Kapitel 5 – Kaia
»– ihre Mutter.« Tante Iselda schlug die Augen auf.
»Du bist wach!« Kaia rannte zu ihrem Bett. »Dem Einzigen sei Dank, ich habe mir Sorgen gemacht.« Sie küsste ihre Tante auf die Stirn. »Wessen Mutter? Meine?«
»Was?« Tante Iselda griff nach dem Glas Wasser, das auf ihrem Nachttisch stand.
»Du hast ›ihre Mutter‹ gesagt. Hast du von meiner Mutter geträumt?« Kaia zog sich einen Schemel heran und setzte sich zu ihrer Tante ans Bett.
Tante Iselda nahm einen langen Zug aus dem Glas. Und noch einen. Kaia zwang sich, ihre Füße stillzuhalten. Ihre Tante redete selten über ihre Mutter, und nun schien ein solcher Augenblick gekommen zu sein. Sie würde es nicht durch Ungeduld kaputtmachen.
Ihre Tante seufzte. »Ja, geträumt, das kann man wohl so sagen.« Sie leerte das Glas.
Kaia rutschte auf dem Stuhl nach vorne. »Und?« Die Geduldsprobe hatte sie auf jeden Fall schon einmal nicht bestanden. Sie biss sich auf die Zunge und umklammerte den Sitz.
»Kaia, Liebes …« Ihre Tante wirkte sehr erschöpft.
Warum nur hatte Kaia sie so drängen müssen? »Ich hol dir etwas zu essen, dann kommst du schnell wieder zu Kräften.«
»Hat Enric … hat er …«
»Nein, keine Sorge. Euer morgendliches Schneeräumen hat ihn anscheinend so weit beeindruckt, dass er keine Bemerkungen macht.« Oder Schlimmeres. »Ich bin gleich wieder da.«
Kaia betete, dass sie Enric oder seiner Mutter auf dem Weg in die Küche nicht begegnen würde. Sie huschte die schmalen Gänge der Dienstbotenquartiere entlang. Die Küche war im Hauptgebäude. Schnell über den Hof, zum Dienstboteneingang und –
»Na sieh mal einer an.«
Kaia erstarrte. Enrics dünn behaarter Kopf auf seinem viel zu dicken Nacken erschien im Türrahmen, gefolgt von seinem untersetzten Körper. Nicht zu fassen, jetzt passte er sie schon am Dienstboteneingang ab. Was hatte er hier zu suchen? War sie denn nicht einmal hier sicher?
Einer seiner Kumpane drängelte sich hinter ihm aus der Tür, mit dem gleichen selbstzufriedenen Grinsen auf dem Gesicht wie Enric. War es nicht genug, dass Enric die Dienerschaft verprügelte? Musste er nun noch seine Saufkumpane dazu einladen? Der andere Mann richtete seine Jacke. Dann wanderte sein Blick zu seiner offenen Hose. Er schloss sie langsam und musterte dabei Kaia von oben bis unten. Er wankte auf Kaia zu, und sie konnte seinen sauren Atem riechen. Er fasste nach ihrem Kleid, bekam ihre Schürze zu fassen und versuchte, Kaia zu sich heranzuziehen. Sie löste die Schleife, die ihre Schürze zusammenhielt. Enrics Kumpan hielt nur noch den Stoff in seinen Händen – Kaia war längst im Haus. Sie rannte durch die Gänge – nicht auf direktem Weg in die Küche, wo es mehrere Sackgassen geben würde, sondern die Stufen hinauf, durch die langen Flure, auf der anderen Seite die Stufen wieder hinab bis an die Abzweigung zur Küche. Sie lehnte sich gegen die Wand und versuchte, sich zu sammeln. Sie lauschte, doch das Blut, das in ihren Ohren rauschte, übertönte alles. Fast hätten sie es getan. Fast wäre sie nicht mehr davongekommen. Sicherlich hatten sie heute schon eine der Mägde aufgesucht, und Kaia hatte einfach nur Glück gehabt, dass sie noch nicht an der Reihe gewesen war.
Schritte. Direkt neben ihr. Kaia schrak hoch. Georgi stand neben ihr. »Beim Einzigen, Mädchen, was ist denn mit dir los? Du guckst mich an, als wäre ich der Schwarze höchstpersönlich!«
Bilder des Todesengels mit dem schönen Gesicht schoben sich in Kaias Gedanken. Doch die hatten hier nichts zu suchen, nicht in diesem düsteren Haus. »Enric«, stieß sie hervor. »Er hat wieder Freunde da, und …«
»Ah. Brauchst nicht weiterreden, ich kann es mir denken.« Georgis ohnehin runzeliges Gesicht zog sich noch mehr zusammen. »Haben sie dich auch schon erwischt?«
Kaia starrte ihn mit offenem Mund an. Enric und seine Freunde hatten sie verprügelt, ja, und mehr als einmal den Arm verdreht, ja … aber das, was Georgi da andeutete … Sie konnte nichts sagen, nur den Kopf schütteln.
»Dein Glück. Du solltest heiraten. Vierundzwanzig Jahre, Mädchen. Kein Wunder, dass die Kerle dich als Freiwild ansehen.«
Kaia fand ihre Sprache wieder. »Vielleicht bin ich auch bald einfach zu alt und hässlich für die.«
Georgi schmunzelte. »Das wird noch lange dauern, Kindchen.«
So viel Fürsorge sprach aus seiner Stimme, dass in Kaias Augen Tränen aufstiegen.
»Komm her, Kindchen.« Er machte Anstalten, sie in die Arme zu nehmen.
Sie wich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich kann nicht … Nicht nachdem … Es tut mir leid.«
»Brauchst dich nicht entschuldigen, Kleines. Ich versteh das. Wenn du wieder Schwierigkeiten mit den Kerlen hast, sag mir Bescheid, ja? Ich werde dir helfen.«
»Danke, das ist sehr lieb von dir.« Kaia lächelte unter Tränen. Gleichzeitig wusste sie, dass sie das niemals tun würde. Eher
würde sie sich vergewaltigen lassen, als dass sie Georgi in Gefahr bringen würde. »Ich geh dann mal in die Küche, etwas für Tante Iselda holen.«
»Sie ist aufgewacht? Oh wunderbar.« Georgi klatschte in die Hände. »Nach dem, was sie geleistet hat – ehrlich, ich glaube, ich wäre drei Wochen lang ohnmächtig.«
»Ihr beide. Ihr habt doch zusammen Schnee geräumt.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Nein, Kindchen, das war deine Tante ganz allein.«
Kaia runzelte die Stirn. »Allein? Den riesigen Hof? Das ist nicht möglich.«
»Habe ich auch gedacht. Aber sie hat mich in den Stall geschickt und allein weitergemacht. Es sei denn, der Winter hat ihr geholfen.«
»Der Winter? Wie meinst du das?«
»Hat dir Iselda nicht die Sage vom Winter erzählt?«
Kaia überlegte. »Vor langer Zeit, als ich noch klein war. Ich erinnere mich kaum.«
»Nun ja …« Georgis Stimme sank zu einem Flüstern. »Alte Märchen, alles nur Fantasie … aber die Sage geht, dass es neben Vala noch eine weitere Welt gibt. Die Welt der Götter. Sie beherrschen die Jahreszeiten. Und immer, wenn ein Winter besonders lange dauert, sagt man, dass Poriaz auf Vala weilt.«
»Na, diesen Winter war Poriaz auf jeden Fall hier«, schnaubte Kaia. »Sechs Monate? Er hat wohl nicht genug bekommen, was?« Nach dem Schrecken von eben war so ein Kichern merkwürdig befreiend.
Georgi lachte nicht. »Es ist natürlich nur eine Legende, und der Einzige duldet keine Götter neben sich, aber … nun ja, sagt man nicht, dass Legenden auch immer ein Körnchen Wahrheit enthalten?« Er ging und ließ Kaia verwirrt zurück. Ihr Glaube galt dem Einzigen und durfte nicht erneut wanken. Doch in Zeiten, in denen der Winter sechs Monate dauerte und von
den heißen Sommern ihrer Kindheit keine Spur übrig geblieben war … Zeiten, in denen ein geheimnisvoller Fremder sie aus dem Fluss gezogen und scheinbar gefroren und wieder getrocknet hatte … Wer wusste denn schon, ob es nicht neben dem Einzigen weitere Mysterien gab?
Genug. Sie war nicht hier, um über Mysterien nachzudenken. Von Wundern würde ihre Tante nicht wieder zu Kräften kommen. Kaia huschte in die Küche, stahl zwei Rosinenschnecken frisch vom Blech und rannte zurück durch die Gänge. An der Abzweigung zu den Quartieren der Küchenmägde stieß sie mit Fiora zusammen, die aus ihrer Kammer trat. Ihre Freundin war erst fünfzehn, und doch wirkte sie oft erwachsener, als Kaia sich fühlte. Heute allerdings war Fiora weit von ihrem erwachsenen Ich entfernt. Ihr blonder Zopf hatte sich beinahe aufgelöst, ihre Kleidung war zerknittert und ihre Augen aufgequollen, als hätte sie geweint.
»Was ist denn passiert?« Kaia zog Fiora zurück in die Kammer. »Hier, iss erstmal was.« Sie drückte ihr eine Rosinenschnecke in die Hand.
Fiora machte halbherzig Anstalten, wieder gehen zu wollen, doch Kaia hielt sie fest. »Erzähl, was passiert ist. Es drinnen zu behalten, schadet nur.«
»Es ist schon in Ordnung«, murmelte Fiora. »Ich habe noch genug getrocknete Petersilie vom letzten Herbst, das reicht für einen starken Trank. Ich muss nicht befürchten, schwanger zu werden.«
Kaias Mund klappte auf. Gleichzeitig wurde ihr vor Mitleid beinahe schwindelig. »Du meinst …«, flüsterte sie. »Er hat dich erwischt?«
»Beide.« Fiora legte die Rosinenschnecke auf ihren Nachttisch, auf dem einige Münzen lagen. »Immerhin haben sie bezahlt.«
»Beide?« Kaias Stimme war nur noch ein ängstliches Quieken. »Sie haben beide …«
»Ach, hör doch mit den Fragen auf!« Fiora hockte sich aufs Bett und zog die Knie zur Brust. »Willst du Einzelheiten? Soll ich dir genau erzählen, wie das abläuft, damit du vorbereitet bist, wenn sie dich in die Finger kriegen?«
Kaia konnte nur noch stumm den Kopf schütteln.
»So viel zum sündenfreien Leben, das Pfarrer Maius predigt«, sagte Fiora bitter. »Er sollte das lieber den Männern erzählen und uns Frauen nicht immer so hinstellen, als wären wir selbst schuld an unserem Schicksal.«
»Aber was können wir denn nur tun?«, flüsterte Kaia.
»Heiraten«, antwortete Fiora. »Bei einer verheirateten Frau würde das Schwein Enric wahrscheinlich haltmachen. Ich meine, es wäre zwar nur ein Knecht, der sich ihm entgegenstellt, aber immerhin ein anderer Mann und nicht nur eine Frau.«
Jetzt war ein schlechter Zeitpunkt, um sich über das »nur
eine Frau« zu beschweren, befand Kaia. »Ein Knecht? Hast du denn jemanden in Aussicht?«
Fiora nickte. Sie nahm ihre Rosinenschnecke und biss hinein. »Milo vom Nachbarhof. Er ist groß und stark … vom Auftreten her steckt er das Schwein locker in die Tasche. Und der Grips … ich brauche keinen mit Verstand, sondern einen, der zuhaut, wenn es drauf ankommt. Wenn Milo lange genug nicht mitkriegt, was Enric bei uns so treibt, habe ich vielleicht eine Chance. Mit sechzehn darf ich heiraten. Ich muss nur noch ein knappes Jahr durchhalten. Von Enrics Geld spare ich mir ein bisschen was zusammen, und vielleicht kann ich dann mit Milo eine neue Anstellung suchen. Weit weg von hier.«
»Wie du so ruhig darüber nachdenken kannst! Schon beim Zuhören würde ich Enric am liebsten den Hals umdrehen! Wie muss es sich erst für dich anfühlen?«
»Widerlich natürlich, was glaubst du denn? Was soll ich denn machen? Wenn ich nur ernsthaft darüber nachdenken würde, was dieser Mann tut, müsste ich entweder ihn oder mich umbringen!«
Kaia setzte sich zu ihr aufs Bett und wollte sie in den Arm nehmen, doch dann erinnerte sie sich an ihre eigene Scheu, nachdem sie Enric begegnet war. Nein, körperlicher Kontakt war sicherlich nichts, was Fiora jetzt brauchte. Aber wie konnte sie ihr nur helfen? »Wenn es irgendetwas gibt, das ich für dich tun kann«, flüsterte sie.
Fiora stieß ein freudloses Lachen aus. »Die Männer eine Runde lang auf dich nehmen, damit ich mal eine Pause bekomme?« Sie verdrehte die Augen. »Wohl kaum.«
Kaia konnte kaum ihre Tränen zurückhalten. So gern sie helfen wollte – diese Art von Hilfe würde sie nicht zustande bringen. Sie räusperte sich. »Ich geh dann mal besser. Ruh dich aus, Fiora. Ich übernehme deine Spätschicht in der Küche, ja?«
Fiora antwortete nicht. Kaia stand auf, schlich zur Tür und huschte hinaus. Als sie die Tür leise schloss, klang ein dumpfes »Danke« von drinnen.
Sie ließ den Tränen freien Lauf, als sie durch den Hof zum Nachbargebäude stolperte. Die Treppen hoch, Tränen abwischen, Lächeln aufsetzen und hinein zu Tante Iselda. Ihre Tante saß auf dem Bett, die Tür fest im Blick. Als Kaia eintrat, sprudelten die Worte nur so aus ihrer Tante heraus, als hätte sie sie lange zurückhalten müssen: »Du solltest heiraten.«
Kaia ließ die Rosinenschnecke, die sie ihr hingehalten hatte, sinken. »Heiraten. Ich.« Ihr Magen drehte sich bei dem Gedanken um, einen Mann in ihre Nähe zu lassen, aber sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie hielt ihrer Tante das Gebäck hin. »Iss erst einmal, damit du wieder auf die Beine kommst. Das mit dem Heiraten besprechen wir ein andermal, ja?«
Ihre Tante nahm einen Bissen und schüttelte energisch den Kopf. »Du solltest nicht länger warten«, sagte sie mit vollem Mund. »Du bist vierundzwanzig und fast schon –«
»– eine alte Jungfer, ich weiß«. Kaia seufzte. »Na und? Du bist auch eine alte Jungfer, und es hat dir nicht geschadet.« Sie gab ihrer Tante einen liebevollen Kuss auf die Stirn.
»Das war wohl kaum eine Wahl, die ich freiwillig getroffen habe«, knurrte Tante Iselda. »Wenn deine Schwester dich plötzlich mit einem Säugling zurücklässt, welcher Mann will dich dann noch?« Sie seufzte. »Ich will doch nur, dass du abgesichert bist. Dass dir nichts passiert. Dass du nicht an einen Mann gerätst, der … nun, der nichts für dich ist.«
»Dazu müsste es erstmal einen geben, der etwas für mich ist. Je mehr Männer ich kennenlerne, desto geringer scheint mir die Chance.«
Ihre Tante setzte sich auf. »Je mehr Männer du kennenlernst? Was meinst du damit?« Sie sah Kaia aus aufgerissenen Augen an.
Kaia runzelte die Stirn. »Nichts. Ich meine, ich bin heute Enric und einem seiner Saufkumpane begegnet, und wenn es das ist, was die Männerwelt bereithält, dann danke nein.«
Tante Iselda schien aufzuatmen. »Ich bin mir sicher, da draußen gibt es irgendwo einen netten Mann, den du nicht mit Enric vergleichen musst.«
Kaia lächelte in sich hinein. Oh ja, da gab es einen, den sie nicht vergleichen musste. Nicht vergleichen konnte,
denn aus Reas wurde sie nicht schlau. In einem Moment war er der mysteriöse Fremde, der eine einzigartige Magie auszustrahlen schien, im nächsten ein kleiner Junge, der nur Flausen im Kopf hatte. Er hatte ihr vorgeworfen, dass sie ihn nicht gesehen hatte, und doch hatte er sie im nächsten Moment stehen gelassen. Nachdem einige unerklärbare Dinge ihren Lauf genommen hatten …
»Einen bodenständigen,
jungen Mann.« Tante Iseldas Stimme ließ ihre Tagträume wie Seifenblasen platzen. »Du brauchst jemanden, der für dich sorgen kann und nicht einen, der dein Leben durcheinanderbringt.«
Kaia seufzte. »Ich brauche einen, der mich hier rausholt, und sei es nur in meinen Träumen.«
Sie küsste Tante Iselda erneut. »Bitte fange nicht meinetwegen an zu weinen, es gibt keinen Grund dafür. Du brauchst dir um mich keine Sorgen machen.«