend zum Evangelischen Krankenhaus schickte. Der Polizei vertraute er einfach nicht, weil er nicht sicher sein konnte, bei wem seine Informationen landen und was derjenige dann daraus machen würde. Deshalb hatte er sich auch nur bei Sprang gemeldet.
Sie brauchten für die knapp fünfzehn Kilometer von Othmarschen bis zum Krankenhaus Alsterdorf zwanzig Minuten, in denen Hendrik nervös auf dem Beifahrersitz hin und her rutschte und sich sehr zusammennehmen musste, um Alexandra nicht aufzufordern, aufs Gaspedal zu treten, damit sie schneller vorankamen.
Als sie schließlich auf den großen, fast völlig leeren Parkplatz fuhren, löste Hendrik den Gurt, noch bevor Alexandra das Fahrzeug abgebremst hatte.
»Ich frage mich, ob wir jetzt überhaupt da reinkommen«, überlegte er laut und öffnete die Tür.
»Wir werden es bald wissen«, erwiderte Alexandra. »Du hast nicht zufällig deinen Arztausweis dabei?«
»Nein, und selbst wenn … Die Leute an der Pforte kennen normalerweise das Personal, das nachts ins Krankenhaus kommt. Wir müssen es einfach versuchen.«
Als sie über den gepflegten Weg auf den Eingang zusteuerten, hielt Alexandra Hendrik am Arm fest. »Warte mal. Falls dein Chef recht hat und hier läuft irgendetwas Schräges ab, könnte es ein Fehler sein, es über den Haupteingang zu versuchen. Wer weiß, wen der Pförtner benachrichtigt, wenn wir ihm seltsam vorkommen. Gibt es in Krankenhäusern nicht so etwas wie einen Personaleingang?«
»Das ist unterschiedlich. Ich weiß nicht, wie es hier ist. Und selbst wenn, dann wird dieser Zugang sicher nicht offen sein.«
Alexandra beharrte: »Lass uns um das Gebäude herumlaufen und nachsehen, okay? Wenn der an der Pforte irgendwo anruft und nachfragt, weil wir mitten in der Nacht hineinwollen, ist die Chance vielleicht vertan.«
Es brannte Hendrik zwar unter den Nägeln, herauszufinden, warum Paul so aufgeregt gewesen war, aber er sah ein, dass Alexandra wahrscheinlich recht hatte. »Also gut, gehen wir da rüber.« Er deutete nach rechts, wo ein schmaler Weg parallel zur Front des Krankenhauses verlief.
Nachdem sie dem gepflasterten Pfad ein Stück gefolgt waren, kamen sie an eine Stelle, an der eine Treppe zu einer Tür hinabführte, die mit einem seitlich angebrachten Kästchen mit glatter, dunkler Fläche versehen war. Davor konnte man einen codierten Dienstausweis halten, der – sofern man die Berechtigung dazu hatte – das elektronische Schloss entriegelte. Hendrik kannte das von einigen Bereichen des UKE
.
»Das war’s dann«, sagte er resigniert. »Ohne Ausweis kommen wir hier nicht rein. So viel also dazu. Lass uns zurückgehen und es am Haupteingang versuchen.«
Alexandra schüttelte den Kopf und hob die Hand. »Nein, warte. Lass mich was ausprobieren.«
Ohne weiter auf Hendrik zu achten, stieg sie die Treppe hinab, blieb vor der Tür stehen und nestelte ihr Smartphone aus der Hosentasche. Nachdem sie eine Weile darauf herumgetippt hatte, schüttelte sie den Kopf und sagte leise: »Mist!«, um dann gleich wieder mit beiden Daumen in einer geradezu unglaublichen Geschwindigkeit auf dem Display herumzutippen.
Nach einer Weile ging Hendrik die ersten Stufen der Treppen hinab und sagte leise: »Nun komm schon, du merkst doch, dass das nicht funktioniert. Vielleicht hättest du deinen Marvin …« Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment ertönte von der Tür ein Summen. Als Alexandra sich dagegen lehnte, sprang sie auf.
»Das ist ja ein Ding«, stieß Hendrik anerkennend aus und lief die restlichen Stufen nach unten. »Langsam wirst du mir wirklich unheimlich.«
»Ach, das ist eine kleine Hackersoftware, die man überall im Web herunterladen kann«, spielte Alexandra ihren Erfolg herunter. »Und das WLAN
zu knacken ist ein Kinderspiel. Aber ist jetzt auch egal, gehen wir rein.«
»Das ist jetzt schon mein zweiter Einbruch innerhalb von zwei Stunden«, stellte Hendrik flüsternd fest, als sie einen dunklen Flur betraten und die Tür hinter sich zuzogen. Alexandra aktivierte die Taschenlampenfunktion und hielt das Smartphone hoch.
Der Gang endete nach etwa fünf Metern in einem breiteren Quergang, der sich in beiden Richtungen verzweigte, die der schwache Schein der Handytaschenlampe nicht ausleuchten konnte.
Ohne bestimmten Grund deutete Hendrik nach links und flüsterte: »Da lang.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es nicht, aber eine Richtung ist so gut wie die andere. Hinweisschilder gibt es ja leider keine.« Er zog ebenfalls sein Telefon hervor, aktivierte die Taschenlampe und ging voraus.
Schon nach einigen Metern führten zu beiden Seiten Türen ab, die jedoch beschildert waren. Es handelte sich überwiegend um Materialräume, die mit verschiedenen Buchstaben- und Zahlenkombinationen auf den weißen Täfelchen neben den
Türrahmen gekennzeichnet und alle unverschlossen waren. In ihnen standen Regale mit Putztüchern, Reinigungsmitteln oder Toilettenpapier.
Nach etwa dreißig Metern endete der Gang in einer weiteren Tür. Sie war aus Metall und ebenfalls nicht verschlossen. Als Hendrik sie vorsichtig öffnete, sah er eine Treppe, die nach oben führte. Ein Lichtschein drang von oben herunter, und als er Alexandra andeutete, die Tür offen zu halten, und zwei Schritte weiterging, erkannte er, dass die Stufen oben in einen hell erleuchteten Gang mündeten.
Er wandte sich um und ging an Alexandra vorbei. »Ich denke, da geht es zu den Stationen«, erklärte er leise. »Gerdes sagte aber etwas vom Keller. Versuchen wir es auf der anderen Seite.«
Nachdem sie den schmaleren Gang passiert hatten, durch den sie gekommen waren, bot sich ihnen ein ähnliches Bild wie in der anderen Richtung. Türen mit kryptischen Bezeichnungen zu beiden Seiten, nur dass hier die meisten Räume dahinter leer waren.
Auch auf dieser Seite endete der Flur an einer Tür, die aber doppelflügelig und ähnlich wie der Nebeneingang mit einem Kästchen zur Zutrittskontrolle und mit einer Tastatur versehen war, an der man einen Zahlencode eintippen musste, um die Tür zu öffnen. Noch ehe Hendrik etwas sagen konnte, schob Alexandra ihn zur Seite und flüsterte: »Lass mich mal, das Prinzip ist das Gleiche.«
Eine knappe Minute später sprang die Tür auf.
Der Gang, der hinter der Tür fortgesetzt wurde, war ebenfalls dunkel. Sie hatten gerade ein paar Schritte gemacht und die erste Tür erreicht, als Hendriks Telefon in seiner Hand vibrierte. Er sah auf dem Display Sprangs Namen und nahm das Gespräch an, während er mit der freien Hand die Tür öffnete, vor der er stand.
»Sie hatten angerufen?« Sprangs Stimme klang verhältnismäßig klar und nicht so, als wäre er gerade erst aufgewacht.
»Ja, Moment bitte«, flüsterte Hendrik, betrat den Raum und drückte die Tür hinter sich so weit zu, dass sie nur noch einen Spalt offen stand. Er wusste nicht, wohin der Gang führte, und wollte niemanden durch das Telefonat auf sich aufmerksam machen.
Der Schein der Taschenlampenfunktion zeigte ihm, dass er sich in einem kleinen Raum befand, der bis auf ein paar Kisten leer war.
»Ja. Wir sind in Alsterdorf, im Krankenhaus. Ich hatte eben einen merkwürdigen Anruf von meinem Chef.« Er erzählte von dem kurzen Gespräch, woraufhin Sprang fragte: »Haben Sie schon im Präsidium angerufen oder über den Notruf?«
»Nein.«
»Okay. Ich übernehme das. Ich informiere die Kollegen und komme sofort. Wo genau sind Sie?«
»Im Keller. Vor dem Eingang führt rechts ein Weg zu einer Treppe. Da sind wir rein.«
»Haben Sie schon irgendetwas entdeckt?«
»Nein, bisher nur dunkle Gänge.«
»Okay. Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich komme so schnell wie möglich. Ich melde mich wieder, wenn ich da bin.«
»Gut«, sagte Hendrik und legte auf. Er öffnete die Tür, verließ den Raum und blieb verblüfft stehen.
Alexandra war verschwunden.
»Alex?«, flüsterte er und lauschte. Nachdem nichts geschah, rief er noch einmal nach ihr.
Hendriks Herzschlag beschleunigte sich, doch er beruhigte sich selbst, indem er sich sagte, dass Alexandra wahrscheinlich einen der nächsten Räume erkundete. Langsam ging er weiter, bis er vor einer weiteren Tür stand. Er wollte sie öffnen, musste aber feststellen, dass sie abgeschlossen war. Er wandte sich ab und ging weiter. Der Eingang zum nächsten Raum war nicht verschlossen. Hendrik öffnete die Tür ein Stück und leuchtete in den dahinter liegenden Raum, während er seinen heftig pochenden Puls an der Halsschlagader spüren konnte und ihm sein eigener Herzschlag unnatürlich laut erschien.
»Alex? Bist du da drin?«
Das war sie nicht. Der Raum war vollkommen leer und roch nach modrigem Keller – ungewöhnlich für ein Krankenhaus. Offensichtlich wurde dieser Flügel des Kellers seit längerer Zeit nicht mehr genutzt.
Er trat einen Schritt zurück und zog die Tür zu. Als er weiterging, nahm er ein Geräusch hinter sich wahr und wollte sich schon erleichtert zu Alexandra umdrehen, da presste sich etwas Weiches auf seinen Mund.
Süßlicher Geruch schien seinen ganzen Kopf auszufüllen, ihm wurde schlagartig übel. Im nächsten Augenblick fuhr etwas Heißes durch Hendriks Körper, dann versank er in tiefer Dunkelheit.