Mein erstes Schlüsselmoment mit Iris Millard. Das, mit dem alles begann.
Bristol, Mittwoch, 14. Mai 2008
Ein kühler Maitag. Mittwoch. Sonne, blau-weißer Himmel, frischer Wind. Ich habe die Nacht wie immer auf dem Rücksitz meines Autos verbracht, eine Nacht, die ungewöhnlich kalt war für die Jahreszeit, ich habe gefroren, selbst in meinem Schlafsack. Das Schlafen mit angewinkelten Beinen macht mir zunehmend zu schaffen.
Aber der Sommer steht vor der Tür. Das Leben im Auto wird mit jedem Tag einfacher werden.
Mum ist jetzt fast vier Monate tot. Seit Mitte Februar lebe ich nicht mehr mit meinem Vater und Patrick zusammen. Ich hielt es nicht länger aus in dieser Wohnung, in der sich nichts verändert hat und doch alles anders geworden ist. Diese Wohnung, von deren Balkon sich meine Mum gestürzt hat. Ich weiß, dass Mum schon lange depressiv war, dass sie sich durch den Alltag schleppte, zu niedergedrückt, zu verzweifelt, um noch wirklich Kraft aufzubringen für die vielen Dinge, die täglich auf sie warteten. Aber Arlo Millard hat ihr den Todesstoß versetzt. Das Theater, das er um das gestohlene Geld gemacht hat, die lächerlichen fünfzig Pfund, die Mum sofort zurückzugeben bereit war … Sie wusste, dass sie ihren Job verlieren, dass jeder in der Firma Bescheid wissen würde. Es war zu viel. Für einen anderen Menschen, in einer anderen Lebenssituation, wäre es das sicher nicht gewesen.
Hätte Millard das erkennen müssen?
Dumme Frage. Als ob sich Millard mit einer der Putzfrauen in seinem Betrieb auch nur für eine Sekunde beschäftigt hätte. Er kannte nicht einmal Mums Namen. Geschweige denn ihre Lebenssituation. Und ihre Depressionen.
Ich lungere seit drei Monaten in meinem Auto in den Straßen nahe seiner Villa herum. Ich versuche, so unauffällig wie möglich zu sein, aber das ist natürlich schwierig. In dieser piekfeinen Gegend fällt mein Auto schon deshalb auf, weil es sich um eine uralte Rostlaube handelt, die jeden Moment in sich zusammenzufallen droht. Umso verdächtiger, als ein junger, abgerissen wirkender Mann offenkundig darin lebt. Das Auto ist vollgestopft mit Klamotten, Schuhen, Decken und ein paar Hand- und Badetüchern.
Nachts fahre ich an einen nahegelegenen Waldrand und schlafe dort. Stundenweise arbeite ich tagsüber bei einem KFC, dort esse ich auch und ziehe mir ab und zu einen Kaffee. Ich dusche zweimal die Woche in einem Hallenbad. Dazwischen kurve ich um Millards Protzvilla herum. Ich erwarte täglich, dass irgendjemand die Polizei verständigt. Aber tatsächlich geschieht nichts.
Ich bringe einiges über die Familie in Erfahrung. Die Millards haben zwei Töchter, Iris und Judy. Ich weiß das, weil Isabella Millard sie eines Morgens gerufen hat, als sie bereits mit ihrem SUV vor dem Gartentor stand und wartete. Sie fährt die Mädchen täglich zu ihren Schulen. Judy, die Kleine, muss sechs oder sieben Jahre alt sein. Ein süßes, sonniges Kind. Iris, die Ältere, schätze ich auf fünfzehn, tatsächlich erfahre ich später, dass sie Ende Juni sechzehn wird. Eine junge Schönheit.
Eine glückliche Familie. Alle vier sehen sie sehr gut aus. Das Haus ist atemberaubend. Manchmal kommen Gäste. Diese Menschen sind dann auch sehr gut aussehend. Kommen in tollen Autos und tragen wunderschöne Klamotten.
Ein Leben wie im Traum?
Mit der Zeit sehe ich genauer hin.
Ich bemerke, wie gestresst Millard jeden Morgen wirkt, wenn er zu seiner Firma aufbricht. Sorgenbeladen. In sich gekehrt. Unausgeschlafen.
Es gibt Gerüchte in Bristol. Dass es nicht gut um Millards Unternehmen steht.
Isabella hat entlang ihrer Mundwinkel scharfe Kanten. Wenn sie aus dem Haus kommt und sich unbeobachtet fühlt, wirkt sie müde und abgekämpft. Keineswegs glücklich.
Über Iris kann ich nicht so viel sagen. Sie wirkt auch nicht glücklich, aber sie steckt in der Pubertät. Da blicken alle missmutig drein.
Wirklich fröhlich ist nur die kleine Judy. Ein entzückendes Kind mit strahlendem Lächeln und lustigen Fledermausohren. Eine Tochter wie sie möchte ich auch einmal haben. Immer wenn ich sie sehe, fühle ich mich besser. Und frage mich: Was will ich?
Millard zur Rechenschaft ziehen?
Was wird das mit seinen Kindern machen?
An jenem Maitag, als ich frierend von meiner Nacht am Waldrand zurückkehre in die Siedlung mit der Hoffnung, dass die Sonne bald an Kraft gewinnt und mich aufwärmt, beginne ich, mir vorzustellen, dass ich aufhöre. Nicht mehr hier herumhänge. Versuche, in ein normales Leben zurückzufinden.
Aber was kann noch normal sein?
Ich bin später als sonst. Die Mädchen müssen schon in der Schule, Millard in der Firma und Isabella im Sportstudio sein. Ich erwarte nicht, in den nächsten Stunden jemanden von der Familie zu sehen. Deshalb schrecke ich regelrecht zusammen, als sich das Gartentor öffnet und Iris Millard herauskommt. Sie trägt Jeans, Turnschuhe und ein blaues Sweatshirt. Ihre langen Haare wirken ungekämmt. Sie hält zwei große Becher in der Hand und kommt zielsicher auf mein Auto zu. Instinktiv ducke ich mich hinter das Lenkrad, aber natürlich hat sie mich längst gesehen. Sie stellt einen der Becher kurz auf dem Autodach ab, öffnet die Beifahrertür, nimmt den Becher wieder herunter, steigt ein. Drückt mir einen Becher in die Hand. Wunderbar duftender, heißer, schwarzer Kaffee. Mir wird ganz schwindelig.
»Hi«, sagt sie. »Ich bin Iris.«
»Ich bin Liam«, sage ich reflexartig.
»Warum beschattest du uns?«, fragt sie. »Bist du ein Stalker?«
»Warum bist du nicht in der Schule?«, frage ich zurück.
Sie grinst. »Magenschmerzen.«
»Im Ernst?«
»Nein. Aber ich wollte mit dir reden.«
Ich weiß, dass es sinnlos ist, abzustreiten, dass ich mich seit Monaten in der Gegend herumtreibe. »Okay?«
Sie sieht mich an. Zum ersten Mal nehme ich sie aus nächster Nähe wahr. Die grünen Augen. Die dichten schwarzen Wimpern. Die ungewöhnlich hohen Wangenknochen.
»Was willst du von uns?«, fragt sie.
Ich hole tief Luft. Ich weiß nicht warum, aber ich erzähle diesem fremden Mädchen, das noch dazu die Tochter meines Todfeindes ist, von meiner Mutter. Von meinem Hass auf Arlo Millard. Von meinen diffusen Rachegedanken. Die sich jedoch schon seit einiger Zeit immer mehr aufzulösen beginnen, vielleicht weil ich erkenne, dass Rache nichts ändern wird. Eine weitere Familie würde zerstört werden. Aber meine Mutter würde deswegen nicht wieder lebendig sein.
Iris hört mir konzentriert zu. Ich kann ihrer Miene nichts entnehmen außer gespannter Aufmerksamkeit. Ich weiß nicht, ob sie Mitleid empfindet. Wut. Ärger. Betroffenheit. Ob sie meinen Zorn versteht. Meine Verzweiflung. Ob sie es verwerflich findet, dass ich über Rache nachgedacht habe. Ob sie ihren Vater verurteilt oder ob sie denkt, dass meine Mutter eben eine Diebin war, die ihr Schicksal selbst verschuldet hat. Ob sie mich für verrückt hält oder Angst vor mir hat.
Nichts kann ich erkennen.
Daher habe ich auch keine Ahnung, was sie erwidern wird. Am ehesten, denke ich, wird sie wahrscheinlich versuchen, mich zu trösten. Und dann ihrer Hoffnung Ausdruck verleihen, dass ich ihre Familie in Ruhe lasse, mich wieder auf mein eigenes weiteres Leben konzentriere und zu verstehen versuche, dass ihr Vater nicht wissen konnte, was geschehen würde. Diebstahl sei eben Diebstahl.
Auf das, was sie dann tatsächlich sagt, bin ich nicht im Geringsten vorbereitet.
Sie schaut mir direkt in die Augen.
»Würdest du es für mich tun?«, fragt sie. »Würdest du meinen Vater töten?«