West Kilbride, Freitag, 22. August 2008

Wir warten, und der Abend bricht ganz langsam herein. Ich will, dass es schwarze Nacht ist und dass alle schlafen. Vorher schlagen wir nicht los. Ich will die Millards aus tiefstem Schlummer reißen. Sie sollen verwirrt sein, schlaftrunken. Verletzlich. Ich habe irgendwo gelesen, dass die Geheimpolizei in totalitären Staaten wie in Nazideutschland oder in der Sowjetunion der Stalin-Ära die Menschen bevorzugt morgens um vier Uhr abholte. Die Schergen hämmerten an die Wohnungstüren und zwangen ihre Opfer aus ihren warmen Betten, weil um diese Zeit der Schlaf offensichtlich besonders tief, die Wehrfähigkeit entsprechend niedrig ist. Wenn es darum geht, diejenigen, die man abholt, um sie in ein Foltergefängnis zu bringen, schon im Vorfeld möglichst intensiv zu quälen, dann spielt der Zeitpunkt ihrer Verhaftung durchaus eine Rolle. Um vier Uhr früh ist der Mensch schreckhaft und unbeholfen. Er friert verstärkt. Er ist leicht einzuschüchtern, weil die Schutzschicht fehlt. Er wird schnell zu einem einzigen Häufchen Elend. Das bringt seinen Feinden zusätzliches Vergnügen.

Bis vier Uhr früh will ich nicht warten. Aber zwei Uhr sollte es schon sein. Wenn es mir gelingt, Adam und Vincy so lange hinzuhalten.

Noch schlafen sie. Ich hüte mich, sie zu wecken, verzichte darauf, das Autoradio anzuschalten oder wenigstens einen kurzen Spaziergang zu unternehmen. Ich habe Angst, dass einer aufwacht, wenn ich die Tür öffne. Dann würde das Gequengel losgehen. Je länger ich davon verschont bleibe, umso besser.

Meine Gedanken schweifen ab. Weg von diesem Feldweg, diesem trüben Tag, dieser einsamen Gegend irgendwo am Meer in Schottland.

Ich muss an Patrick denken, meinen Bruder. Schwächlich und zart vom Tag seiner Geburt an. Er kam sechs Wochen zu früh auf die Welt, kränkelte ständig in den ersten beiden Lebensjahren. Mum war mehr beim Arzt mit ihm als sonst irgendwo.

In dieser Zeit konnte sie nicht arbeiten. Sie hatte ja nicht nur Patrick – ich war auch noch da. Und auch noch klein. Zwar nicht krank, aber ich hatte ziemlich viel Blödsinn im Kopf, und man musste ständig ein Auge auf mich haben. Dad war also der alleinige Familienernährer. Als Kind war mir das nicht so klar, aber rückblickend weiß ich, dass das Geld schon damals hinten und vorn nicht reichte. Wir wohnten mitten in Bristol in der ersten Etage eines windschiefen, handtuchschmalen Reihenhauses. Ursprünglich hatte jemand das ganze Haus bewohnt, aber eine clevere Immobilienfirma hatte die ganze Häuserkette aufgekauft und in jedem Haus zwei Wohnungen eingerichtet, obwohl schon vorher kaum Platz darin gewesen war. Aber so konnte man noch mehr Menschen hineinpferchen und bekam mehr Miete. Jede Wohnung bestand neben einer Wohnküche und einem winzigen Bad aus zwei kleinen Zimmern. In dem einen Zimmer schliefen Mum und Dad, das andere teilte ich mir mit Patrick. Später jedenfalls. Die ersten Jahre schlief er bei unseren Eltern im Bett, weil Mum ständig Angst hatte, ihm könnte in der Nacht irgendetwas passieren und sie würde es nicht mitbekommen.

Ich dachte damals immer, Mum sei ständig traurig wegen Patrick, wegen ihrer Sorgen um ihn, aber rückblickend weiß ich, dass da viel mehr war. Mum hatte eine depressive Veranlagung, und die Beengtheit unseres Lebens, die Geldsorgen, die Perspektivlosigkeit verstärkten diese Neigung. Manchmal kam ich morgens in die Küche, und sie saß am Tisch, starrte einfach nur vor sich hin und war nicht ansprechbar.

»Lass sie«, sagte mein Vater dann, »du kannst ihr gerade nicht helfen.«

Ob es ihr helfen würde, wenn wir reich wären, fragte ich mich.

Warum haben manche Leute viel Geld und manche wenig? Als Kind dachte ich eine Zeit lang, wer viel arbeitet, hat viel Geld. Wer wenig arbeitet, hat wenig Geld. Das ist gerecht.

Aber Dad schuftete von morgens bis abends auf den Baustellen und kam todmüde nach Hause, dabei nahm er sogar noch Gelegenheitsarbeiten für das Wochenende an, weil wir so knapp bei Kasse waren. Irgendetwas stimmte also nicht. Man bekam nicht viel Geld für viel Arbeit. Es hing von der Arbeit ab. Und manchmal verdiente einer viel Geld, ohne zu arbeiten. Zum Beispiel die Immobilienfirma, die die Reihenhäuser gekauft und umgebaut hatte. Die kassierten jetzt einfach die Miete und lehnten sich bequem zurück.

Ich wollte mit Dad darüber sprechen, aber der sagte nur: »Die waren halt schlau.«

Schlau. Musste man schlau sein, um reich zu werden? War das wichtiger, als hart zu arbeiten?

Dad sagte, das sei ein sehr komplexes Thema. Ich wusste nicht, was er damit meinte. Ich hatte nur den Eindruck, dass die Welt verdammt ungerecht war.

Mein Plan für die Zukunft stand frühzeitig fest. Ich besaß ein Bilderbuch, darin ging es um einen Mann, der nach Sizilien zog und dort Orangenbäume pflanzte. Die Orangen verkaufte er dann, und von dem Geld kaufte er sich noch mehr Land und pflanzte noch mehr Bäume. Er wurde richtig reich am Ende. In dem Buch gefielen mir vor allem die Bilder der großen, runden, leuchtend orangefarbenen Apfelsinen. Und der immer blaue Himmel, die Sonne über Sizilien.

»Später ziehe ich auch dorthin«, erklärte ich jedem, der es hören wollte, »ich werde eine Orangenplantage auf Sizilien haben.«

Die meisten Leute lachten dann, aber ich meinte es ernst.

Bislang hat das nicht geklappt. Ich sitze hier in Schottland an einem kühlen, windigen Augustabend, der nichts, aber auch gar nichts von einer sizilianischen Atmosphäre hat, und warte … ja worauf? Darauf, ein Stück Gerechtigkeit wiederherzustellen.

Neben mir erwacht Adam, setzt sich aufrecht hin. Er blinzelt, weiß nicht sofort, wo er ist. Die Dämmerung senkt sich über die trostlos graue Landschaft, aber ich kann sein Gesicht noch gut erkennen. Er sieht weicher aus, so frisch aus dem Schlaf. Fast verletzbar. Man würde nicht glauben, wie knallhart er ist.

»Wie spät ist es?«, fragt er.

Ich schaue zum gefühlt hundertsten Mal auf die Uhr.

»Es ist zwanzig Minuten vor acht«, sage ich.

Noch sechs Stunden und zwanzig Minuten bis zum Überfall.