West Kilbride, Freitag, 22. August 2008

In West Kilbride möchte ich nicht einmal begraben sein. Der Gedanke geht mir an diesem Freitagmittag mehrmals durch den Kopf. Es regnet. Es regnet seit Tagen. Es ist nicht besonders kalt, aber es ist inzwischen überall so nass und es hängt eine solche Feuchtigkeit in der Luft, dass kaum ein Mensch noch nach draußen geht. Die Hauptstraße ist fast völlig verlassen. Ab und zu sieht man jemanden: eine Frau mit ihrem Hund. Ein Kind, das eilig irgendwohin rennt. Zwei Männer, die heftig debattierend in einem Haus verschwinden. Dann wieder Stille und Leere.

Warum ist Schottland und speziell die Westküste ein solches Regenloch?

Die enggedrängten Häuser zeigen Feuchtigkeitsflecken im Putz, und manche Fensterscheibe ist so beschlagen, dass die Bewohner nicht einmal hinausschauen können. Der Ort trieft vor Nässe und erstarrt in Trostlosigkeit.

Wer, um Himmels willen, kommt hierher, um Ferien zu machen?

»Krass«, sagt Vincent, den wir alle nur Vincy nennen. »Echt krass, das Kaff.«

Ich werfe meine Zigarette auf den Gehweg und trete sie aus. Zünde mir eine neue an.

Gegenüber der Stelle, an der wir im Schutz eines Hauseingangs stehen und rauchen, liegt ein Pub. The King’s Arms. Davor steht der große silberfarbene BMW, der vor über einer Stunde hier angekommen ist. Der Fahrer und seine Familie sind im Pub verschwunden. Man bekommt hier sicher das beste Essen im Ort – aber trotzdem würde ich dieses Pub nicht aufsuchen. Ich finde es einfach nur öde, wie alles hier.

»Wie lange bleiben die denn da drin?«, fragt Vincy missmutig. Er ist der Größte von uns dreien, und der mit dem geringsten IQ. Ihm muss man alles mindestens dreimal vorkauen und kann dann nur hoffen, dass er es halbwegs kapiert. Ich mag ihn, er ist ein loyaler Kumpel, der ja nichts dafür kann, dass er etwas unterbelichtet ist. Andererseits ist er auch ein wenig unberechenbar. Ich werde ihn immer im Auge behalten müssen.

»Die kommen bestimmt gleich raus«, sagt Adam. Er wirkt gelassen. Ruhig. Gefährlich ruhig. Ich weiß, dass Adam ein Psychopath ist. Er hat null Empathie, nicht das geringste Gespür für andere. Er ist eiskalt. Er ist schon als Kind immer wieder auffällig geworden, ist aus drei Schulen geflogen und hat es irgendwann aufgegeben, einen Abschluss machen zu wollen. Mit mir verbindet ihn so etwas wie eine Freundschaft – soweit er überhaupt freundschaftsfähig ist. Irgendwie hängt er an mir, auf seine seltsame gefühllose Art. Es ist schwer zu erklären. Ich glaube, ich bin jemand, der ihn nicht infrage stellt, ihn nicht angreift, ihm keine Vorhaltungen macht. Ich nehme ihn, wie er ist. Er fühlt sich wohl in meiner Gegenwart. Akzeptiert. Das macht unsere Beziehung aus: dass wir einander akzeptieren. Vielleicht ist das gar nicht so wenig.

»Ich habe auch Hunger«, murrt Vincy.

»Wir fahren nachher zu McDonald’s«, verspreche ich. Vincy liebt McDonald’s. Mit einem großen Menü kann man ihn glücklich machen.

Nur eine Weile muss er noch Ruhe geben. Es ist wichtig, dass wir nicht auffallen. Wenn irgend möglich, soll sich niemand später an drei junge Männer erinnern, die am Nachmittag des 22. August 2008 in West Kilbride herumlungerten. Männer, die niemand kannte. Insofern spielt uns das Wetter in die Karten, bei Sonnenschein wären viel mehr Menschen draußen unterwegs. Natürlich kann man uns von den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses sehen. Aber wir stehen im Hauseingang, ich gehe davon aus, dass man unsere Gesichter nicht erkennt. Manchmal spähe ich vorsichtig zu den Fenstern hoch: Sie sind beschlagen, und ich sehe niemanden. Vielleicht sind die Leute nicht zu Hause. Oder sie haben keine Veranlassung, in diesen trüben Tag hinauszublicken.

»Liam!«, sagt Adam plötzlich. »Sie kommen!«

Ich starre auf die Tür des Pubs. Sie hat sich geöffnet. Heraus kommt zuerst das kleine Mädchen. Judy. Sie ist sieben Jahre alt. Lange dunkelblonde Haare, abstehende Segelohren, die aber irgendwie sehr süß aussehen. Sie besteht nur aus Fohlenbeinen und diesen Ohren.

»Lecker«, sagt Vincy.

Ihr folgt die Mutter. Isabella Millard. Eine sehr schöne Frau, aber sie wirkt missmutig, was mich nicht wundert. Ich habe beobachtet, wie sie daheim in Bristol die Campingausrüstung verladen haben. Der Aufenthalt in dem Pub war wahrscheinlich die letzte Möglichkeit des Tages, sich in Wärme und Trockenheit aufzuhalten. Die nächste Nacht verbringen sie in einem Zelt. Irgendwo an der Küste, am Meer. Jede Wette, dass er nah ans Wasser möchte. Als würde man nicht auch so nass genug …

Er. Arlo Millard. Er ist dicht hinter seiner Frau. Er überragt Isabella um fast einen Kopf, obwohl sie auch nicht klein ist. Breite Schultern, athletischer Körperbau. Ein paar silbrige Strähnen im dichten, dunklen Haar. Ich habe viel über ihn in Erfahrung gebracht in den letzten Monaten. Er treibt Sport, joggt und geht regelmäßig ins Fitnessstudio und ins Solarium. Ein attraktiver Mann, einer, der das auch weiß.

»Das ist er, oder?«, fragt Adam.

Ich nicke.

»Ganz schön kräftig. Und sportlich.«

»Ja. Aber das Überraschungsmoment ist auf unserer Seite«, erkläre ich.

Vincy starrt mich an. Er kapiert den Satz schon wieder nicht wirklich.

Als Letzte verlässt die ältere Tochter das Pub. Sie sieht noch schlechter gelaunt aus als ihre Mutter. Die langen Haare fallen ihr ins Gesicht und verdecken es zur Hälfte. Sie hält den Kopf gesenkt, aber man sieht ihre heruntergezogenen Mundwinkel.

Selbst Vincy fällt das auf. »Da hat keiner Lust auf die Ferien«, stellt er fest.

»Die Kleine vielleicht«, meint Adam. »Und der Alte vermutlich. Also die Hälfte mag den Urlaub.«

Tatsächlich wirkt Judy vergnügt. Sie ist in einem Alter, da stört sie der Regen nicht. Und die Trostlosigkeit dieser Gegend. Sie findet es aufregend, im Zelt zu schlafen, und genießt das Zusammensein mit der Familie.

»Einen Urlaub müssen alle wollen«, sage ich.

Millard schließt das Auto auf.

Es hört fast genau in diesem Moment auf zu regnen.

»Ey, Sonne«, sagt Vincy. Davon kann keine Rede sein. Aber zumindest werden wir auf dem Weg zu unserem Auto nicht durchweichen.

»Jetzt schnell«, sage ich. »Wir müssen dranbleiben.«

Es ist genau 14.05 Uhr.

Noch zwölf Stunden bis zum Überfall.