8

»Ich weiß es doch nicht! Wenn das klappt mit dem Flug morgen Nachmittag, dann bin ich übermorgen da. Mein Akku ist leer!«

Ich drückte blind auf den Auflegen-Knopf, doch es war nicht der Auflegen-Knopf. Das Gerät quiekte, das Display blinkte auf. Ich horchte: tut-tut, besetzt. Drückte die Taste mit dem roten Telefonhörer darauf, horchte noch einmal: stumm.

Ich sank. Gegenüber hob sich der Boden, die Kugel rollte her, berührte eine Bande, rollte an der Bande entlang, ganz langsam erst, dann schneller, rollte auf ein Loch zu. Ich ging, so schnell es ging, am Rand entlang, um die Ecke herum, um die Neigung zu verringern und die Kugel abzubremsen. Labil, stabil, indifferent, dann weiter mit der Kugel, das war in etwa | ungefähr der Plan.

Ein Junge stand eine Armlänge weit entfernt, zwei bis drei Fuß, und beobachtete meine Schritte, als ob er aus ihnen ein System ableiten könne, eine Formel, die er nur auswendig zu lernen und erfolgreich anzuwenden brauchte.

Die Kugel stand fast still. Ich sah die Spitze eines roten Schuhs. Um den Schuh und mich, da lag ein großer runder | elliptischer Schatten. Eleganz, dachte ich. Jetzt mit Eleganz den Restschwung nutzen und knapp am Loch vorbei mit der Kugel. Ich ging einen halben Schritt zu weit, Elefanteneleganz, die Kugel wurde zu schnell schnell, fiel in ein dunkelgraues Loch. Von oben hörte ich: PLOCK! Schatten, Schuhe, Scheitern.

»Guter Versuch«, sagte eine tiefe Stimme (Bariton?) aus dem Dunkel. »Versuchen Sie’s noch mal.«

Der Junge starrte weiter auf das Labyrinth aus weißem Licht und bunter Lasur.

In einer Ecke erschien wieder die Kugel. Ich setzte einen Fuß auf das Feld | das Licht | die Spiegelung, die Kugel bewegte sich. Ich bewegte meinen Schatten, die Kugel rollte durch die Kanäle, stieß an Baken, rechts, vor, rechts, zurück, links. Wo es möglich war, parkte ich sie in einer Ecke, setzte mich auf einen Stuhl am Rand des Dunkels und überlegte den nächsten Schritt. Wenn ich aufstand, zog und stach es in den Knien. Natürlich war ich gestern viel zu viel auf den Beinen gewesen, natürlich hatte das Walgewicht, der auftrieblose Leib viel zu lange auf die Gelenke gedrückt, an den Knorpeln gescheuert. Ich konnte den exakten Ort des Schmerzes nennen: Ansatz des Innenbandes am Schienbeinkopf innen. Ein Arthroseratgeber, die Übersetzung war erst ein paar Wochen her. Taking decisions, your task.

Die Kugel musste raus jetzt aus der Ecke, musste durch die Lücke in der Bake durch. Mein Schritt war zu kurz, Schienbeinkopfbandansatzschmerz, die Kugel wurde zu langsam langsam. Von der Decke: PLOCK! Labil, stabil, indiskutabel. Boden: Licht. Das Darunter nicht zu sehen, doch ich wusste: PVC.

Im Dunkel stand ein Museumswärter, ein alter Herr.

Er sagte: »Guter Versuch.«

Ich: »Fantastisch. Wer denkt sich so was aus?«

Ich blickte in ein schwarzes Ohr, aus dem lange weiße Haare wuchsen, die schmalen Blätter eines Luftwurzlers | landläufig: Spanisch Moos | Louisiana-Moos | korrekt: Graue Tillandsie (Tillandsia usneoides). Ein African American, Afrikanischer Amerikaner, Mutter würde »N.« sagen, würde sagen »N., huch, das darf man ja nicht sagen«.

Er nannte den Namen des Ingenieurs | Künstlers. »Ein Absolvent der Hochschule. Letztens war er hier.«

Jetzt stand der Junge auf dem Labyrinth. Sein Schatten halb so weit wie meiner. Flink sprang er von Kante zu Kante. Er bugsierte die Kugel um Außenecken, in Eingänge, an Löchern vorbei. Er legte sie in einer Ecke ab. Dann schlenderte er um das Feld herum wie ein Billardspieler vor dem nächsten Stoß. Ein Schritt ins Licht, die Fläche senkte sich, die Kugel kullerte diagonal zwischen Lücke und Bake hindurch.

Der Wärter: »Es hängt von Ihrem Umfang ab. Die Kamera misst sozusagen das Gewicht Ihres Schattens.«

Der Junge, ein kaukasischer Junge, Mutter würde »weißer Junge« sagen, würde einfach »Junge« sagen, überlegte. Ich ging weiter in den nächsten Raum. Hinter mir, von der Decke: PLOCK. »Guter Versuch«, die Stimme des Wärters. »Versuch es noch mal.«

Im nächsten Raum bewegten sich Skulpturen, zwei traurige und eine frohe.

Die erste. Der Wunschknochen | das Gabelbein eines Hühnchens war, die Gabel nach unten, vor einen klappernden Karren aus Draht gespannt. Der Karren | Wagen rollte langsam, aber stetig vorwärts, auf ihm kreisten Speichenräder, mit- und gegeneinander, in Bewegung gesetzt allein von dem Hühnchenknochen, der das ganze Gestell breitbeinig zog. Mühsam. Sein sozusagen Oberleib pendelte nach links, nach rechts. Stoisch. John Wayne in Ketten.

Dann registrierte ich, dass nicht der Knochen hier die Karre zog, sondern dass im Gegenteil die Karre, angetrieben von einem quartergroßen Elektromotor, dessen Summen vom hellen Klappern der Drahtgestänge übertönt wurde, mit Hilfe einer durchtriebenen Mechanik den Knochen pendeln ließ und schob. Mehr noch: Der Hühnchenknochen schien tatsächlich selbst zu glauben, schien vom Schöpfer dieser Anordnung mutwillig | absichtlich in dem Wahn gelassen, er, der Hühnerknochen, zöge den ganzen Wagen mitsamt seiner Ladung, dem Aufbau aus Rädern, Drähten, Rollen und Schraubenfederchen. John Wayne, breitbeinig ohne Grund. Eine Marionette, der Belustigung des Publikums ausgeliefert.

Die zweite Skulptur. Eine Gusseisenscheibe. Das Schwungrad eines alten Traktors oder dergleichen. Es drehte sich. Wieder langsam, wieder Elektromotor. Oben auf dem Außenreif ging wieder etwas Anthropomorphes. Eine vertrocknete Pflanzenstruktur. Der Wärter war mir nachgegangen und in der Tür stehen geblieben. Er rief: »Artischocke! Es ist ein Artischockenblatt!«

Ein abgenagtes | des Fruchtfleischs entledigtes | durch die Schneidezähne eines Menschen gezogenes Artischockenblatt also, mit zwei Beinstummeln dort, wo es am Artischockenboden befestigt | festgewachsen gewesen war, und einer von der Dürre eingerollten Blattspitze, einem gebeugten | gesenkten Kopf. Am Blattrücken waren zwei Drähte befestigt, die waren über kleine Wellen, Pendelchen und Kettchen mit dem Motor verbunden, der auch das Rad antrieb. Die Drähte machten, dass das Artischockenblatt sich abwechselnd nach rechts neigte, nach links. Ein breiter Mann, flach von der Seite, tropfenförmig von hinten, der nachdenklich auf einem schmalen Bergweg ging. Die Stummelbeinchen raschelten | schabten | kratzten, wenn sie den Weg berührten, auf dem rostigen Belag.

Die dritte Skulptur: ein Getriebe. Nur Drehungen. Nichts Organisches, nur Metall und Mineral. Eine Reihe von Zahnrädern, hintereinander montiert, über Gewindeschnecken miteinander verbunden. Kein Geräusch außer dem Summen des Motors und dem hochfrequenten Rühren der Antriebswelle. Die Antriebswelle mündete in eine Gewindeschnecke, die übertrug die Kraft auf ein Zahnrad. Das drehte sich schnell, trieb eine Schraube, die trieb wieder ein Zahnrad. Das drehte sich langsam. Ich fixierte den obersten Zahn. Nach ein paar Augenblicken war ich nicht mehr sicher, ob der Zahn, den ich fixierte, wirklich der oberste gewesen war. Ich fixierte noch einmal den obersten Zahn. Dass er nicht mehr der oberste war, bemerkte ich, als er auf zwei Uhr zeigte | auf zehn nach zwölf.

Auf einer Tafel stand:

Zahnrad 1: 15 Sekunden / Umdrehung

Zahnrad 2: 12,5 Minuten / Umdrehung

Zahnrad 12: 2,32 Trillionen Jahre / Umdrehung

Alter des Universums: 13–14 Milliarden Jahre.

Auf die Nabe des zwölften Zahnrads war ein Vierkantbolzen gesetzt, der steckte passgenau in einem Granitblock.

Nach etwa, ich zählte die Zähne und dividierte, 30 Milliarden Jahren würde sich das zwölfte Rad um einen Zahn weitergedreht haben. Dann würde der Granit erste feine Risse bekommen. Nach spätestens noch einmal dreißig bis hundert Milliarden Jahren würde der Bolzen den Granitblock sprengen.

In etwa | ungefähr ein paar Jahrzehnten allerdings würde der Stahl der vordersten | ersten Gewindeschnecke abgeschliffen sein, sie würde sich alleine drehen und ihre Kraft vergeuden bis zum Untergang des Universums oder wenigstens der Welt. Auf den Motor war ein Schild genietet: »THERMALLY PROTECTED«.

Aus dem nächsten Raum diffundierte ein blasses Licht. Ich zögerte. Der Museumswärter, der noch immer in der Tür stand, sagte: »Die lebenden Bilder. Nichts, was wehtut.«