»Was hast du?«, fragte Moritz erstaunt, als er kurz nach 9 Uhr das gemeinsame Büro betrat. Er zog seine Lederjacke nicht aus und ließ sich gleich auf seinen Schreibtischstuhl fallen.
»Ich hab verhindert, dass zwei Typen Igor Ravov zusammenschlagen –«
»Ravov?«, fragte Moritz erstaunt und sah Olivia mit einem merkwürdigen Grinsen im Gesicht an.
Die Ermittlerin war von ihrem Kollegen völlig überrumpelt worden. Wie am Tag davor hatte sie weit vor dem normalen Dienstbeginn mit der Arbeit begonnen. Als die Bürotür aufgeflogen und Moritz gewissermaßen ins Büro gefallen war, hatte sie gerade ein paar Akten studiert. Sie antwortete nicht sofort, und Moritz lehnte sich zurück. Gemütlich legte er seine Füße auf den Schreibtisch, wie es seine Gewohnheit war. Olivia war erstaunt, dass er bei dem Chaos auf seinem Schreibtisch überhaupt einen freien Platz für seine Füße fand.
Ich hoffe nur, dass du deine Schuhe putzt und damit nicht alle Bakterien, durch die du in Mannheim läufst, über den Schreibtisch und die Akten verteilst. Aus welchem schlechten Cowboy-Film hast du dir das nur abgeschaut?
Moritz war bester Laune und hatte Lust, Olivia etwas zu necken.
»Igor? So. Gefällt der dir?«, bemerkte Moritz.
Mann, das hättest du dir sparen können. Warum sollte er mir gefallen? Und was hat das mit seiner Rettung zu tun? Gott, denkt der männlich-naiv. Ich sag’s ja, Cowboy-Filme, wahrscheinlich hat er auch das aus einem Western aufgeschnappt.
Olivia räusperte sich und brachte ihren zuvor begonnenen Satz zu Ende. »Ich hab verhindert, dass zwei Typen Igor Ravov zusammengeschlagen haben, während du dich beim Poetry Slam mit einer 19-Jährigen vergnügt hast!«
Naja, nicht gerade währenddessen, aber was soil’s. Olivia war etwas über sich selbst erstaunt. Das klang härter, als sie es beabsichtigt hatte. Aber wenn er sie schon in den frühen Morgenstunden dermaßen unterbrach, musste sie gleich gegensteuern. Sie musste Grenzen ziehen, wie sie das nannte.
Olivias Retourkutsche hatte Moritz offensichtlich getroffen. Scheinbar saß der Schlag sogar fester, als sie vermutet hatte, denn seine überschwänglich gute Laune war augenblicklich dahin.
Was hat es sich mit dieser 19-Jährigen auf sich? Jetzt bin ich aber neugierig, Moritz Martin!
Moritz nahm die Füße vom Tisch und verschränkte die Arme abwehrend vor der Brust.
»Langsam, langsam. Das hat nichts mit dem Fall zu tun, und daher geht es auch niemanden etwas an.«
»Vorgestern mit einem Penner und gestern mit einem Teenager unterwegs.«
»Na und? So bin ich halt! Es ist meine Sache, mit wem ich die Abende verbringe.«
»Ein bisschen Feingefühl würde dir manchmal gut tun!« »Bist du etwa eifersüchtig, weil ich meine Abende nicht mir dir verbringe?«, konterte Moritz, dem das Gespräch schnell zu viel wurde.
»Eifersüchtig? Da geh ich lieber mit deinem Penner aus!«
»Aha! Das kann ich gern arrangieren«, versicherte Moritz seiner Kollegin.
Die beiden Ermittler wurden unterbrochen, als es klopfte. Dr. Klose streckte seinen Kopf durch die Tür.
»Das haben Sie ganz ausgezeichnet gemacht, Frau von Sassen.«
Endlich bemerkt das mal jemand! So ganz von einem anderen Planeten scheint mein neuer Chef nun doch nicht zu sein.
»Danke sehr, Herr Dr. Klose! Das freut mich!«, Olivia freute sich ehrlich.
Hinter Dr. Klose kam Fatih in den Raum gestürzt. »Jetzt will ich aus erster Hand wissen, was los war!«
»Vom Fehlalarm zur Actionheldin!«, fügte Moritz sarkastisch hinzu.
Heute zeigt sich Moritz wirklich von seiner besten Seite. Ich hab keine Ahnung, wieso der so drauf ist, aber ich werde es herausfinden.
»Erzähl, wie du sie kaltgestellt hast, Olivia«, bat Fatih. »Dazu ist jetzt keine Zeit, es steht zudem alles in meinem Bericht. Die einzige Neuigkeit, die ich habe, ist, dass es Ravov den Umständen entsprechend gut geht. Er hat einen Schuss in den Oberschenkel bekommen, der nichts Wesentliches verletzt hat. In ein paar Tagen wird er schon wieder laufen können.«
»Welche Verbindung bestand zwischen ihm und den beiden Gorillas?«, wollte Fatih weiter wissen.
»Da habe ich Neuigkeiten«, schaltete sich Dr. Klose wieder ein. »Ravov hat mit ihnen Drogengeschäfte abgewickelt und sich wohl mit Mächten angelegt, die eine Konfektionsgröße zu groß für ihn waren. Die Hintermänner sind uns bislang nicht bekannt, aber die beiden haben vorhin gestanden, dass sie es waren, die Ravov in seiner Wohnung blutig geschlagen haben. Die Staatsanwaltschaft ist informiert. Das Verfahren läuft.«
Dr. Klose war Stolz, was ihm im Gesicht anzusehen war. »Weitermachen!«, verabschiedete er sich. Er drehte sich um und verließ das Büro.
Olivia freute sich. Der Tag begann zumindest diesbezüglich ganz hervorragend. So konnte es weitergehen. »Und ich geh mir unten einen Kaffee holen.« Sie ließ ihre beiden Kollegen stehen und ging ins Erdgeschoss.
Weil wir ja nicht einmal eine Kaffeemaschine im Büro haben! Morgen werde ich eine kaufen, dann muss ich nicht immer durch das halbe Gebäude rennen.
Olivia nahm die Treppe ins Erdgeschoss, wo sich das Casino befand und die Mitarbeiter des Polizeipräsidiums frisch gemahlenen Kaffee mitnehmen konnten. Für Olivia war das essenziell, ohne Kaffee ging bei ihr gar nichts. Je nach Tagesverfassung trank sie ihren Kaffee entweder ganz schwarz und ohne Zucker oder mit viel Milch und viel Zucker. Als sie heute vor der Maschine Stand, wurde sie jedoch enttäuscht, denn sie fand einen Zettel vor, der über die ganze Maschine geklebt war: »Außer Betrieb!« Verdammt! Das kann ich jetzt auf keinen Fall gebrauchen. Ich brauche einfach einen Kaffee!
Normalerweise empfand sie den Kaffee, den sie jeden Morgen trank, nicht als sonderlich aufputschend, erst wenn sie darauf verzichten musste, merkte sie, welchen Energieschub er in ihr auslöste. Sie wollte auf gar keinen Fall in ein Loch fallen, sondern mit der Aufklärung des Mordfalls vorankommen, und dazu brauchte sie jetzt einen Kaffee.
Olivia verließ das Polizeipräsidium und machte sich auf die Suche nach einer Bäckerei, wo sie sich schnell einen Kaffee zum Mitnehmen bestellen und damit ins Polizeipräsidium zurückgehen konnte. Sie musste nicht weit in die Innenstadt laufen, um fündig zu werden und das lebensnotwendige Getränk erstehen zu können. Den ersten Schluck schlürfte sich vorsichtig in sich hinein, um zu sehen, wie heiß der Kaffee war. Er war sehr heiß, aber sonderlich gut schmeckte er nicht.
Als sie wieder vor dem Polizeipräsidium Stand, fiel ihr eine Frau auf, deren Alter sie zwischen Ende dreißig und Anfang vierzig schätzte und die einige Meter vom Eingang des Polizeipräsidiums entfernt stockend auf und ab ging. Olivia blieb Stehen und beobachtete die Frau, die einerseits verzweifelt und andererseits unentschlossen zu sein schien.
»Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?«, fragte Olivia aus einiger Entfernung.
Überrascht schaute die Frau zu Olivia. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, fragte sie sich wohl, was die junge Frau von ihr wollte und warum sie sie ansprach. Olivia konnte die Verzweiflung in den Augen der Frau erkennen. Nach dem kurzen Aufsehen tat sie so, als hätte sie Olivia nicht bemerkt und ihre Frage nicht gehört.
Mit der Frau stimmt was nicht. Die lungert nicht umsonst vor dem Polizeipräsidium herum.
Olivia nahm einen großen Schluck Kaffee und ging dann direkt auf die Frau zu.
»Hallo. Ich bin Olivia von Sassen und arbeite bei der Kriminalpolizei«, stellte sie sich höflich vor.
Die Frau drehte sich kurz um, so als wollte sie schauen, ob hinter ihr jemand war, dann wandte sie sich Olivia zu. »Hallo.«
Olivia schaute sich die Frau genauer an. Sie sah etwas verwahrlost aus, ihre Haare waren verklebt und die Kleidung gehörte mindestens gebügelt oder sogar gewechselt. Allerdings trug sie teure Markenklamotten, arm war sie mit Sicherheit nicht, und nach Alkohol stank sie auch nicht.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Olivia noch einmal.
Die Frau brauchte noch einen Moment, um einen Entschluss zu fassen, dann antwortete sie: »Ja. Helfen Sie mir bitte!«
»Kommen Sie, ich bringe Sie in die Wache.«
Olivia legte schwesterlich den Arm um die Frau, sagte dem Pförtner am Eingang Bescheid und brachte sie in ihr Büro.
Moritz machte große Augen, als er seine Kollegin mit einer Frau im Arm in der Bürotür auftauchen sah.
»Hier, setzen Sie sich auf meinen Stuhl«, bot Olivia an, die selbst Stehen blieb und weiter an ihrem Kaffee nippte.
Moritz verstand nur noch Bahnhof und sah Olivia fragend an.
»Das ist mein Kollege Moritz Martin, ebenfalls Kripo Mannheim«, stellte Olivia ihn vor.
»Und wie heißen Sie?«, fügte sie hinzu.
Die Frau schluckte noch einmal, bevor sie sich langsam und stockend vorstellte.
»Elisabeth Lehmann.«
»Hallo Frau Lehmann«, fing Olivia an, »wie können wir Ihnen denn helfen?«
Elisabeth musste sich erst innerlich ein wenig beruhigen. Dass sie nun bei der Polizei war, kam ihr nach all dem Stress der letzten Tage unwirklich vor. Sie holte tief Luft, bevor sie mit ihrer Geschichte begann.
»Mein Sohn Lukas wurde entführt. Bitte bringen Sie ihn mir wieder. Er ist schon seit Freitag weg.«
O mein Gott. Wohin bin ich geraten? Passiert in Mannheim denn täglich etwas Schlimmes?
Olivia war ehrlich erschrocken und warf Moritz einen schnellen Blick zu. Der rollte mit den Augen, offensichtlich schien ihm der Auftritt der Frau nicht zu gefallen. Olivia sah sich Elisabeth genau an. Was auch immer dahintersteckte, diese Frau brauchte ihre Hilfe.
»Wir holen Ihren Sohn zurück.«
Die Frau versuchte zu lächeln.
Olivia warf Moritz einen bösen Blick zu, worauf dieser sich der Frau zuwandte.
»Eigentlich haben wir einen Mord zu klären, aber jetzt erzählen Sie mal ganz genau, was los ist«, bat er Elisabeth Lehmann.
Lukas war in der Nacht zuvor auf dem Sofa eingeschlafen. Dort lag er auch jetzt am frühen Morgen noch. Im Halbschlaf hatte er sich eine Decke übergezogen und nach einem Kissen gegriffen. Den Schlafanzug der Entführer hatte er verweigert, die Kleider der Fremden kamen für ihn nicht in Frage. Seit sie ihn hier festhielten, trug er seine Shorts und seinen Kapuzenpulli. Die Spielkonsole, die die Entführer zu seiner Unterhaltung in den Raum gestellt hatten, lief noch vom Vorabend und gab hin und wieder piepsende Geräusche von sich. Irgendwann wurde Lukas davon wach.
Er streckte sich im Halbschlaf und schaute kurz um sich, dann beschloss er weiterzuschlafen. Müde griff er nach seinem Steuerpad, schaltete die Konsole aus und döste weiter. So lag er eine weitere Stunde da. Als er vor der Tür Schritte vernahm, war er plötzlich hellwach, sprang zur Tür und trommelte mit seinen Fäusten dagegen.
»Hilfe! Hilfe!«, brüllte er aus Leibeskräften. Die Schritte näherten sich der Tür, das konnte er ganz genau hören. Dann hörte er, wie ein Schlüssel in die Tür geschoben und mehrfach herumgedreht wurde. Von ganzem Herzen hoffte er, dass es die Polizei, seine Eltern oder sonst ein Befreier war.
»Bitte!«, flehte er innerlich.
Doch er wurde enttäuscht. Die Tür ging auf, und vor ihm stand eine Frau mit Sturmmaske. Sie war ganz in schwarz gekleidet und gehörte offensichtlich zu seinem Entführer.
Enttäuscht ließ er sich auf die Couch fallen und verschränkte die Arme. Wie gebannt starrte er auf die Spielkonsole. Halb ängstlich, halb trotzig versuchte er, die Frau zu ignorieren.
»Hab keine Angst, Lukas«, begann die Frau langsam, »ich werde dir nichts tun. Versprochen.«
Lukas bemerkte an der Stimme, dass es die Frau war, die schon vorher da gewesen war, sich aber anders verkleidet hatte. Sie hatte eine sanfte Stimme, der er irgendwie vertraute. Wehmütig drehte er den Kopf und blickte die Frau an, doch er konnte nichts von ihrem Gesicht erkennen. Eigentlich klang sie genauso traurig wie er.
»Heute kommst du frei, Lukas. Deine Eltern übergeben das Lösegeld. Danach komme ich hierher und lasse dich gehen.«
Gott sei Dank, dachte sich der Junge, wollte aber vor der fremden Frau keinerlei Gefühle zeigen und schwieg.
Die Frau hingegen hatte sich eine positive Reaktion von dem Jungen gewünscht, denn sie sah sich als seine Beschützerin. Doch dann verstand sie, dass er sich aufgrund der Umstände gar nicht freuen konnte. Der arme Junge!
»Hier hast du etwas zum Frühstück.«
Die Frau zog eine Tüte mit Brötchen hervor und stellte ein Glas Nutella auf ein kleines Schränkchen am Eingang. »Wenn deine Eltern keine Dummheit machen, bin ich um 11:30 Uhr hier und lass dich frei. Du musst nur noch kurz durchhalten.«
Dann verließ die Frau den Raum wieder, schloss die Tür ab und ließ den Jungen mit seiner Gedankenwelt allein zurück.
Lukas hatte bis zu diesem Augenblick tapfer ausgehalten und die Fassung bewahrt, aber sobald die Tür wieder abgeschlossen worden war, brach es aus ihm heraus. Tränen liefen ihm übers Gesicht, vor lauter Schluchzen konnte er kaum Luft holen. Eine Mischung aus Verzweiflung über die Situation und Hoffnung auf Rückkehr nach Hause überkam ihn. Er würde freikommen! Noch heute Vormittag! Er würde seine Mama bald wiedersehen!
Die Frau hatte freundlich und zuversichtlich geklungen. Sie hat ihn bestimmt nicht angelogen, der Albtraum würde bald vorbei sein. Zudem war er froh, dass er den Mann nicht mehr sehen musste, der ihn entführt hatte, wenn ihn später wirklich die Frau freilassen sollte. Der Frau vertraute er irgendwie, dem Mann nicht.
Als er das dachte, wunderte er sich sofort, wo der Mann geblieben war. Seit ein paar Tagen war er nicht mehr aufgetaucht. Zunächst hatte er nur mit ihm zu tun gehabt, bis vorgestern zum ersten Mal die Frau gekommen war.
Seine Gedanken kreisten weiter, und seine Eltern fielen ihm ein. Er dachte an seinen Stiefvater und vor allem an seine Mutter. Wie würde es ihnen im Moment gehen? Sicher waren sie sehr um ihn besorgt. Hoffentlich unternahmen sie nichts Unvorsichtiges, denn dann würde er heute Abend wieder in seinem Zimmer sein – und bei seiner Mutter.
Lukas sehnte diesen Augenblick mit aller Kraft herbei. Er wollte von seiner Mutter im Arm gehalten werden, wollte, dass sie ihm mit der Hand durchs Haar fuhr und ihm sagte, dass alles nicht so schlimm sei. Aus seinem tiefsten Inneren stieg ein Gefühl von Trauer und Verlust hoch, weil er seine Mutter so vermisste. Irgendwo in der Magengegend fing es an und schlich bis zu seinem Kopf hoch. Die Kehle schnürte sich wieder vor Schmerz zu und die Augen wurden abermals feucht. So kauerte er auf der Couch und wartete.
»Mama.«
Nachdem er bestimmt zwanzig Minuten regungslos dagesessen hatte, fiel sein Blick auf das Glas Nutella, das die Frau mitgebracht hatte. Er sprang zum Tisch, öffnete es und steckte sofort seine Finger in die Schokocreme. Die Brötchen waren ihm egal.
»Jetzt erzählen Sie uns ganz genau, was passiert ist«, bat Moritz Elisabeth Lehmann und ließ ein Aufnahmegerät mitlaufen. Er saß gemeinsam mit Olivia und Elisabeth in einem der Besprechungsräume an einem Tisch, Olivia an seiner Seite, Elisabeth ihnen gegenüber.
Letztere vernahm Moritz’ Aufforderung, doch empfand sie die Gegenwart als unwirklich. Sie fühlte sich, als wäre sie eine neutrale Beobachterin und sähe sich von oben in diesem Raum sitzen. Die Stimmen der beiden Polizisten drangen aus weiter Entfernung zu ihr, und sie benötigte einige Zeit, um sich in der Realität zurechtzufinden. Dann versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Was war genau passiert? Die Realität erfasste sie. Ihr Sohn befand sich in der Gewalt von Entführern! Sie wollte sprechen, aber sie konnte nicht. Bei der Erinnerung an den Moment, in dem sie begriffen hatte, dass ihr Sohn entführt worden war, brach ihr die Stimme weg. Sie benötigte erneut einige Minuten, bis sie sich gefasst hatte.
»Nehmen Sie sich alle Zeit der Welt«, beruhigte Olivia sie.
Elisabeth nickte. Kurz darauf setzte sie zu sprechen an. »Also, es war letzten Freitag, da kam mein Sohn Lukas nicht von der Schule nach Hause –«
»Warum sind Sie nicht sofort zur Polizei gegangen?«, unterbrach Moritz sie.
»Jetzt lass sie doch mal ausreden«, zischte Olivia ihren Kollegen an.
Moritz nickte genervt.
»Okay, okay.«
Elisabeth fuhr fort.
»Lukas brauchte manchmal nach der Schule länger. Er ist ein Träumer, der gerne bummelt. Von all den Jungs seiner Klasse ist er meist der letzte, der nach Hause kommt. Daher habe ich mir zunächst etwa eine Stunde lang keine Gedanken gemacht.«
»Wann wurden Sie misstrauisch?«, fragte Olivia.
»So gegen 14:30 Uhr. So spät ist er freitags noch nie von der Schule gekommen. Ich hab sofort meinen Mann angerufen, Lukas’ Stiefvater, er hatte aber nichts von unserem Sohn gehört.«
Bei der Erinnerung an diesen Moment hielt sie kurz inne und musste sich erneut sammeln.
»Als Nächstes hab’ ich dann die Eltern von Lukas Freunden kontaktiert. Diese konnten nur erzählen, dass sie sich auf dem Nachhauseweg von Lukas verabschiedet hätten. Das war das letzte Mal, dass ihn jemand gesehen hat.«
Sie musste heftig schlucken, kämpfte die aufsteigenden Tränen aber zurück.
»Wann hat sich der Entführer gemeldet?«, fragte Moritz.
»Das war gegen 16 Uhr. Die Zeit bis dahin war furchtbar. Ich wusste nicht, was los war. Keiner hatte ihn gesehen. Ich war total erleichtert, als der Entführer sagte, dass es meinem Kleinen gut geht.«
»Hat Ihr Sohn bereits ein Handy?«, forschte Olivia weiter.
Elisabeth schüttelte den Kopf.
»Nein, das haben wir ihm verboten. Wir wollten nicht, dass er so früh damit anfängt. Vielleicht hätte er uns damit verständigen und wir ihn retten können. Wenn er nur eines gehabt hätte, wenn wir’s ihm nur nicht verboten hätten.«
Jetzt fing Elisabeth an zu weinen. Moritz reichte ihr schnell ein Tempo.
Die Nummer hat er drauf wie kein anderer. Alter Charmeur.
Olivia war eigentlich nicht zum Spaßen zumute, zu sehr fühlte sie mit Elisabeth.
»Sie sagten der Entführer. Er ist also männlich?«, fuhr Olivia fort.
Elisabeth nickte. Dann fiel ihr die Frau ein.
»Ja, aber eine Frau ist auch dabei.«
»Bonny und Clyde aus Mannheim«, seufzte Moritz.
»Was haben die Entführer gefordert?«
»Eine Million fünfhunderttausend Euro und kein Wort zur Polizei.«
»Puh, eine ganze Menge.«
»Ja, eine ganze Menge. Aber ich hab das Geld. Hier«, Elisabeth zeigte auf die Tasche, die sie bei sich trug.
»Da sind eineinhalb Millionen drin?«, rief Moritz erstaunt aus, »und mit denen laufen Sie so einfach durch Mannheim?«
Elisabeth nickte.
»Wo ist Ihr Mann?«, wollte Moritz wissen.
»Mein Mann? Der ist auf Geschäftsreise«, log Elisabeth wie aus der Pistole geschossen. Sie wollte den Polizisten nicht erzählen, dass sie sich gestern gestritten hatten. »Ich halte ihn jeden Abend auf dem Laufenden.«
»Aha. Besonders interessiert scheint er an der Entführung aber nicht zu sein«, bemerkte Moritz spitz.
»Vielleicht ist er der Entführer? Die meisten Täter kommen aus dem allernächsten Umfeld«, spekulierte Olivia. »Nein. Thomas würde das nicht tun. Er ist zwar nicht Lukas’ leiblicher Vater, aber er leidet sehr unter der Situation. Sobald er kann, wird er wieder hier sein.«
»Wie ist das Verhältnis Ihres Mannes zu Ihrem Sohn?« Moritz roch den Braten und versuchte auf diese Weise dranzukommen.
»Lukas kann sich nicht daran erinnern, dass unsere Familie jemals anders war. Ich kam mit Thomas zusammen, als der Kleine gerade mal zwei Jahre alt gewesen ist. Sein richtiger Vater hat mich verlassen, als ich noch schwanger war. Ich war sehr glücklich, als Thomas und ich zusammengekommen sind, weil Lukas dadurch eine richtige Familie hatte.«
»Kann der leibliche Vater von Lukas hinter der Entführung stecken?« forschte Moritz weiter.
Elisabeth zuckte die Achseln und blickte verlegen zu Boden. »Ich weiß es nicht.«
»Was sagt Ihr Bauchgefühl?« fragte Olivia Elisabeth überlegte eine Weile.
»Ich glaube nicht. Ich habe von ihm seit Jahren nichts mehr gehört. Er hat sich nie für Lukas interessiert.«
»Okay, wir werden ihn überprüfen lassen«, antwortete Moritz. Er notierte sich den Namen von Lukas’ leiblichem Vater und griff zum Hörer.
»Wann soll die Übergabe stattfinden?«, wollte Olivia wissen, während Moritz noch mit den Kollegen telefonierte und die Angaben von Elisabeth an sie weitergab.
»Wo die Übergabe genau stattfinden soll, hat sie nicht gesagt. Ich soll lediglich heute um 11 Uhr am Eingang der Planken stehen und das Geld dabeihaben. Weitere Instruktionen bekomme ich dann über mein Handy«, erklärte Elisabeth.
»Mensch, um 11 Uhr! Das ist ja in etwa einer Stunde!«, rief Moritz entsetzt aus, »hätten Sie nicht früher kommen können? Wie sollen wir das denn alles in so kurzer Zeit abwickeln?«
»Sie haben gesagt, dass sie Lukas umbringen, wenn ich zur Polizei gehe. Ich habe lange mit mir gekämpft, bevor ich hierherkam.«
Elisabeth fing wieder an zu weinen.
»Wir übernehmen den Einsatz, nicht die Kollegen, die sich eigentlich um die Entführungen kümmern. Sonst haut das zeitlich nicht hin. Ich verständige Klose, du verständigst das Einsatzkommando«, erklärte Moritz.
Olivia nickte. Es musste schnell gehen.
Moritz rannte zu Dr. Klose, der nicht sonderlich darüber erfreut war, dass sich seine Ermittler nun auch noch mit einer Entführung befassten, wo sie doch den Mord an Andreas Steiner aufklären sollten.
Olivia verständigte die Polizeipsychologin, die sich um Elisabeth kümmern sollte, bis die Geldübergabe stattfand, dann stellte sie ein Einsatzteam zusammen und leitete die Einsatzbesprechung.
Sie blickte auf die Uhr. Die Zeit lief ihnen davon. Bis 11 Uhr war es unmöglich, alle Polizisten in Position zu bringen und den Wasserturm komplett zu überwachen. Olivia wusste das, und ihr war unwohl bei dem Gedanken daran. Dem Jungen durfte auf keinen Fall etwas zustoßen, und sie musste ihre Skepsis vor Elisabeth Lehmann verbergen. Die Frau sollte ihre Unsicherheit nicht spüren, sondern Vertrauen zu ihr aufbauen.
Olivia und Moritz bezogen mit den beiden Kollegen Kathrin Stahl und Arno Klein vom Fahndungsdezernat Stellung in einem getarnten Einsatzwagen, der in Sichtweite zum Wasserturm geparkt wurde, was ihnen erlaubte, im Notfall jederzeit einzugreifen. Elisabeth trug einen kleinen Knopf im Ohr, über den sie mit der Funkanlage im Einsatzwagen verbunden war. Über ein Headset waren sie mit Elisabeth verbunden. Mit den eigentlich zuständigen Kollegen vom Fahndungsdezernat waren sie so verblieben, dass Olivia die Kommunikation mit Elisabeth führen sollte, da die Frau sie kannte, die anderen Kollegen aber nicht. Dr. Klose schmeckte diese Zuständigkeitsüberschreitung nicht. Vor dem Hintergrund der kurzen Vorbereitungszeit für den Einsatz stimmte er dem Vorhaben allerdings notgedrungen zu. Der Plan sah weiterhin vor, dass nach der Geldübergabe zwei Einsatzkräfte den Entführern folgen sollten. Sobald sie Lukas freiließen, würden die Einsatzkräfte zugreifen.
»Wie konntest du Klose überzeugen?«, wollte Olivia von Moritz wissen.
»Er hat zwar gejammert ohne Ende, aber das macht er in solchen Situationen immer«, erklärte Moritz. »Im Hinblick auf den Termin zur Übergabe hat er uns diesen Teil des Falls überlassen, nach der Übergabe übernehmen aber die Kollegen und wir kümmern uns weiter um die Aufklärung des Mordes.«
»Gut gemacht, Kollege!«
Auf der großen Ringstraße, die die Mannheimer Innenstadt umgab, sowie in der Augustaanlage, die vom Wasserturm stadtauswärts führte, hatte Olivia mehrere Kollegen in Zivil platziert, die eingreifen sollten, falls es vonnöten war. Auf den Planken befanden sich zudem weitere Beamte.
Elisabeth stand derweil am Eingang zur Fußgängerzone, die hier vom dicht befahrenen Verkehrsring begrenzt wurde, der sich um die Quadrate zog. Sie war nervös und hoffte inständig, dass alles gut und schnell vorbeigehen würde.
»Okay Frau Lehmann, in fünf Minuten geht es los«, flüsterte Olivia in das Mikrophon.
»Eine Geldübergabe nach so langer Zeit ist äußerst ungewöhnlich. Normalerweise möchten Entführer die Sache schneller hinter sich bringen«, dachte Moritz laut nach.
»Zumal sie meist nicht wissen, was sie mit den entführten Personen bis zur Geldübergabe machen sollen«, fügte Kriminalhauptkommissar Klein hinzu.
Olivia ließ einen Moment gedanklich von Elisabeth ab. Ihre Kollegen hatten recht, die späte Übergabe war in der Tat ungewöhnlich.
»Was könnte die Entführer dazu bewogen haben, so lange zu warten?«, fragte sie in die Runde. »Normalerweise möchte man als Entführer doch so schnell wie möglich ans Geld.«
Ihre Kollegen vom Fahndungsdezernat tauschten kurze Blicke aus.
»In solchen Fällen ist es oft so, dass die Entführer zerstritten sind«, bemerkte Klein.
»Das ist sozusagen die häufigste Ursache für eine späte Lösegeldübergabe«, erklärte seine Kollegin Stahl.
»Die Frau ist der Kopf der Bande und hat den Mann zu Beginn die Drecksarbeit machen lassen, dann haben sie sich gestritten. So könnte es gewesen sein«, überlegte Moritz laut, war sich aber ganz und gar nicht sicher, ob diese Variante stimmte.
»Was ist mit den Fällen, in denen kein Streit vorliegt?«, wollte Olivia wissen.
»Dabei handelt es sich meist um vorgetäuschte Entführungen«, erklärte Klein.
»Inwiefern vorgetäuscht?« Olivia wollte es genauer wissen.
»Es könnte sein, dass der leibliche Vater das Kind entführt hat. Das heißt, er hat es an sich genommen, nicht entführt. Im Grunde will er gar kein Lösegeld, sondern nur sein Kind.«
»Nach dem, was Elisabeth Lehmann erzählt hat, ist das auszuschließen«, analysierte Olivia.
»Sofern sie die Wahrheit gesagt hat«, warf Moritz ein. Olivia seufzte: »Und was kommt an dritter Stelle?«
»Dem Entführten ist etwas zugestoßen, entweder bei der Entführung oder bei einem Fluchtversuch. Das hat die Entführer verwirrt und in ihrem Vorhaben gehemmt.«
»Dann hoffe ich mal, dass der Kleine noch am Leben ist«, kommentierte Moritz.
Das hoffe ich auch.
Olivia schaltete das Mikrofon wieder ein.
»11 Uhr, Frau Lehmann. Wir können Sie gut sehen. Machen Sie einfach, was man Ihnen am Telefon sagt, den Rest machen wir.«
Elisabeth nickte. Sie war mit einem Mikro verkabelt, hatte aber klare Anweisungen, bis auf Weiteres nicht über das Mikrofon zu sprechen, damit die Entführer, falls sie sie beobachteten, nicht merkten, dass die Polizei im Spiel war. Darüber hinaus war ihr Handy direkt mit dem Einsatzkommando verbunden, Olivia und Moritz würden alles mitanhören können. In der Tasche mit dem Geld war zudem ein Funkpeilsender eingebaut, damit sie weiterverfolgt werden konnte.
Olivia beobachtete Elisabeth aus einem der Fenster des Überwachungswagens, die von außen nicht einsehbar waren. Sicher war es kaum zu ertragen, wenn das eigene Kind entführt und der Obhut der Mutter entrissen wurde. Jetzt, wo sie einen Menschen in genau dieser Situation getroffen hatte, wurden ihr die Ausmaße dieses schrecklichen Erlebnisses erst richtig klar. Ihr tat Elisabeth unendlich leid, so wie sie da am Straßenrand stand. Verzweifelt, voller Angst und doch mit dem Mut, ihren Sohn aus dieser bedrohlichen Situation zu retten. Dann schaute Olivia auf die Uhr.
11:05 Uhr. Mist, das dauert. Wann rufen die endlich an? Sie beobachtete ihre Kollegen, die ebenfalls wie gebannt durch das Fenster starrten.
»Elisabeth, ganz ruhig. Sie werden sicher gleich anrufen.«
Steffi Groß war unterwegs zum Jungbusch. Lange hatte sie über diesen Schritt nachgedacht, nun war ihr klar, was sie zu tun hatte. Sie war mit dem Fahrrad gefahren, hatte die Kurpfalzbrücke überquert und war dann rechts zu dem eher berüchtigten Stadtteil von Mannheim abgebogen. Steffi mochte das Viertel mit seiner Hafenatmosphäre nicht. Hier, westlich der Quadrate und im Dreieck zwischen dem Rhein und dem Neckar, lebten eine Menge Menschen auf engem Raum. Die Häuser waren sehr alt, vor hundert Jahren oder mehr hatten darin angeblich reiche Reeder, Kapitäne und Kaufleute gewohnt, nachdem dann aber mit der Schifffahrt nichts mehr los gewesen war, sind einfache Leute nachgekommen. Als sie jung war, hatte ihre Mutter ihr strengstens verboten, sich dort herumzutreiben. Ihr war natürlich klar gewesen warum, damals hatte es im Jungbusch massenweise Kneipen gegeben und eine Menge Prostituierte und Kriminelle. Heute war das vorbei, jetzt wohnten überwiegend Italiener, Türken, Künstler und Studenten hier. Doch auch wenn es in den Straßen nicht mehr sonderlich gefährlich war, mochte Steffi die Gegend nicht, die modernen Wohnviertel waren ihr viel lieber.
Sie erreichte ihr Ziel und schloss das Fahrrad einige Meter von dem Haus entfernt ab. Dann verschwand sie in einem zerfallenen Gebäude, das bald abgerissen werden sollte, um neuen, moderneren Hafenbauten zu weichen. Die ganze Straße war voll von solchen Häusern, die leer standen. Ein paar waren schön renoviert worden und hatten Schilder von Werbeagenturen oder Musikern an der Wand, doch andere moderten vor sich hin. Das Haus, das Steffi nun betrat, zählte zur letzteren Gruppe. Kaum war sie im Inneren des Gebäudes und von außen nicht mehr sichtbar, zog sie sich die schwarze Sturmmaske über. Auf schwarze Kleidung hatte sie heute verzichtet. Wenn alles gut ging, waren weder die dunkle Kleidung noch die Sturmmaske nötig.
Sie kramte in ihrer Tasche und zog einen Schlüssel sowie einen Umschlag hervor. Dann ging sie in den Keller des Hauses und öffnete mit dem Schlüssel mehrere Brandschutztüren. Unter jede Tür klemmte sie einen Keil, damit sie offen blieb. Schließlich stand sie vor der Tür des Raumes, in dem Andreas den Jungen eingesperrt hatte. Sie schaute noch einmal in den Umschlag, in den sie 30 Euro gesteckt hatte, die für das Taxi reichen mussten. Sie hoffte, dass Lukas alt genug war, damit er ihre Schrift lesen konnte, denn auf den Umschlag hatte sie in großen Buchstaben »Nimm ein Taxi nach Hause« geschrieben. Dann schob sie den Umschlag unter der Tür durch.
Als Nächstes führte sie den Kellerschlüssel in das Schloss der Tür ein und öffnete sie. Nichts rührte sich.
»Hoffentlich ist er okay«, dachte sie bei sich.
Hastig zog sie den Türschlüssel aus dem Schloss und verschwand so schnell, wie sie konnte. Sie rannte den Kellergang entlang, die Treppe nach oben, zog sich in Windeseile die Maske vom Gesicht und trat ins Freie.
Sie blinzelte etwas, weil das helle Tageslicht sie blendete. Sie eilte weiter zum Nachbarhaus, das ebenfalls leer stand. Sie ging die Treppe nach oben und trat vorsichtig an ein Fenster, von dem aus sie die Straße gut überblicken konnte. Ihr Herz hämmerte laut vor Aufregung.
Gespannt wartete sie hinter dem Fenster auf das, was passieren würde. Nach einer gefühlten Ewigkeit trat Lukas ins Freie. Auch er blinzelte, schützte seine Augen mit einer vorgehaltenen Hand und blickte sich auf der Straße um. Als er niemanden entdecken konnte, schaute er noch einmal in den Umschlag. Offensichtlich hatte er verstanden. Steffi war erleichtert. Sie wartete noch ein wenig und beobachtete, in welche Richtung der Junge ging, bevor sie das Haus verließ und ihm langsam nachlief.
Lukas ging die Jungbuschstraße entlang bis zum Luisenring, dort wartete er eine Weile und winkte schließlich einem Taxi, in das er einstieg. Steffi notierte sich die Nummer des Taxis, sicher war sicher. Als die Rücklichter des Autos im Stadtverkehr verschwunden waren, sackte sie zusammen. Sie saß vor der Onkel Otto Bar auf dem Boden und weinte. Einige Passanten schauten sie an, jemand fragte, ob es ihr gut gehe. Steffi nickte kurz. Was wussten die schon von dem Druck, der auf ihren Schultern gelastet hatte.
Sie war froh und erleichtert, dass die Entführung vorbei war. Der arme Junge! Ja, sie hatte das Richtige getan, da war sie sich ganz sicher. Das Lösegeld hätte ihr ein Leben in Luxus ermöglicht, aber hätte sie es auch genießen können? Niemals. Was auch immer sich Andreas dabei gedacht hatte, sie konnte sein Werk nicht vollenden.
»Mein armer Andreas!« Unter die Erleichterung mischte sich Trauer. Der Gedanke, dass ihr Freund tot war, schnürte ihr die Kehle zu. Aus ihrem Weinen wurde ein jämmerliches Schluchzen. Die Leute, die nun an ihr vorbeiliefen, hielten Abstand oder wechselten gar auf die andere Seite.
»Andreas.«
Noch war aber nicht alles erledigt.
»Sie wird nicht mehr anrufen. Auf gar keinen Fall«, stellte Moritz betrübt fest.
»Du hast recht«. Auch Olivia gab nun die Hoffnung auf.
Die beiden Ermittler vom Fahndungsdezernat stimmten ihnen zu: »Wir blasen die Aktion ab.«
Olivia nickte. Sie schaltete das Mikrofon ein und sprach zu Elisabeth: »Zeigen Sie bitte weiterhin keine Reaktion. Wir blasen die Aktion ab, wir warten schon zu lange auf den Anruf. Bitte begeben Sie sich zum vereinbarten Treffpunkt. Wir holen Sie dort ab.«
Elisabeth verstand. Sie war den Tränen nahe. Wie sehr hatte sie gehofft, dass das Drama nun bald vorbei wäre, aber da hatte sie sich wohl geirrt. Sie fragte sich, ob die Entführer mitbekommen hatten, dass sie die Polizei eingeschaltet hatte. Während sie schnellen Schrittes zum Treffpunkt lief, bekam sie Angst. Das musste es sein, die Entführer wussten, dass sie mit der Polizei gesprochen hatte!
Die wildesten Bilder schossen ihr durch den Kopf. Immer wieder sah sie Lukas’ Gesicht vor sich. Sie malte sich wie schon so oft aus, in welchen Räumen er festgehalten wurde und was die Entführer jetzt mit ihm machten. Die Gedanken ließen sie nicht mehr los. Sie fühlte, dass sie nicht mehr in ihrem Körper war und alles um sie herum sich zu drehen begann.
Mühsam schaffte sie es zum Treffpunkt. Als sie ankam, war sie total aufgelöst und erschöpft. Olivia empfing Elisabeth und merkte sofort, was mit ihr los war.
»Ich hoffe, es geht Ihrem Sohn gut.«
Elisabeth nickte. »Das hoffe ich auch.«
Schnell verständigte Olivia die Polizeipsychologin, damit diese sich um Elisabeth kümmern und sie nach Hause bringen würde. Zudem schickten die Kollegen vom Fahndungsdezernat ein Team in Elisabeths Haus, um eine Fangschaltung zu installieren und gegebenenfalls vor Ort zu sein, wenn sich die Entführer melden sollten.
Von der Anspannung erschöpft betraten Olivia und Moritz ihr Büro. Beinahe gleichzeitig ließen sie sich auf ihre Stühle fallen.
»Was für ein Schlamassel«, seufzte Olivia.
Moritz stimmte ihr nickend zu.
»Vor allem werden wir die Entführung nicht weiter betreuen dürfen. Klose wird uns den Fall entziehen«, stellte er fest.
»Ich weiß, wir sind die Mordkommission und nicht das Fahndungsdezernat.«
Voller Enttäuschung vergrub Olivia den Kopf in den Händen und legte sich halb auf ihren feinsäuberlich aufgeräumten Schreibtisch.
Es klopfte. Nachdem Moritz einen Laut von sich gegeben hatte, den man als Bestätigung interpretieren konnte, streckte Dr. Klose seinen Kopf durch die Tür.
»Sie wissen Bescheid, oder? Das Team vom Fahndungsdezernat übernimmt. Und sie machen weiter mit dem Mordfall. Alles klar?«
Moritz nickte. Olivia gab nun ihrerseits einen Laut von sich, der dem von Moritz ähnelte und den Dr. Klose wiederum als Bestätigung für seine Anweisung interpretierte. »Gut. Weitermachen.«
Er schloss die Tür.
»Dir ging das Schicksal der Frau sehr nahe, oder?«, begann Moritz.
Olivia nickte.
»Die Entführung eines Kindes macht mich fertig.«
»Mich auch.«
»Und Elisabeth Lehmann hat mir vertraut. Sie wollte, dass ich ihren Sohn rette. Das macht es noch schlimmer«, seufzte Olivia.
Moritz stand auf, betrachtete den Stadtplan, der hinter seinem Stuhl an der Wand hing, und drehte sich schließlich zu Olivia um.
»Und genau deshalb machen wir mit den Ermittlungen heimlich weiter. Wir machen das zu unserem Fall.« »Moritz, ich weiß nicht. Ich bin erst den dritten Tag hier, und wir haben schon einen Fall –«
»Nein, nein, pass mal auf. Während du das Sondereinsatzkommando vorbereitet hast, konnte ich ein wenig recherchieren.«
»Hast du dich wieder mit dem Penner getroffen?«, Olivia zog eine Augenbraue hoch.
»Nein, ich hab noch andere Informanten«, stellte Moritz empört fest, »überall in der Stadt, wenn du es genau wissen willst.« Er kramte ein paar Zettel aus der Innentasche seiner Lederjacke. »Folgendes: Elisabeth Lehmann ist mit dem Immobilienhai Thomas Lehmann verheiratet. Ihr Sohn Lukas stammt aus einer früheren Beziehung.« »Ja klar, das wissen wir.«
»Der Mann hat mit Sicherheit Feinde. Er ist ein Neureicher, der in den letzten Jahren unglaubliche Summen an Geld verdient hat. Im Moment saniert er die halbe Stadt. Einige der Baustellen, über die du immer fluchst, verantwortet letzten Endes er.«
»Ich fluch eigentlich nur, weil ich fahren muss und du nebendran deine Nickerchen hältst!«, empörte sich Olivia. »Morgen fahr’ ich mit dem Dienstwagen, Prinzessin. Dann kannst du ein Nickerchen machen, während wir unterwegs sind.« Er machte eine Pause. »Ich mag, wenn du dich aufregst.«
»Lass das bloß nicht zur Gewohnheit werden!«, drohte sie ihm.
»Was?«
»Dass du mich gerne aufregen willst.«
»Hey! Ich doch nicht.«
Olivia war sich sicher, dass er es wieder tun würde. »Also, zurück zu Lehmann. Vor fünf Jahren hat er einige Wohnsiedlungen in Käfertal renoviert. Alles geschah unter dem Deckmantel, dass die Bausubstanz verbessert werden sollte und damit auch der soziale Status. Letztlich stiegen damit aber auch die Mieten.«
»Und die Bewohner konnten sich das nicht mehr leisten«, schlussfolgerte Olivia.
»Genau. Sie mussten eigenhändig ihr Zuhause kündigen und saßen nach Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten auf der Straße.«
»Eindeutig, Moritz, der Mann hat Feinde in der Stadt.« »Und wir finden jetzt heraus, wer seine Feinde sind.« Moritz nahm den Telefonhörer in die Hand und sprach mit einem Mitarbeiter, während Olivias Finger über die Tastatur ihres Rechners flogen.
Nach zehn Sekunden schauten sich beide verblüfft an und fragten gleichzeitig: »Was tust du denn?«
»Ich frage bei den Kollegen nach, ob sie mir die Akten des Einwohnermeldeamts bringen können«, entschuldigte sich Moritz.
»Leg’ auf, so ein Quatsch. Ich hab hier die Daten. Du verwendest deinen Rechner wohl nie, oder?«
»Die Klapperkiste? Nur, wenn man mich dazu zwingt.« »Komm’ rüber, Moritz. Hier hab’ ich die Listen.«
Moritz legte den Hörer wieder auf und ging um den Schreibtisch herum zu Olivia, um ihr neugierig über die Schulter zu schauen.
Sie klickte sich durch einige Ordner und suchte nach den Adressen, die in Frage kamen. Schließlich öffnete sie den entsprechenden Adressdatensatz und ging ihn von oben nach unten alphabetisch durch.
»Das hätte ich jetzt nicht gedacht.«
»Was?«, fragte Olivia.
»Schau mal den fünftletzten Namen an.«
»Ich bin erst bei B.«
»Dann schau halt mal nach unten.«
Olivias Blick folgte Moritz Finger, der direkt auf einen Nachnamen zeigte.
»Das glaube ich jetzt nicht!« Selten in ihrem Leben war sie so erstaunt gewesen wie in diesem Augenblick. Moritz notierte sich die Adresse des Wohnblocks.
»Und genau da fahren wir jetzt hin«, forderte er Olivia auf.
Lukas saß vorne im Taxi und dirigierte den Fahrer durch das Wohnviertel in Weinheim, in dem die Lehmanns lebten. Er konnte es kaum erwarten, endlich seine Mutter wiederzusehen. Als das Taxi vor ihrem Haus hielt, drückte er dem Mann den Umschlag mit dem Geld in die Hand und wartete nicht, was er zurückbekommen würde. Er riss die Tür auf, war aber so aufgedreht, dass er sich im Gurt verhedderte und beinahe aus der Beifahrertür auf die Straße gefallen wäre. Eilig befreite er sich vom Gurt, vergaß die Beifahrertür zu schließen und rannte zur Eingangstür seines Elternhauses.
Elisabeth Lehmann saß mit dem Team des Fahndungsdezernats in ihrem Wohnzimmer. Einer der Techniker hatte ein neues Telefon besorgt, das er nun verkabelte und an die Leitung anschloss. Sie hatte bei der ganzen Sache kein gutes Gefühl und machte sich schwere Vorwürfe, weil sie befürchtete, die Geldübergabe vermasselt zu haben, indem sie zur Polizei gegangen war. Vielleicht hatte Thomas doch recht gehabt?
Plötzlich klingelte es an der Haustür. Sie zuckte zusammen. Ihr Puls flatterte. Wer konnte das jetzt sein?
Die Polizisten schauten sich kurz an und zogen sich in die Nebenzimmer zurück. Einer bat sie, die Tür zu öffnen, und versicherte ihr, dass immer einer des Teams in ihrer Nähe sei und sie keine Angst zu haben brauche.
Elisabeth nickte. Das hatte sie nun mehrfach gehört und trotzdem hatte sie Angst. Und trotz all der Leute war ihr Lukas noch nicht wieder zurück. Sie öffnete die Tür und konnte ihren Augen kaum glauben. Vor ihr stand ihr Sohn, wohlbehalten und unverletzt. Freudentränen schossen ihr über das Gesicht, und ihr Herz schlug vor Freude so heftig, dass sie einen Druck in der Brust verspürte. Sie umarmte Lukas drückte ihn mit aller Kraft an sich und zog ihn ins Haus.
»Hallo Mama!«
Thomas Lehmann hatte die Nacht auf der Couch in seinem Büro verbracht. Er hatte seine Wohnung in so großer Hektik verlassen, dass er keine Sachen zum Übernachten hatte mitnehmen können. Zum Glück gab es in seinem Büro eine Zahnbürste, denn manchmal arbeitete er so lange, dass er nicht mehr nach Hause fuhr und hier übernachtete. Von dieser Angewohnheit profitierte er an diesem Morgen, dem der tägliche Akt des Zähneputzens wenigstens ein kleines Stück Normalität verlieh.
Sein Büro befand sich in einem großen Gebäudekomplex, der in den letzten Jahren nahe dem Hauptbahnhof in Mannheim entstanden war. Viele kleinere und jüngere Firmen hatten hier ihren Sitz, meist hatten sie etwas mit dem Internet zu tun, und Thomas schüttelte bisweilen den Kopf über sie, weil er nicht verstand, womit sie eigentlich ihr Geld verdienten. Sein Geschäft waren nach wie vor Immobilien. Mit nichts kannte er sich besser aus und mit nichts anderem hatte er jemals richtig Geld verdient. Mit seinen Immobiliengeschäften war ihm der soziale Aufstieg gelungen, ihm hatte er seinen Reichtum zu verdanken, und zwar richtig großen Reichtum. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, als er zu Elisabeth nach Hause kam und sagte: »Ab jetzt können wir uns alles leisten, was wir möchten.« Damals war er sehr stolz auf sich und die Möglichkeiten gewesen, die er Elisabeth und dem Jungen jetzt bieten konnte.
»O Gott, der Junge.« Schlagartig überfiel ihn der Gedanke an den verschwundenen Lukas, als er vor dem Spiegel im Duschraum seines Büros stand. Seine Gedanken wanderten in die Zeit zurück, in der er Elisabeth kennengelernt hatte. Das waren romantische Zeiten! Er war so glücklich mit ihr, wie er mit keiner anderen Frau je gewesen ist. Dabei hatte es vor allem in seiner Jugend sehr viele Frauen gegeben, sogar so viele, dass er trotz der schlimmen Situation kurz in sein Spiegelbild grinste.
Wenige Tage, nachdem sie sich damals kennengelernt hatten, hatte ihm Elisabeth ihren einjährigen Sohn Lukas vorgestellt. Ihm war zunächst etwas unwohl bei der Sache gewesen, doch der Junge hatte ihm gefallen und so war er trotzdem bei Elisabeth geblieben und hatte sie schließlich geheiratet. Als Lukas kleiner gewesen war, hatte er ihm viel beigebracht und versucht, ihm ein guter Vater zu sein, doch inzwischen gelang ihm das immer seltener. Als er als Immobilienmakler angefangen hatte, hatte er schnell unglaublich viel um die Ohren gehabt. Im Grunde schuftete er seit Jahren Tag und Nacht, da blieb einfach wenig Zeit für seine Frau und noch weniger Zeit für den Jungen. Manchmal war ihm erst nach Wochen so richtig bewusst geworden, dass Lukas nun zur Schule ging, dass er seinen ersten Zahn verloren oder dass er neue Freunde mitgebracht hatte. Bei alle den beruflichen Herausforderungen fiel es ihm unglaublich schwer, mit dem Leben seiner kleinen Familie mithalten zu können. Immerhin schuftete er ja auch dafür, dass Elisabeth und Lukas in der besten Wohngegend lebten. Elisabeth konnte ihr Leben aus vollen Zügen genießen, musste nie wieder arbeiten. Und Lukas ermöglichte er damit eine vorzügliche Ausbildung, wenn er später studieren wollte, war das kein Problem. Er würde ihm sogar ein Studium an einer der teuren englischen Eliteuniversitäten bezahlen können, wenn der Junge das wollte. Sein Vermögen ging aber eben zulasten seiner Freizeit und Familie. Im Allgemeinen verstand Elisabeth das, aber manches Mal machte sie ihm Ärger, so wie am letzten Osterfest. Sie hatten nach dem langen Herbst und dem langen Winter endlich die Sonne sehen wollen und beschlossen, auf die kanarischen Inseln zu fliegen, um dort zwei Wochen zu entspannen. Zwei Tage vor Abflug war jedoch ein neues wichtiges Projekt hereingekommen, sodass Thomas an Mannheim gebunden war und unmöglich mit seiner Familie hätte verreisen können, wollte er das nicht Projekt platzen lassen. Elisabeth hatte ihn angeschrien, als er ihr davon erzählt hatte. In den letzten Jahren hatte sie immer weniger Verständnis für ihn und seine berufliche Situation aufgebracht, trotz all der Annehmlichkeiten, die er ihr deshalb bescheren konnte. Sie hatten sich gestritten, bis Elisabeth mit dem Jungen in ein Taxi gestiegen und sich nach Frankfurt zum Flughafen hatte bringen lassen. Er war allein mit einem Berg Arbeit zurückgeblieben, den er zu bewältigen hatte, um ihren gemeinsamen Lebensstandard zu halten. Schnell wusch er sich noch das Gesicht ab, trocknete ein wenig die Zahnbürste und ging vom Duschraum zurück in sein Büro.
Als er vor der Bürotür stand, wunderte er sich, dass die Tür einen kleinen Spalt weit offen stand.
»Nanu?! Ich hatte die Tür doch zugezogen.«
Vorsichtig steckte er seinen Kopf ins Büro. Niemand war in dem Zimmer, weder war einer seiner Kunden zu sehen noch die Büroangestellte oder eine der Personen, die die Büros nebenan gemietet hatten. Er schloss die Tür hinter sich, lief zu seinem Schreibtisch, öffnete die Schublade und spähte hinein. Auch seine Wertsachen waren noch da. Beruhigt ließ er sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und schlug die heutige Tageszeitung auf, die er sich immer ins Büro schicken ließ.
Die internationale Politik war von dem Konflikt in Syrien und den Reaktionen der Amerikaner und Russen bestimmt. Schnell blätterte er weiter, das war ihm jetzt zu anstrengend. Der nationale Teil befasste sich mit dem Hochwasser, das aufgrund der starken Regenfälle der letzten Woche einen großen Teil Deutschlands im Griff hatte. Thomas erinnerte sich, wie er einmal auf dem Nachhauseweg an der Neckarbrücke angehalten und einige Fotos gemacht hatte. Der Fluss war so weit aus seinem Bett getreten, dass er die ihn umgebenden Wiesen verschlungen hatte. Treibholz, Bauschutt und sogar tote Tiere waren im Wasser geschwommen und in Richtung Rhein getrieben worden. Mittlerweile war das Wasser hier in Mannheim wieder zurückgegangen, doch vor allem die Menschen in Ostdeutschland litten noch unter den Wassermassen. Wieder einmal war der Pegel der Elbe stark angeschwollen und bedrohte ganze Dörfer und Städte. Thomas Lehmann schüttelte den Kopf: »Die armen Leute, die dadurch ihr Haus verlieren werden.«
Dann blätterte er weiter und kam zum Lokalteil. Auch hier berichteten Betroffene, wie sie das Hochwasser überstanden hatten. Er betrachtete ein paar Bilder vom Strandbad Neckarau. Der Aufgang, der normalerweise vom Strand zum Lokal führte, wurde nun als Steg in das Wasser genutzt, und das, obwohl der Fluss bei normalem Pegelstand so viel tiefer lag, dass vom Ufer bis zum Aufgang mehr als zehn Meter Platz waren.
Plötzlich fiel sein Blick auf eine Schlagzeile, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Der Boden schien unter ihm nachzugeben, und er fühlte sich, als würde er fallen, fallen, fallen, ohne dass er sich irgendwo festhalten konnte. »Das darf nicht wahr sein!«, rief er laut aus.
Sein Herz begann zu rasen. Ihm wurde heiß und kalt, vom Rücken her überkam ihn eine Welle kalten Schweißes. Schließlich zog sich sein Magen krampfartig zusammen, und er musste sich fast übergeben.
Zitternd hielt er sich die Zeitung noch näher vors Gesicht, so als ob seine Augen zu schwach waren und er nicht mehr richtig lesen konnte. Doch noch immer stand dort in großen schwarzen Buchstaben:
»Unbekannte Leiche am Rhein gefunden. Polizei fahndet nach dem Täter.«
Thomas brauchte ein paar Minuten, um sich zu beruhigen, dann überfiel ihn Hektik. Er ließ die Zeitung fallen und wollte gerade aufspringen, als er in den Lauf einer Pistole blickte.
»Sie haben ihn umgebracht. Ich weiß es.«
In diesem Moment begann sein Handy zu klingeln. »Finger weg!«
Moritz und Olivia standen vor dem Wohnblock in Käfertal, dessen Adresse sie sich notiert hatten. Man konnte deutlich erkennen, dass es sich bei dem Gebäude um eine ältere Bausubstanz handelte, die in den letzten Jahren renoviert worden war. An alle Häusern waren Balkone und bunte Verblendungen angebracht worden, die einen jungen und modernen Charakter hinterlassen sollten. Dennoch wirkten die Erneuerungen aufgesetzt und so, als gehörten sie nicht wirklich hierher.
Schweigend gingen die beiden Kommissare auf das besagte Haus zu. Vor den Klingeln hielt Moritz inne und ging die rund zwanzig Namen durch.
»Kennst du irgendwen?«, fragte Olivia.
»Nö. Ich schau mir nur die Namen an und entscheide dann, wer uns die besten Antworten geben wird.« Moritz entschied sich für den Nachnamen Wicke und klingelte. Wenig später öffnete ein großer, gut gelaunter Mann die Tür.
»Kriminalpolizei Mannheim, wir haben ein paar Fragen«, begann Olivia.
Der Mann erschrak: »Was hab ich getan?«
»Sie haben nichts getan und auch nichts unterlassen. Keine Sorge. Wir brauchen von Ihnen nur ein paar Auskünfte. Dürfen wir hereinkommen?«, fragte Moritz.
Herr Wicke nickte und führte die beiden Kommissare in seine Küche. Dort setzten sie sich um den kleinen quadratischen Esstisch.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Herr Wicke
»Kennen Sie Andreas Steiner?«, antwortete Olivia mit einer Gegenfrage.
»Ja, klar, den Andi, den kenn ich. Der wohnte früher hier in der Wohnung über mir.«
Danke, das war eigentlich schon fast alles, was wir wissen wollten.
Moritz legte ein ernstes Gesicht auf: »Herr Wicke. Es ist äußerst wichtig, dass Sie uns erzählen, unter welchen Umständen er damals ausgezogen ist. Erinnern Sie sich daran?«
»Klar, erinnere ich mich daran, wie sollte ich das vergessen. Das war vor ein paar Jahren. Damals war der ganze Block noch eine Bruchbude. Doch schauen Sie sich das Haus jetzt an, alles picobello und tipptopp.«
»Gut. Wir wissen, dass die Immobilienfirma die Wohnungen nach der Renovierung zu einem höheren Preis vermietet hat. Vielen Bewohnern hat das offenbar nicht geschmeckt, sie sind ausgezogen, weil sie sich die neuen Mieten nicht mehr leisten konnten«, erklärte Olivia weiter.
Herr Wicke nickte.
»Und Andreas Steiner war einer davon?«, wollte Moritz wissen.
»Nicht ganz, er ist noch eine Weile geblieben. Aber nach ein paar Monaten ist er ausgezogen, weil man ihn entlassen hat und er sich dadurch die höhere Miete nicht mehr leisten konnte.«
»Haben Sie mitbekommen, warum er entlassen wurde?«, forschte Olivia weiter.
»Da bin ich mir nicht ganz sicher, das ist zu lange her. Aber ich meine, mich erinnern zu können, dass er bei seinem Arbeitgeber mal tief in die Kasse gegriffen hatte, um sich die Miete leisten zu können.«
Beide Kommissare nickten: »Das passt ins Bild.« »Andreas war damals stinksauer auf die Immobilienfirma. Er hat sie für alles verantwortlich gemacht. Wegen ihr hätte er klauen müssen, wegen ihr hätte er seinen Job verloren, und wegen ihr müsste er ausziehen«, erzählte Herr Wicke. »Irgendwann, so hat er gesagt, würde er sich für das Unrecht, das die ihm angetan hätte, rächen. Das hat er jedem hier erzählt.«
»Danke, das war es schon. Sie haben uns sehr geholfen«, bedankte sich Olivia.
Herr Wicke bemerkte noch, dass er den Kommissaren immer zur Verfügung stehen würde, falls sie weitere Informationen bräuchten. Er geleitete die beiden aus der Küche und führte sie bis zur Eingangstür. Im Freien angekommen, überlegten Moritz und Olivia weiter. »Andreas Steiner wohnte in einer Wohnung, die von Thomas Lehmanns Immobilienfirma aufgekauft und erneuert wurde«, überlegte Olivia laut vor sich hin.
»Und das Ganze geschah vor etwas mehr als fünf Jahren«, fügte Moritz hinzu.
Olivia hatte ein äußerst unbehagliches Gefühl bei der Geschichte. Immerhin hatten sie mittlerweile genügend Hintergrundinformation über den Toten gesammelt, um sich ein Bild von seinen Lebensumständen zu machen. Der Zusammenhang zwischen Thomas Lehmann und Andreas Steiner war höchstwahrscheinlich kein Zufall und bereitete ihr Magenbeschwerden. Dieser Verbindung mussten sie nun mit aller Entschiedenheit nachgehen. »Das bedeutet, dass Steiners Unglück mit der Renovierung seines Apartments durch Lehmanns Immobilienfirma begann«, schlussfolgerte Olivia.
»Und dieser Theorie nach«, führte Moritz weiter aus, »könnte Steiner hinter der Entführung des Jungen stecken.«
»Und wenn Steiner dahintersteckt«, vollendete Olivia Moritz’ Gedanken, »dann hängt Steffi Groß wahrscheinlich mit drin.«
Das letzte Wort kam Olivia sehr verbissen über die Lippen. »Wir müssen so schnell wie möglich zu ihr!« Olivia drehte den Zündschlüssel herum.
Wieder war es ein freundlicher Nachbar, der den beiden Kommissaren weiterhalf. Er öffnete ihnen die Haustür, und so gelangten sie vor Steffis Wohnungstür, ohne unten klingeln zu müssen. Als sie nach mehrmaliger Aufforderung nicht reagierte, versuchte Moritz, die Tür aufzubrechen.
»Moritz, du weißt, dass wir das nicht dürfen«, ermahnte ihn Olivia.
»Und wir können es auch nicht. Ich krieg die Tür nicht auf.«, antwortete er.
Dann zückte er sein Handy und wählte die Nummer der Kollegen.
»Moritz hier, hallo. Wir brauchen ein Team zur Observierung einer Wohnung in Käfertal. Bitte schnell.«
Sie liefen zurück zu ihrem Dienstwagen und ließen sich auf die beiden vorderen Plätze fallen.
»Puh, ich hätte nie gedacht, dass beides, Entführung und Mord, miteinander verbunden ist«, seufzte Moritz.
»Man muss immer mit dem Unmöglichen rechnen«, entgegnete ihm Olivia sarkastisch.
Beide schwiegen für eine Weile und starrten auf das Gebäude. Olivia dachte dabei an Steffi.
Vielleicht war sie der Kopf hinter der Entführung von Lukas. Hätten wir sie nur früher dingfest gemacht.
Olivia ärgerte sich gewaltig. Ein Blick hinüber zu Moritz sagte ihr, dass auch er gewaltig angefressen war. Moritz’ Diensthandy klingelte.
»Geh du dran, ich mag grad nicht. Ich observiere.« Widerwillig nahm Olivia den Anruf entgegen. Sie mochte es nicht, wenn Moritz sie herumkommandierte, nur weil er im Grunde zu faul war.
»Bei Moritz Martin.«
»Frau von Sassen?«, meldete sich Dr. Klose.
»Ja.«
»Warum geht Kommissar Martin nicht selbst an sein Telefon?«
»Er mag grad nicht. Er observiert.«
»Was soll das heißen? Das nächste Mal rufe ich besser gleich bei Ihnen an.«
»Das wäre mir ohnehin recht«, antwortete Olivia. »Was gibt’s?«
»Ich wollte Ihnen mitteilen, dass der entführte Junge mittlerweile wieder bei seiner Mutter ist. Die Entführer haben ihn freigelassen. Ganz ohne Lösegeld.«
»Geht es ihm gut? Haben ihm die Entführer etwas angetan?«, fragte Olivia besorgt.
»Es geht dem Jungen gut. Keine Sorge.«
Olivia legte erleichtert auf.
»Wir fahren besser nach Weinheim, Moritz, und sprechen noch mal mit der Mutter.«
Moritz stimmte ihr zu. Sie warteten, bis die Kollegen zur Observierung der Wohnung eingetroffen waren und fuhren los.
Elisabeth versuchte wiederholt, ihren Mann zu erreichen. Sie ließ es bestimmte fünfzehn Mal klingeln, bevor sie frustriert auflegte.