Kapitel 8 – Kaia
Nebelschwaden zogen über die feuchte Wiese, als Kaia sich auf den Weg zum Fluss machte. Hier wollte Reas sie treffen, heute Nacht. Es war geradezu lächerlich einfach gewesen, sich fortzuschleichen. Alles schlief, und auch sie sollte schlafen, denn morgen lag ein anstrengender Tag vor ihr. Stattdessen würde sie mit ihm tanzen. Kaia schlang die Arme um ihren Körper, da sie in der kalten Luft fröstelte. Tanzen, am Flussufer. Nachts. Hier stimmte doch was nicht. Wenn ein Mann eine Frau nachts aus dem Haus lockte, hatte er sicher nichts Gutes im Sinn. So sehr sie Reas vertrauen wollte – Männer wie Enric und seine Freunde hatten sie zutiefst misstrauisch gemacht.
Sie sollte umkehren. Es konnte nichts Anständiges sein, nicht um diese Uhrzeit, nicht sie beide allein. Doch als sie ihn dort am Ufer stehen sah, in seinem reinweißen Wollmantel, das graue Haar vom Mondlicht in Silber verwandelt … Sie fühlte sich, als würde sie nach Hause kommen. Als wäre sie nirgends so sicher wie hier, bei ihm.
Er schaute zur Seite, hatte sie anscheinend nicht bemerkt. Er lächelte ein zaghaftes Lächeln und schien ein wenig nervös zu sein, was sie sich nicht erklären konnte. Er war ihr in allem überlegen – sein Stand, seine Größe, seine Schönheit, seine Körperkraft – sie sollte diejenige sein, die Angst verspürte, nicht er. Sie kam näher und konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Seine Augen lagen schwarz im Schatten seines Gesichtes, doch als er sich ihr zuwendete und das Mondlicht sein Gesicht traf, schimmerten sie in einem dunklen Silber.
Nebelschwaden krochen um seine Füße und schmiegten sich um ihre Beine. Sie zuckte kurz zusammen, denn dieser Nebel trug keine frühlingshafte Ahnung von Wärme in sich – es war das Eis des Winters. Sie zog ihre wollene Mütze tiefer ins Gesicht und wickelte ihr Schaltuch enger um die Schultern. Zum Glück trug sie unter ihrem Kleid zwei Hosen, Reas hatte sie schließlich gewarnt, dass es kalt werden könnte. Und sie wollte die wenige Zeit, die sie mit ihm verbringen durfte, nicht mit klappernden Zähnen dastehen.
»Ist dir warm genug?« Seine Stimme streifte sie mit einer zärtlichen Sorge, die kalte Schauer ihren Rücken hinunterjagte.
Sie konnte nur nicken. Sie blinzelte hektisch, als wäre sie in einem Traum und sollte schleunigst wieder aufwachen. Aber vielleicht wollte sie das überhaupt nicht. Sie starrte ihn weiter an. Er hob seine Arme, und was im Tageslicht merkwürdig ausgesehen hätte, trug die Magie einer Mondnacht mit sich. Der Nebel fing an zu steigen. Er verhüllte die Landschaft in einem zartgrauen Tuch. Ein einsamer Vogel zwitscherte, doch Reas brachte ihn mit einer kurzen Handbewegung zum Schweigen.
Unsinn. Natürlich war es nicht Reas gewesen, der dem Vogel befohlen hatte, still zu sein. Die Nacht senkte sich über das Land, und alle Lebewesen schliefen. Der Vogel schwieg nicht, weil ihn ein Zauber getroffen hatte, sondern reagierte auf den nächtlichen Frost, der so plötzlich hereingebrochen war. Kaia wandte sich ab und war überrascht, dass es ihr gelang. Sie hatte damit gerechnet, dass Reas’ Blick sie festhalten und ihren Willen lenken würde, wie damals vor zehn Jahren, als sie auf ihn zugegangen war, statt zu flüchten.
Sein Blick hielt sie nicht fest, aber seine Stimme. »Kaia?« Wieder diese Unsicherheit. »Kannst du mich noch sehen?« Eine Sorge schwang in seiner Stimme mit, die sie nicht einordnen konnte. Natürlich konnte sie ihn sehen, was sollte die Frage? Sie drehte sich um. Er blickte sie erwartungsvoll an. »Nun … der Tanz? Wir wollten tanzen.« Er holte tief Luft, als hätte sich der Nebel um seine Brust gelegt und würde ihm den Atem nehmen. Nein, der Nebel nahm ihm nicht den Atem – der Nebel war sein Atem. Er verdichtete sich an ihren Füßen, und alles, was sie spürte, war diese unheimliche Kälte. Winter. Winter im Frühling.
»Bereit?«
Nein, sie war nicht bereit. Nicht für einen Tanz, nicht hier, allein mit ihm. Nicht bereit, Gefühle für ihn zu entwickeln, die sie nicht haben sollte …
Sie nickte nur. Reas kam näher. Bald konnte sie seine Präsenz beinahe körperlich spüren, obwohl der Nebel sie trennte. Er hielt die Arme so, als würde er sie in einer Tanzhaltung führen, doch bis auf die Kältestrahlung seiner Haut spürte sie keine Berührung. Vor Kälte fühlte sie den Erdboden nicht mehr, und es war ihr, als würde sie schweben. Sie bewegte ihre Zehen und streckte ihre Füße aus – doch da war nichts. Kein fester Boden unter ihren Füßen.
Reas lächelte zaghaft. Er hob einen Arm, als würde er sie in eine Drehung führen. Der Nebel erfasste sie und drehte sie um ihre eigene Achse, einmal, zweimal. Das war nicht richtig. So etwas durfte nicht passieren. In einer Welt, in der der Einzige regierte, durfte es so etwas nicht geben. Das musste das Werk des Schwarzen sein, der –
Reas verschwand. Vor ihren Augen löste er sich in Nebel auf. Kaia wollte nach ihm greifen, doch der Dunst schmolz unter ihren Fingern. Sie riss die Augen auf, als könnte sie ihn dadurch wieder sichtbar machen, doch er blieb verschwunden. Kaia spürte feuchtes Gras unter ihren Füßen. Der Nebel versickerte im Erdreich, nur über dem Fluss war er noch als dünner Schleier zu sehen. Das durfte nicht wahr sein. Reas, verschwunden, durch sie. Sie wollte den Gedanken verwerfen, sicher war Reas nicht durch sie verschwunden. Sie war nur ein Mensch, und hier waren offensichtlich höhere Mächte am Werk, die weitaus stärker waren als sie. Andernfalls hätten sie nicht beim Tanzen geschwebt … Sie als einfacher Mensch konnte sicher nicht ein übernatürliches Wesen bannen.
Doch das Bild des Kirchplatzes erschien in ihrer Erinnerung. Reas, in Rauchschwaden gehüllt. Reas, der verschwunden war, als sie den Namen des Einzigen gerufen hatte. Als sie sich ihrer Angst vor einem grausamen Gott hingegeben hatte, anstatt den Mann zu sehen, der vor ihr stand. Sie hatte ihn natürlich mit den Augen gesehen, aber nicht mit ihrer Seele. Als sich ihr Inneres vor Reas’ Präsenz verschlossen hatte, war sein Bild erloschen und zehn Jahre lang nicht wieder aufgetaucht. Das hatte er gemeint mit »Du wolltest mich nicht sehen.« Nun verstand sie seine Worte. Sie verstand, und es war zu spät.
Die Situation war offensichtlich: Sie hatte die Wahl, hatte sie immer gehabt. Entweder sie entschied sich für den Einzigen und seine Angst oder für Reas – und die verwirrten Gefühle, die ihr Herz gefangen hielten, wenn er anwesend war. Reas war seit wenigen Augenblicken verschwunden, und doch kam es ihr vor, als hätte er ihr Leben auf immer verlassen. Das wollte sie nicht. Egal, was passieren würde, sie wollte nicht ohne ihn sein. Konnte nicht ohne ihn sein.
Ein Platschen ertönte hinter ihr, im Fluss, als wäre ein Fisch gesprungen. Sie fuhr herum. Solche großen Fische gab es hier nicht. Ein Arm tauchte aus dem Wasser auf und ergriff das lange, kräftige Gras am Flussufer. Noch ein Arm. Reas zog sich am Gras halb die Uferböschung empor. Sein grauer Mantel drohte, vom Fluss fortgerissen zu werden. Noch ein Zug, gegen die gewaltsame Strömung, und Reas lag vor Nässe triefend am Ufer.
Kaia rannte zu ihm. »Bist du in Ordnung? Fehlt dir was?« Lieber nicht darüber nachdenken, wie er sich vor ihren Augen aufgelöst hatte und im Fluss wieder aufgetaucht war.
Er zog die Knie an die Brust und rollte sich auf die Seite. Dann hustete er Wasser aus. »Dieser verdammte Menschenkörper«, stöhnte er, aber vielleicht hatte Kaia ihn nicht richtig verstanden.
Reas kam schwer atmend auf die Knie. Kaia beugte sich zu ihm und zog ihn hoch. Er schwankte, dann fand er sicheren Stand. Er sah in ihre Augen und flüsterte: »Tu das nie wieder. Bitte.« Seine Augen bekamen einen wilden, fiebrigen Glanz. »Zweifle nie wieder an mir, Kaia.« Mit ungelenken Bewegungen, als würde jemand anderes seinen Körper lenken, zog er sie an sich heran, und diesmal spürte sie ihn. Den nassen Wollstoff auf seiner Haut, die Formen seines Körpers unter dem Mantel, seine Arme, die sie festhielten. Die Lippen, die sich ohne jegliche Vorwarnung auf ihre pressten, als müssten sie den Atem des Lebens trinken. Sein Mund drängte sie, forderte ein, was sie nur zu willig zu geben bereit war. Ihr Widerstand, der ohnehin wie eine Schneeflocke im Wind taumelte, brach. Sie schmiegte sich an ihn und gab sich dem Kuss hin.
Abrupt löste er sich aus dem Kuss. Sein Körper versteifte sich, als würde er gegen einen unsichtbaren Gegner kämpfen. Er keuchte, und sein Atem kam in zitternden Stößen. Er schüttelte den Kopf. Seine Schultern sanken herab und er lehnte seine Wange an ihre. Seine silbrigen Strähnen, die hinter ihm auswehten, dufteten nach Schnee und kitzelten ihre Wangen. Wenn sie dachte, er würde sie loslassen, hatte sie sich geirrt. Er hielt sie fest umschlungen, bis die Nässe auch ihre Kleider durchdrungen hatte. »Ich kann das nicht«, murmelte er. »Ich kann das nicht. Mögen die Götter und die Menschen mir vergeben.«
Der Boden verschwand, ein eisiger Sturmwind hatte sie beide emporgerissen. Kaia klammerte sich an Reas, als ihr gefrorenes Kleid knisterte und ihre Haut von einer spröden Eisschicht überzogen wurde. »Habe keine Angst«, wisperte Reas an ihrem Ohr. »Alles, nur keine Angst.«
Wie sollte sie das schaffen? Die Kälte presste das Leben aus ihr heraus, sie schwebte über dem Erdboden und würde wahrscheinlich gleich abstürzen – wie sollte sie keine Angst haben?
Wie um ihre Frage zu beantworten, klang seine Stimme wie Samt in einer gläsernen Kälte. »Vertrau mir.«
Konnte sie … Ja! Zweifel hatten ihr Reas beinahe erneut entrissen. Sie musste aufhören zu zweifeln, und anfangen, ihm zu vertrauen. Sie löste eine der beiden Hände, die sie in Reas’ Mantel gekrallt hatte, und strich ihm über das Haar. »Ich vertraue dir.« Der Sturm ließ nach. Die eisige Umklammerung der Kälte war gebrochen. Der Nebel drehte sie nicht mehr in einem wilden Reigen, sondern trug sie sanft dahin. Reas’ Körper strahlte keine Kälte mehr aus, sondern eine sachte Wärme, die zusammen mit dem milden Wind ihre Kleidung trocknete. Sein Haar duftete nach frischem Gras, als hätte der Frühling den Winter abgelöst. Kaia schmiegte sich an ihn. Die Welt rückte in den Hintergrund. Es gab nur noch sie beide. Und wenn es nach ihr ging, konnte es ewig so weitergehen.
Plötzlich spürten ihre Füße wieder festen Boden. Reas hielt sie im Arm, als wollte er sie nie wieder loslassen. Er holte tief Luft, und sie spürte, wie sich sein Brustkorb an ihren Körper presste. Ein leises Stöhnen entwich seinen Lippen. Plötzlich löste er die Umarmung abrupt und trat einen Schritt zurück. Er hatte die zitternden Lippen leicht geöffnet und schüttelte ungläubig den Kopf. Sein Brustkorb hob und senkte sich schnell. Seine Lippen bewegten sich, als wollte er etwas sagen, doch kein Laut kam. Er schluckte schwer, und seine Nasenflügel bebten. Sein silberner Blick war von einem dunklen Schatten eines endlosen Schreckens getrübt. »Das hier … Kaia … Was … Was geschieht mit mir?« Er taumelte.
Kaia griff nach ihm, doch sie konnte ihn nicht halten, als seine Beine nachgaben. Er sank zu Boden. Als sein Gesicht die taubedeckte Wiese berührte, schlossen sich seine Augen.