Ringelmützenstreit
Ist es dir schon mal passiert, dass dein Leben von heute auf morgen vollkommen durcheinandergeschüttelt wurde? Ich meine richtig durcheinander? Sodass am Ende kein Stein mehr auf dem anderen lag und du nicht einmal mehr wirklich sicher sein konntest, ob du nun Philippa heißt oder Ottilie oder gar Chrysantheme? Und alles nur, weil es im Oberstübchen einer Krankenschwester ein paar Kurzschlüsse gegeben hat?
Aber lass mich von vorn beginnen. Bis Mitte Juni dieses Jahres dachte ich nämlich noch, dass mein Name das Ungewöhnlichste in meinem Leben sei. – Philippa!
So hießen Katzen, alte Tanten, Feen und vielleicht auch Prinzessinnen, aber keine fast zwölfjährigen Mädchen, die weder blonde Locken und Flügel noch Runzeln oder Fell besaßen.
Okay, wenn ich es mir hätte aussuchen können, hätte ich mich für das Fell entschieden und wäre als Katze ins Reich meiner besten Freundin Mariel eingezogen. Dann hätten wir genauso wie meine Katze Limette und ich Tag und Nacht zusammen sein können. Sie hätte mich gestreichelt und mit Leckerlis gefüttert und mir alles erzählt, was ihr auf der Seele brennt. Als Katze wäre ich natürlich nicht in der Lage gewesen, etwas dazu zu sagen oder Mariel irgendwelche Ratschläge zu geben, aber immerhin hätte ich geduldig zuhören und im Falle eines Falles schnurrend Trost spenden können.
Vor allem aber hätte Mariel sich um mich kümmern müssen. Sie hätte nicht mehr sagen können: »Och nö, heute habe ich doch keine Lust auf dich«, und dann einfach unsere Verabredung platzen lassen, weil sie lieber vor dem Computer sitzen und Sims spielen oder mit Arletta und deren dusseligen Freundinnen abhängen wollte.
Tja, zwischen Mariel und mir lief es in dieser Zeit im Frühjahr leider nicht gerade perfekt. Und das fühlte sich nicht nur ziemlich dämlich, sondern total verkehrt an. Immerhin kannten wir uns schon seit unserer Geburt.
Na ja, zumindest waren wir im selben Krankenhaus zur Welt gekommen, Mariel allerdings eine Woche später als ich. Aber unsere Mütter waren damals von derselben Hebamme betreut worden, und die war es am Ende auch, die uns zusammengebracht hatte, indem sie Mama und Birgitta denselben Rückbildungsgymnastikkurs empfahl.
Eigentlich müsste ich dieser Frau dankbar sein, denn ohne sie hätte ich Mariel wahrscheinlich nie kennengelernt.
Mariels Mutter Birgitta und Mama verstanden sich damals jedenfalls auf Anhieb. Nach dem Gymnastikkurs schleppten sie uns mit schöner Regelmäßigkeit in unseren bunten Tragetüchern ins Café Luffo, um uns bei einer Tasse Tee oder einem süßen Malzbier zu stillen und über Gott und die Welt zu reden.
Schon bald trafen sie sich mehrmals in der Woche, und letztendlich war es nur logisch, dass Mariel und ich später in dieselbe Krabbelgruppe, denselben Kindergarten, dieselbe Grundschule und vor knapp anderthalb Jahren schließlich auch auf dieselbe Gesamtschule gekommen waren.
Mariel und ich waren wie Schwestern und gleichzeitig wie beste Freundinnen, und bis auf ein paar kurze, heftige Streits verstanden wir uns immer supergut. Bis sie völlig überraschenderweise auf Arlettas Geburtstagsparty eingeladen worden war – und tatsächlich hinging. Ohne mich, versteht sich. Es war mir verdammt schwergefallen, aber ich hatte mich zusammengerissen und ehrlich versucht, ihr keine Vorwürfe zu machen und auch sonst keine Show abzuziehen. Insgeheim hatte ich nämlich gehofft, dass sie Arletta und ihre beiden Großkotzfreundinnen Tiffany und Neomi, die wir aus der Badmintongruppe kannten, hinterher noch ätzender finden würde und wir dann so richtig über sie ablästern könnten. Doch Pustekuchen! Plötzlich war dieses bescheuerte Ich-krieg-alles-was-ich-will-und-trage-nur-die-teuersten-In-Klamotten das Maß aller Dinge.
»Phily«, hatte Mariel nämlich am Tag nach der Party zu mir gesagt, »wenn man es zu etwas bringen will, muss man mit den richtigen Leuten verkehren.«
Ich hatte sie angestarrt, als wäre sie nicht Mariel, sondern ein Mädchen von einem anderen Stern, das zufälligerweise bloß so aussah wie meine beste Freundin. So ein krauses Zeug hatte sie nämlich noch nie von sich gegeben.
»Was soll das denn heißen?«, hatte ich erwidert und mir fast eine Delle in die Stirn getippt. »Etwa, dass ich der falsche Umgang für dich bin?«
»Quatsch«, hatte Mariel geantwortet und fast so theatralisch, wie Arletta es immer tat, die Augen verdreht. »Was du immer gleich denkst!«
Ich hatte gefunden, dass es nicht ganz ehrlich klang, den fiesen Stich in der Brust aber tapfer ignoriert.
»Außerdem hättest du ja mitkommen können«, hatte sie dann hinzugesetzt.
»Was? Zu Arlettas Party?«
»Klar.«
»Aber ich war doch überhaupt nicht eingeladen.«
»Na und.« Mariel hatte ihre langen braunen Haare zurückgeworfen und mich in die Seite geknufft. »Du bist doch meine Freundin.«
Sie hatte ihr typisches glucksendes Mariel-Lachen gelacht und mich an sich gedrückt, und plötzlich war es wieder da gewesen, dieses wunderbare Zusammengehörigkeitsgefühl, das uns seit unserer Geburt miteinander verband. Mariel und ich, die Schulbrote, Zahnbürsten und Socken miteinander teilten, die dieselben Kinofilme und Bücherreihen liebten, auf Klassenreisen immer bis in die frühen Morgenstunden wach blieben und sich gemeinsam gegen die frechsten Jungs zur Wehr setzten.
Am schönsten aber waren die Stunden im Schrebergarten von Mariels Tante Susanne, Birgittas Schwester. Dort hatten Mariel und ich Schnecken gezüchtet, verwundete Schmetterlinge verarztet, nach Schätzen gegraben oder im Anschluss an ein schweißtreibendes Federballspiel einfach nur faul in der Sonne gelegen.
Bei dem Gedanken daran war mir ganz plüschig ums Herz geworden, und plötzlich hatte ich es kaum noch erwarten können, dass es endlich Frühling wurde und wir wieder in den Schrebergarten fahren konnten. Vielleicht würde Mariel dann endlich zur Besinnung kommen und kapieren, dass Arletta, Neomi und Tiffany einfach nur hohl in der Birne und außer zum Sims-Spielen oder in Modezeitschriften blättern kaum zu etwas zu gebrauchen waren.
»Weißt du was?«, hatte Mariel meine Träumereien unterbrochen und mich mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurückgeholt. »Neomi hat doch in vier Wochen Geburtstag.«
»Ja und?«
»Na ja, sie wird dich natürlich auch nicht einladen.«
»Klar.« Ich legte sowieso keinen Wert darauf.
»Diesmal kommst du trotzdem mit«, hatte Mariel bestimmt gesagt, doch ich hatte ebenso energisch mit dem Kopf geschüttelt.
»Hach, und warum nicht?«, hatte Mariel daraufhin gestöhnt und mich mit einem Ruck wieder losgelassen.
»Ich mag Neomi nun mal nicht besonders.«
»Du kennst sie doch gar nicht richtig.«
Ach, verdammt, ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass ich sie niemals mögen würde. Sie, Arletta und Tiffany passten einfach nicht zu mir. Aber wie sollte ich das Mariel bloß klarmachen, wenn die mir nicht einmal richtig zuhören wollte und am Ende womöglich sogar noch beleidigt war?
»Sie kann mich doch auch nicht leiden«, hatte ich deshalb nur geantwortet.
»Logisch«, hatte Mariel voller Ungeduld zurückgegeben. »Weil du dich ihr, Arletta und Tiffy gegenüber immer so abweisend verhältst. Was sollen sie denn da auch denken!«
»Ach, jetzt bin ich also schuld, oder was?«
»Nein.« Abermals hatte Mariel die Augen verdreht. »So war das doch nicht gemeint. Ich weiß schon, dass es wegen der Klamotten ist. Aber deshalb musst du dich wirklich nicht schämen.«
»Hä?« In diesem Moment hatte ich gar nichts mehr begriffen.
»Na ja, in deinen ausgeleierten Pullis oder diesem T-Shirt, das du mit den komischen bunten Perlen bestickt hast, kannst du natürlich nicht zu Neomis Party gehen«, war Mariel mit einem fast mitleidigen Lächeln fortgefahren. »Am besten, ich leih dir was von mir, dann wird es garantiert keinem dort auffallen, dass du eigentlich nicht dazugehörst.«
Tja, und an diesem Satz hatte ich nun eine ganze Weile zu knabbern.
Drei Wochen vergingen, in denen sich allmählich alles veränderte, bis zwischen Mariel und mir nichts mehr so wie früher war. Plötzlich spielten Dinge eine Rolle, die bis vor Kurzem noch völlig unwichtig gewesen waren. Zum Beispiel die Einkommensverhältnisse und der Wohnort unserer beiden Familien. Damit verhielt es sich nämlich folgendermaßen:
Birgitta hatte drei Jahre nach Mariels Geburt in einem Versicherungsbüro einen Halbtagsjob als Schreibkraft angenommen und sich dort schnell bis in die Chefetage hochgearbeitet. Mama dagegen war noch zweimal schwanger geworden und hatte unsere Familie um meinen mittlerweile achtjährigen Bruder Krister und die inzwischen fünf Jahre alte Josefine – bereichert will ich nicht unbedingt behaupten, aber zumindest vergrößert. Um das Haushaltsgeld ein wenig aufzubessern, half sie zweimal in der Woche für ein paar Stunden in einem Blumenladen aus, und während Birgitta richtig Kohle verdiente, bekam meine Mutter am Ende des Monats gerade mal schlappe 400 Euro aufs Konto überwiesen.
Ganz ähnlich war es auch bei unseren Vätern.
Beide arbeiteten Vollzeit. Birgittas Mann Thomas als Rechtsanwalt in einer stadtbekannten Kanzlei und Papa als Taxifahrer. Dass auch zwischen ihren Gehältern ein himmelweiter Unterschied klaffte, kannst du dir wahrscheinlich denken.
Tja, und eigentlich war mir das alles auch völlig wurscht.
Ich hasste zwar meinen Namen, aber ich mochte mein Leben.
Ich mochte die kleine, gemütliche Wohnung, die sich in der Marillenstraße ganz in der Nähe der Innenstadt hinter einem prächtigen fünfstöckigen Jugendstilhaus verbarg und die man nur erreichte, wenn man sich durch einen engen, stockfinsteren Torweg wagte.
Dahinter tat sich ein gepflasterter Innenhof auf, der rechts und links von efeuberankten Mauern begrenzt wurde und in dessen Mitte eine riesige Kastanie ihre prächtige Krone in den Himmel reckte.
Unsere Wohnung lag über einer Schusterwerkstatt, die der alte Herr Lumme seit einigen Jahren allerdings nur noch hobbymäßig betrieb. Man erreichte sie über eine überdachte Holztreppe und stand, gleich nachdem man den winzigen Flur passiert hatte, in der Küche.
Von dort aus ging es rechts durch eine Tür geradewegs in mein Zimmer, während sich der Rest der Wohnung auf der anderen Seite von der Küche befand.
Meine Geschwister Krister und Josefine teilten sich den größten Raum. Der zweitgrößte war unser Wohnzimmer und der kleinste das Elternschlafzimmer. Dort passten gerade mal ein Bett und ein schmaler Kleiderschrank hinein. Das Bett stand an der Wand, sodass Mama immer, wenn sie nachts aufs Klo wollte, über meinen Vater hinwegsteigen musste.
Ich hätte das nervig gefunden und war froh, dass ich meine Ruhe hatte, sobald ich meine Zimmertür hinter mir zugemacht hatte. Hier konnte ich auf dem Bett liegen und Musik hören, lesen, grübeln und nach Herzenslust mit Limette kuscheln.
Ich mochte mein Zimmer mit den zusammengewürfelten Möbeln, den bunten Kissen und dem großen Fenster in der Decke. Schien die Sonne, schickte sie ihre Strahlen in jeden Winkel und brachte den orangefarbenen Teppichboden so richtig zum Leuchten. Regnete es, sah ich den Tropfen zu, wie sie auf das Glas herunterprasselten und sich dort in bizarre Spritzfunken verwandelten. Das konnte ich stundenlang tun, ich fand es manchmal sogar spannender als Fernsehgucken oder am PC zu hängen und irgendwelche dämlichen Spiele zu spielen. – Womit wir wieder beim Thema wären, nämlich bei Mariel und mir und unserer etwas kompliziert gewordenen Freundschaft.
»Ich weiß echt nicht, wo das Problem ist«, sagte sie an einem Nachmittag Mitte März.
Es war ein Donnerstag und es war ziemlich kalt draußen. Gefühlt ungefähr minus 2 Grad. Wir kratzten in den Startlöchern zum Badminton, und es ging darum, dass Mariel nicht wollte, dass ich meine selbst gestrickte Ringelmütze aufsetzte. Gerade hatte sie sie mir vom Kopf gerissen und hinter meine Kommode gepfeffert.
»Das Problem ist, dass ich keine andere habe«, knurrte ich, während ich die Kommode von der Wand zerrte. Die Mütze war nämlich dazwischen stecken geblieben.
»Ich habe auch keine auf«, erwiderte Mariel. »Falls es dich interessiert.«
Sie stand in der offenen Zimmertür, hatte die Hände in die Taschen ihrer neuen superstylischen S.Oliver-Übergangsjacke geschoben und wippte ungeduldig mit dem Fuß.
»Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?«, fragte ich und quetschte meinen Arm in den schmalen Spalt, den ich inzwischen geschaffen hatte. Mit den Fingerspitzen bekam ich meine Mütze zu fassen. Ich zog sie hervor, pflanzte sie mir auf mein dünnes straßenköterblondes Haupthaar und drückte die Kommode mit meinem Hintern an die Wand zurück. »Ich habe jedenfalls keine Lust, mir die Ohren abzufrieren.«
»Nächste Woche ist Frühlingsanfang«, sagte Mariel und setzte eine Besserwissermiene auf.
»Das Wetter scheint sich nicht darum zu scheren«, erwiderte ich und zwängte mich an ihr vorbei in die Küche, wo Limette vor ihrer halb leer gefressenen Schale saß und mich ansah, als würde sie auf der Stelle tot umfallen, wenn sie nicht sofort etwas Frisches aus der Dose dazubekam.
Da Mama gerade nicht in der Nähe war, tat ich ihr den Gefallen.
»Möchtest du vielleicht auch noch die Blumen gießen?«, stöhnte Mariel.
»Nö.« Ich schüttelte den Kopf. »Wieso?«
Mariel stöhnte noch einmal. »Ach, nur so.«
Ich fand, dass sie in letzter Zeit ein bisschen sehr viel stöhnte, sparte mir allerdings, das anzumerken, und deutete stattdessen auf die pinkfarbene Kuckucksuhr, die neben dem alten Bauernschrank an der Wand hing. »Wir haben noch Zeit ohne Ende, falls du das meinst.«
»Haben wir nicht«, erwiderte sie. »Arletta, Tiffy und Neomi warten auf mich.«
Für ein paar Sekunden erlitt ich einen Atemstillstand, gab mir jedoch redlich Mühe, mir nichts davon anmerken zu lassen, sondern spazierte an meiner Freundin vorbei in den Flur und nahm meinen Steppmantel vom Haken.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst«, sagte Mariel.
»Was meinst du?«
»Den Mantel.«
»Verdammt noch mal, auf den Feldern liegt immer noch Schnee!«, fauchte ich sie an. Ich wollte das gar nicht, es passierte einfach.
»Wir haben keine Felder in der Stadt«, gab Mariel frostig zurück. »Also entscheide dich: Mütze und Mantel … oder ich geh allein.«
Fassungslos starrte ich sie an. Ich begriff einfach nicht, wie sie so etwas sagen konnte. Vor allem aber kapierte ich nicht, warum sie es tat. Ich meine, kein Mensch stellt einen vor eine solche Entscheidung. Soll ich vielleicht nackt gehen?, lag es mir auf der Zunge zu fragen. Aber irgendwie brachte ich keinen Ton heraus, sondern stand wie einbetoniert da, die Ringelmütze auf dem Kopf und den Steppmantel in der Hand, und allmählich dämmerte mir, dass das Ganze irgendwie mit unserem letzten Gespräch über Neomis Party und meine Klamotten, für die ich mich angeblich schämte, zu tun haben musste.
»Okay, ich geh dann mal«, sagte Mariel, und ehe ich mich wieder gefangen hatte, war sie auch schon verschwunden.
»Die hat doch ’n Sockenschuss«, vernahm ich die Stimme meines Bruders hinter mir.
Ich wirbelte herum.
Krister und Josefine lehnten nebeneinander im Türrahmen.
»Mariel ist doof«, brachte meine kleine Schwester die Sache auf den Punkt.
»Scheiße«, sagte ich. »Habt ihr etwa die ganze Zeit gelauscht?«
Josefine zuckte mit den Schultern. »Nicht die ganze.«
»Und Scheiße sagt man nicht«, klärte Krister mich auf.
»Wieso? Du sagst es doch auch«, erwiderte ich, dann fing ich an zu heulen.
Josefine musterte mich forschend. »Mariel ist echt total doof«, bekräftigte sie schließlich und machte ein mitleidiges Gesicht.
»Also wegen der würde ich nicht heulen«, riet Krister mir.
»Danke«, schluchzte ich. »Ihr seid wirklich süß.«
»Wir sind ja auch deine Geschwister«, murmelte Josefine. »Aber jetzt müssen wir raus«, fügte sie etwas lauter hinzu. »Hinter der Kastanie warten Lotugo, Blizzi und Flominga auf uns. Limette kann dich ja so lange trösten.«
Den Ratschlag meiner Schwester beherzigte ich, den meines Bruders nicht. Eine geschlagene Stunde hockte ich – die leicht genervte Limette fest umklammert – auf meinem Bett und flennte mir die Seele aus dem Leib.
Ich hasste Mariel. Ich hasste Badminton. Ich hasste Arletta, Tiffany und Neomi. Ja, und am Ende hasste ich sogar meine selbst gestrickte Ringelmütze. Am liebsten hätte ich sie zusammen mit meinen ausgeleierten Pullis und dem perlenbestickten T-Shirt aus dem Fenster geworfen. Doch dann stieg plötzlich eine ungeheure Wut in mir hoch. So weit kam es noch, dass ich wegen Mariels komischer Einstellung auf meine geliebten Sachen verzichtete!
Mit der Wut versiegten schließlich die Tränen und der in unserer Familie vorherrschende Pragmatismus gewann wieder die Oberhand. Ich entschuldigte mich bei Limette dafür, dass ich sie so nass geheult hatte, und rubbelte sie mit einem Handtuch trocken.
Danach beschloss ich, ein neues Leben anzufangen. Ein Leben ohne Badminton und ohne Mariel. Es würde ein freudloses und unsagbar ödes Leben sein, und ich konnte nur hoffen, dass Mariel baldmöglichst zur Besinnung kam und dem Ganzen ein Ende bereitete, indem sie mich um Verzeihung oder zumindest um eine Aussprache bat.
Tja, was soll ich sagen? An diesem Tag war ich wirklich naiv, aber da konnte ich ja auch noch nicht ahnen, wie sehr mein altes Leben tatsächlich auf den Kopf gestellt werden würde – und dass Mariel damit nichts, aber auch gar nichts zu tun hatte.
Tatsächlich begann es ganz unmerklich an eben diesem Abend Mitte März.
Nachdem ich mir literweise kaltes Wasser ins tränenverquollene Gesicht geschaufelt hatte, half ich meiner Mutter beim Zubereiten des Abendbrots. Ich hatte sie gehört, als sie so gegen halb sechs heimgekommen war, und zum Glück nahmen Krister und Josefine sie sofort in Beschlag, sodass sie mich zunächst nicht sonderlich beachtete.
Möglichst unauffällig tappte ich zwischen Bauernschrank, Tisch und Kühlschrank hin und her, suchte Teller, Besteck und Gläser zusammen, packte Käse, Wurst und Butter aus und säbelte eine Gurke in Scheiben, während meine Geschwister um meine Mutter herumschwirrten und ihr von den haarsträubenden Abenteuern erzählten, in die sie mit Lotugo, Blizzi und Flominga geraten waren.
Innerhalb von zwei Stunden hatten sie die Erde umrundet, waren zum Mond und zum Jupiter geflogen und hatten einen bösen Piraten besiegt, der ihr Schiff gekapert hatte und Lotugo, Blizzi und Flominga in einen alten Turmkerker sperren wollte – was Krister und Josefine im letzten Augenblick jedoch noch hatten verhindern können.
Ich lauschte ihren Geschichten, schmunzelnd, aber auch ein bisschen wehmütig. Diese imaginären Freunde, die stets zu jeder Schandtat bereit waren und immer zusammenhielten, waren schon eine feine Sache. Selbst wenn Krister und Josefine sich mal für einen Nachmittag verkrachten, Lotugo, Blizzi und Flominga waren trotzdem immer da. Notfalls verdoppelten sie sich sogar, damit sie gleichzeitig mit meinem Bruder und meiner Schwester spielen konnten. Wirklich zu schade, dass ich bereits aus diesem Alter heraus bin!, dachte ich und platzierte die große Holzplatte, auf der ich sämtliche Wurst- und Käsesorten verteilt hatte, in der Tischmitte.
»Sag mal, hast du heute nicht eigentlich Badminton?«, traf mich Mamas Frage wie ein Pistolenschuss in den Rücken.
»Ähm … nö … also …«, fing ich an zu stammeln.
»Doch, hat sie«, kam mir mein Bruder zuvor. »Aber Philippa ist nicht hingegangen, weil Mariel sich wie eine blöde Kuh benommen hat.«
Ich hätte Krister nur zu gern meine Dankbarkeit erwiesen, indem ich ihn erwürgt hätte, aber da meine Mutter direkt neben ihm stand, musste ich diesen Plan gezwungenermaßen auf später verschieben.
»Oh«, sagte Mama und musterte mich mit ihrem berühmten Röntgenblick. »Habt ihr euch schon wieder gestritten?«
»Was heißt hier denn schon wieder?«, blaffte ich.
»Na, so richtig gut kommt ihr in letzter Zeit ja nicht miteinander aus«, plapperte meine Mutter nun munter drauflos. »Birgitta hat mir erzählt, dass Mariel sich mittlerweile mehrmals in der Woche mit drei anderen Mädchen aus der Badmintongruppe trifft.«
Toll! – Toll! Toll! Toll! Genau das wollte ich hören. Es ist ja so ungemein hilfreich, wenn die Mütter bester Freundinnen ebenfalls beste Freundinnen sind. Diese Konstellation kann ich nur empfehlen. Wirklich!
»Ach, mein Mäuschen«, sagte Mama jetzt. »Glaub mir, das wird schon wieder. Schließlich kennt ihr euch seit eurer Geburt.«
»Tun wir nicht«, stellte ich knurrend klar. »Außerdem möchte ich da auch nicht drüber reden.«
»Macht nix«, meinte Josefine. Sie schubberte sich mit ihrem abgewetzten Kuschelmuschelhasen unter dem Kinn entlang und wippte dabei von einem Bein aufs andere. »Ich erzähl Mama das schon.«
»Tust du nicht!«, zischte ich.
»Tu ich wohl!«
Argh! In meinem Bauch platzte eine Wutbombe, und vor meinem geistigen Auge erschien das Bild von zwei kleinen Kindern, die mit Würgemalen an den dünnen Hälsen vor mir davonrannten.
»Am besten, ihr lasst Philippa jetzt mal in Ruhe«, sagte Mama. Sie bedachte mich mit einem verständnisvollen Blick und schob Josi und Krister auf ihre Stühle zu. »Setzt euch schon mal hin und macht euch ein Brot. Papa müsste jeden Augenblick hier sein.«
Ich ließ mich ebenfalls auf meinen Platz sinken und sagte: »Mariel findet mich peinlich.«
Wie ich meine Mutter kannte, würde sie sowieso spätestens, wenn sie Krister und Josefine den obligatorischen Gutenachtkuss gegeben hatte, noch einmal nachhaken, was es denn mit dem Streit zwischen der Tochter ihrer besten Freundin und mir auf sich hatte, und ich wollte meinen Geschwistern auf keinen Fall die Gelegenheit geben, die Geschichte jetzt noch weiter dramaturgisch auszuschmücken.
Mama, die gerade im Begriff war, eine Apfelsaftflasche zu öffnen, sah mich empört an. »Aber das ist doch Unsinn!«
»Sie wollte nicht, dass ich mit meiner Ringelmütze und dem Steppmantel zum Badminton gehe«, präzisierte ich.
»Das stimmt«, pflichtete Krister mir bei.
»Und dann ist sie einfach abgehauen«, verkürzte Josefine das Ganze, wofür ich ihr ausnahmsweise tatsächlich dankbar war. »Mariel ist nämlich eine doofe Kuh.«
»Josi!«, sagte meine Mutter streng. »So etwas möchte ich hier am Tisch nicht hören.«
»Sie hat aber recht«, beharrte Krister. Er sprang von seinem Stuhl hoch, machte einen langen Schritt rückwärts in die Küchenmitte und stellte sich dort kerzengerade auf. »Mariel ist eine ultradoofe Blödkuh«, sagte er so, als würde er das Gedicht von Knecht Ruprecht vortragen. Dann entspannte er sich, schlüpfte hastig auf seinen Platz zurück und rief: »Ich hab’s nicht am Tisch gesagt!«
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Unauffällig zwinkerte ich Krister zu. Dies war einer jener eher seltenen Momente, in denen ich meine Geschwister aufrichtig liebte und einfach nur glücklich war, dass es sie gab.
Auch Mama schmunzelte in sich hinein, guckte zwei Sekunden später aber schon wieder bierernst. »Ich möchte so etwas überhaupt nicht hören«, betonte sie. Und damit war das Thema Mariel vorerst erledigt.
Ich schenkte zur Hälfte Apfelsaft in unsere Gläser und meine Mutter füllte sie mit Mineralwasser auf. Schweigend begannen wir zu essen.
Kristers Blick wanderte immer wieder zum Fenster hinüber, durch das man in den Innenhof sehen konnte. Es dämmerte bereits, mein Vater würde also das Licht im Torweg anknipsen, wenn er kam.
»Wann kommt Papa?«, fragte Josefine, nachdem sie ihre Salamischnitte fast aufgegessen hatte.
»Ich weiß es nicht, Süße«, erwiderte Mama. »Vielleicht hat er zum Schluss noch eine besonders lange Tour. Und nur weil zu Hause sein Abendbrot auf ihn wartet, kann er seinen letzten Fahrgast ja schlecht auf halber Strecke aussetzen.«
Josi legte den Kuschelmuschelhasen neben ihren Teller mit dem Salamibrotrest und zog einen Flunsch. »Nicht bloß das Abendbrot«, nölte sie. »Wir warten auch.«
Sie hatte es kaum ausgesprochen, da klingelte das Telefon.
Meine Mutter horchte auf. »Vielleicht ist er das ja.«
Krister schnellte hoch, aber sie drückte ihn sofort auf seinen Stuhl zurück. »Ich gehe ran«, bestimmte sie, wischte sich mit ihrer Serviette über den Mund und verschwand im Wohnzimmer.
»Hier bei Bogenstedt, guten Abend«, hörte ich sie sagen. Kurz darauf lachte sie leise. Bei ihrem Gesprächspartner konnte es sich also nur um Papa handeln. Oder um Birgitta.
Krister, Josefine und ich spitzten die Ohren, aber Mama sprach so leise, dass wir kaum ein Wort verstehen konnten.
»Eine Kundin? Was denn … Ist das nicht ein bisschen seltsam?« – »… zuerst besprechen.« – »Wie lange, glaubst du, wird es noch …«, waren die wenigen Satzfetzen, die ich aufschnappte. Das Gespräch musste allerdings wesentlich länger gedauert haben, denn es vergingen noch ein paar Minuten, bis meine Mutter in die Küche zurückkam.
»Das war tatsächlich Papa«, sagte sie, während sie sich langsam wieder hinsetzte. Sie wirkte nachdenklich, fast schon beunruhigt.
Ich betrachtete sie verstohlen und spürte, wie sich ein komisches Gefühl in meinem Bauch ausbreitete.
»Was ist mit ihm?«, wollte Krister wissen. »Wieso ist er noch nicht hier?«
»Er … Er hat noch einen Termin«, antwortete Mama zögernd. »Das hat sich im Laufe des Tages so ergeben.«
»Was denn für einen Termin?«, fragte ich und bemühte mich, möglichst unaufgeregt zu klingen.
Meine Mutter zuckte die Schultern. »Na, ein Gespräch eben. Mit einer Kundin.«
»Und was ist daran so besonders?«, brummte mein Bruder. »Er hat doch den ganzen Tag Gespräche mit Kunden.«
»Schon.« Mama umschloss Kristers Hand mit ihrer und drückte sie leicht. »Dieses Gespräch scheint jedoch ein sehr wichtiges zu sein. Jedenfalls kommt Papa heute erst ziemlich spät heim.«