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Das dauerte. Manchmal kam Yannick (der Kleine) in die Werkstatt. Zuerst ging die Brettertür auf, nach außen. Helles Rechteck, hochkant. Niemand zu sehen. Dann lehnte ein Schattenriss im Türsturz, Schulter an der Zarge (Stahl, rostpicklig). Dann stand Yannick neben mir am Stein und registrierte schweigend jeden Schlag.

Zuerst mussten diese scheußlichen Kreuzstummel weg, die aus dem Stein wuchsen, oben links und links oben, diese Sinnstiftungsreste. Das Ende vom linken Querbalken, das aus der Flanke des Steins herauskam: weg. Links aus Zuschauersicht, nicht aus Sicht Jesu. Das Kreuz als Theater, nicht als Wappen. Der Querbalken, Symbol der Verbundenheit von Mensch und Erde. Ein Grab allein war genug (viel zu viel) Symbol Verbundenheit Mensch – Erde. Weg.

Der Kopf des Längsbalkens, Verbundenheit des Menschen mit dem lieben Gott bzw. dem, der den, der da einmal angenagelt gewesen war, letztlich da hatte annageln lassen: weg.

Ich haute mit dem Spitzeisen drauflos. Aus dem Marmor stieg ein Gestank, der mit jedem Hieb dichter wurde. Viele parts per million, noch mehr parts per million. Ein Gestank nach faulen Eiern | Schwefelwasserstoff. Verfaultes Plankton und zermatschte Trilobiten aus der Kalksteinküche, in der dieser Stein gebraut worden war vor zehn Millionen Generationen (hypothetisch). Gleich ebenso viel Geburten und ebenso viel minus eins Toden | Begräbnissen (hypothetisch).

So stank es in der Hölle selbst. Das war jetzt also der Geruch, den seine Leiche | seine Reste nicht (rpt: nicht) verströmt hatte | hatten; der Gestank war aus ihm direkt in den Stein gefahren, in die Kohlenstoff- und die Pyritadern, und mit jedem Schlag des Fäustels auf das Spitzeisen, mit jedem Splitter, der vom Stein sprang, atmete der Stein aus und stank ganz gottserbärmlich in die Werkstatt hinein.

Yannick (der Kleine) rümpfte die Nase und schaute mich tadelnd an. Kopf schief, Schnute. Ich: »Das war ich nicht. Das ist der Stein.«

Ich drosch mit dem Stockhammer, Fleischklopfer aus Stahl, die gespitzten Flächen der Balkenenden herunter, der Aufsatz immer feiner, bis die Flächen gleichmäßig waren wie die feingestockten Flanken des Steins.

An der Ecke, oben links, blieb eine Einkerbung, ein Falz, den ich versucht hatte zu übersehen. Er war nicht zu übersehen. Der Winkel, den die Kreuzbalken bildeten, ragte an der Ecke in den Steinquader hinein. Eine Scharte. Ein Stein mit einer deutlich sichtbaren Macke.

Nächster Tag. Ich malte Buchstaben unter und über den Namen des Vaters. P, A, U, L, A. Falsche Proportionen: eine lange Pause nach dem P, Paulapause, dann kam erst das A. Es klebte mit dem Fuß am U. Das L war zu breit. Das (wieder zu lange Pause) zweite A driftete nach Nordost. Ich pfuschte die gepfuschten Lettern in den Stein. Haute, steil von links, von rechts, die Nut.

Ich haute einen sechsstrahligen Stern | Asterisken (auch: zur Kennzeichnung von erschlossenen, nicht belegten Wortformen). Der geriet kursiv.

Ich versuchte ein Griechisches Kreuz. Zwei kurze Geraden, die sich trafen zwischen dem Vater und mir. Dann war der Stein zerschrieben.

Nächster Tag ff. der Bossen. Alles, was weg muss vom Stein. Hier: die Vorderseite bis runter zur Sohle der Nut.

Bossieren: den Bossen wegschaffen. Wegschaffen, was weg muss.

Ich riss den Bossen ringsherum an mit dem Stahlstift, dann sprengte ich die Kanten ab. Der erste Schlag schon war zu tief angesetzt, ein großes Marmordreieck sprang weg. Eine bruchraue Delle, die tiefer lag als der Riss. Die würde bleiben.

Abspitzen, einebnen, Schlag ziehen. Ein tiefer Rahmen aus Schraffur, eine kleine Handbreit, lag auf der Fläche | der sozusagen Leinwand. Die Initialen des Namens des Vaters verschwanden bereits in dem Rahmen | waren schon weggehauen. Der Restname vom Vater und mein schlecht proportionierter Vorname quollen aus dem Rahmen heraus.

Mit dem Korundstein (Aluminiumoxid) schliff ich die Kanten ab.

Beim Abspitzen der Fläche verschwommen der Name des Vaters und meiner, bis sie in den Tälerchen der Hügelchenlandschaft verschwunden waren. SORRY, NO REAL-TIME INFORMATION AVAILABLE FOR YOUR REQUESTED FLIGHT.

Die Handflächen waren rot lasiert von Rost und Schweiß und Kalkstaub. Ich rieb darin herum, die Handlinien wurden schwarz. Ich rubbelte sie frei, rollte schwarze Würstchen die Herzlinie und die Kopflinie entlang und wieder zurück und schüttelte die Würstchen ab. Die Fingergelenke schmerzten vom Eisenhalten links und vom Fäustelhalten rechts.

Ich langte nach dem Stockhammer. Ich langte nach der Flex. Ich spielte mit dem Anstellwinkel, der Schleifkranz kreischte (Industriediamanten), und wenn ich lange und genau genug hinhörte, erkannte ich die Melodie | das Klingelspiel. Das war die Musik aus der Werkstatt, wenn ich im Steinbecken lag. Das Klingeln, der Staub, der elektrische Geruch aus dem Motor der Flex: Kindheitssedativum.

Nur an den Gestank, der jetzt schwächer, doch noch immer aus dem Stein und, wenn ich mich über die Platte beugte, in die Nase und ins Gehirn stieg, an den Gestank erinnerte ich mich nicht. Das waren die Fürze des Teufels und seiner verrotteten Sippschaft, die hatten den Vater vergiftet.

Auf dem Bänkstein, der unter dem Marmor herausragte, sammelten sich Absprengsel und Abschliff zu Hyperbel-Ästen aus Steinmehl; Abwehungen, die vom Stein weg abwärts übergingen von Bröckchen und Splittern in Grieß und Puder.

Die Trennscheibe griff nicht mehr. Ich wollte das Schleifblatt wechseln. Ich drückte mit der flachen Hand auf die Verschlussmutter, die war heiß, die Haut am Handballen zischte.

Rekonstruktion. Am Ende haute er nur noch falsche, ganz ausgedachte Namen in den Stein. Namen, die es gar nicht geben konnte. Die keine Ähnlichkeit mit irgendeinem existierenden Namen hatten. Namen, die keine Erinnerung hervorriefen.

Slash Rekonstruktion.

Das war komplizierter als ROT13. Das war eine Verschlüsselung, für die es keinen Schlüssel gab. Aber eine Verschlüsselung, für die es keinen Schlüssel gab, das war keine Verschlüsselung.

Rekonstruktion. Er sagte: »Ich schreib dem Teufel doch nicht seinen Einkaufszettel!« Und: »Wenn man den Stein liest und man denkt nicht an den Menschen, dann ist der auch nicht tot.«

Hinter der Werkstatt stapelten sich die abgelaufenen Steine, die er immer noch vom Friedhof holte, auch dann noch, als er keinen Stein mehr verkaufte, höher und höher; vor der Werkstatt standen die aufgearbeiteten, die niemand bezahlen wollte. Er pflasterte mit den Steinen den Fußweg von der Haustür zur Straße, die Waschküche im Keller, die Terrasse, und am Ende auch die Einfahrt.

Slash Rekonstruktion.

Am Ende war der Stein glatt, aber gewölbt (konvex). Ich hatte vom ersten Schlag an falsch geschlagen | ungenau. Falsch und ungenau, das war das Gleiche. Von den Kanten her nicht tief genug, gleich von den Kanten her zu hoch gehauen aus Furcht, wie beim ersten Schlag zu tief zu hauen. Jetzt wölbte sich der Stein. Eine polierte Wölbung mit Wellen | Dellen darin, aber die Schrift war verschwunden, und darauf kam es an. Unter dem Glanz (Korn 24, 60, 100 usw., zuletzt: 600) leuchteten in noch hellerem Weiß die Preller, überschliffene Abdrücke der Stockhammerzähne. Ich beugte mich über die Platte. Ein Mondgesicht mit hellen Prellersommersprossen.

Viel später standen auf dem Stein zwei Namen. Die Schrift um die Namen herum bedeckte ganz die Vorderseite des Steins, von Kante zu Kante. Die Schrift auf dem Stein behauptete zu benennen, was nicht sichtbar oder nicht mehr sichtbar war. Die Baustellentafel über der fertigen Tunneldecke. Big Dig. Big Dick.

Schon der Entwurf der Schrift war falsch proportioniert gewesen. In keinem Wort stimmten die Zwischenräume und in keiner Zeile war der Abstand zwischen den Wörtern einigermaßen gleichmäßig.

Die Lettern selbst: krumm und schartig. Die Geraden nicht gerade, die Rundungen nicht rund. Die Beizkanten der Lettern waren nicht scharf und flatterten oder, im besseren Fall: schwangen hin und her. Eine Nut, die oben schon tief und steil war, konnte auf dem Weg nach unten, zum Fuß der Letter, noch tiefer und steiler werden, um kurz vor Schluss dann doch ganz flach und beinah plan auszulaufen. An manchen Stellen hatten einzelne große Kristalle, beim Fertigbeizen unvorsichtig herausgesprengt, die ganze Nut zerrissen.

Oben links, gleich neben der Kreuzbalkenscharte, zeigte der polierte Stein sein bruchraues Inneres. Ich hatte um die zu tief abgestemmte Stelle einfach herumgehauen | herumgeschrieben.

Vom Fenster her fiel das Licht über den weißen Stein und warf in den Nuten scharfe Schatten. Jeder einzelne Buchstabe war hässlich und verkehrt, doch die Schrift als Ganzes wirkte wie ein absichtsvolles Muster. In der Vielzahl hoben die Fehler einander auf.

Ich hätte den Stein gern selbst gesetzt, doch so lange konnte ich nicht mehr bleiben. Die Erde musste wenigstens ein Mal durchregnen und gefrieren und wieder durchregnen und trocknen. Erst im nächsten Frühjahr konnte das Fundament gegossen und der Stein gesetzt werden. Wer sollte den Stein setzen?

Die Schwester und der Schwager schliefen seit ein paar Wochen getrennt. Wenn ich nachts aus der Werkstatt ins Haus ging, hörte ich ihn aus dem Wohnzimmer schnarchen.

Es war wohl möglich, dass seine toten Schwiegereltern bald seine toten ehemaligen (nicht: ehemaligen toten) Schwiegereltern waren. Den Schwager brauchte ich nicht zu fragen.

Die Schwester brauchte ich schon gar nicht zu fragen. Ich hantierte mit Besenstielrollen unter dem Stein, um ihn ohne Hilfe in einen alten Bettbezug einschlagen zu können, da öffnete sich die Tür. Niemand zu sehen. Ich stopfte das Bettzeug unter dem Stein hindurch, zog auf der einen Seite ein Holz heraus und schob es auf der anderen Seite wieder unter den Stein. Ich bemerkte hinter mir einen Schatten und sagte: »Gut, dass du kommst, Yannick! Hilf mir mal!«

»Nix Yannick.«

Ich erschrak und fuhr herum. Die pralle, dunkelrote Nase von Wagner III. Mond- | Marslandschaftsnase. SORRY, NO REAL-TIME INFORMATION AVAILABLE FOR YOUR REQUESTED FLIGHT.

Im ganzen Dorf und in allen Siedlungen, sogar der ohne Attribut, war bekannt, dass Wagner III den Friedhof nur verließ, um im Discounter schräg gegenüber, am unteren Ortsausgang, Lebensmittel einzukaufen, Konserven, Nudeln, H-Milch, alle vier Wochen Montag Vormittag um acht Uhr dreißig. Was wollte er hier?

»Kleinen Ausflug gemacht«, sagte er. »Wollte doch mal sehen.« Wagner betrachtete den Stein, flüsterte die lange Inschrift und versuchte dann, die beiden Namen laut und flüssig herzusagen, was ihm nicht gelang. Dann sagte er: »Und jetzt brauchst du einen, der den Stein setzt.«