Kapitel 16 – Reas
Das Bett war ein schöner, weicher Platz. Hier gefiel es der Taube gut. Sie konnte im Zimmer umherschauen, aber sich auch halb unter einem Kissen verbergen, wenn sie genug hatte von der neuen Umgebung. Einmal war sie eingeschlafen, in der Ecke zwischen dem Kopfkissen und der Wand, und hochgeschreckt, als jemand das Zimmer betrat. Durch die schnelle Bewegung zuckten Pfeile aus Schmerz durch ihren Flügel, wie damals, als sie vom Himmel gestürzt war. Aber nun war sie sicher. Sie verstand nicht, was um sie herum vorging, aber sie wusste, dass sie bei diesem Mädchen sicher war. Es würde darauf aufpassen, dass ihr nichts passierte. Deswegen war es wichtig gewesen, dass es sie nicht bei ihren Artgenossen zurückgelassen, sondern mit zu sich genommen hatte.
Dieses Mädchen kam nun zur Tür herein. Draußen war es längst dunkel, doch die Taube konnte die Schritte hören und richtig zuordnen, selbst wenn sie kaum etwas sehen konnte. Ihr kleines Herz hüpfte in freudiger Erwartung. Sie mochte das Mädchen. Sie mochte es sogar sehr. Es war, als kannten sie sich schon viel länger, als wäre ihr Leben ohne das Mädchen unvollständig. Und nun war es zurück. Bald würde es sie wieder auf den Arm nehmen und ihr Gefieder streicheln, und dann würde nichts anderes mehr zählen. Bei dem Gedanken daran fing die Taube an zu gurren, und ihr Brustkorb leuchtete mit einem schwachen, goldenen Licht. Es erhellte die Ecke des Kopfkissens, strahlte aber nicht zu dem Mädchen hinüber, das sich bestimmt über ein solch hübsches Licht freuen würde.
Bei dem Gedanken daran wurde das Licht heller. Die Umrisse der Kammer wurden sichtbar, genau wie die des Mädchens, das am Waschtisch stand und seine Hände in das Wasser
tauchte. Es wusch sein Gesicht, dann seinen Hals. Dann nahm es das Schultertuch ab und zog sich das Kleid über den Kopf. Sein Unterkleid schmiegte sich an seine Körperform, genau wie die Taube ihren Kopf angeschmiegt hatte. Das Mädchen kam herüber zum Bett. Es erstarrte, als es das Licht sah. Es setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Die Taube kam hinter dem Kopfkissen hervor, stapfte herüber zu dem Mädchen, kletterte auf sein Bein und schmiegte ihren Kopf an seine Seite. Nun würde das Mädchen sie sicher streicheln. So ein schönes, goldenes Licht … Nun gesellte sich sogar ein schwachrotes Pulsieren dazu. Das würde dem Mädchen gefallen.
Das Mädchen hielt sich mit den Händen an der Bettkante fest. Die Taube kletterte an einem Arm empor und lehnte ihren Kopf an die Brust des Mädchens. Sie hörte seinen Herzschlag. Schön war das. Wie ihr eigener Herzschlag, der immer schneller wurde. Dies hier war etwas, nach dem sie sich gesehnt hatte, obwohl sie keine Erinnerungen an die Nähe zu einem Menschen hatte. Jedenfalls keine solche Nähe. Das rote Leuchten wurde intensiver. Keine Nähe wie diese hier … Körper an Körper. Sie wünschte sich, das Mädchen würde erneut ihr Gefieder streicheln, wieder ihren Kopf küssen, mit diesen sanften Lippen, die sie schon einmal berührt hatte –
Kaia sprang zurück und erstickte ihren Schrei mit den Händen. »Du … du …« Sie starrte die Taube an, als hätte sie sie nie zuvor gesehen. Die Taube folgte ihrem Blick und sah einen nackten Brustkorb, der sich mit einem viel zu schnell pochenden Herzen hob und senkte. Zwei Arme, von denen einer in einem seltsamen Winkel abstand, Schmerzen durch seinen Körper und Tränen in seine Augen schoss. Zwei Beine, und –
Reas versuchte, mit seiner Hand das zu bedecken, was Kaia Angst machte. Verdammt, es machte ihm
Angst! Was passierte mit ihm? Er schlug die Beine übereinander und beugte sich nach vorne, damit Kaia nicht sehen musste, was zwischen seinen
Beinen wuchs. »Es … es tut mir …« Seine Sprache versagte. Er schluckte. Tief durchatmen. Nicht an das Gefühl denken. Nicht an seinen Kopf an Kaias Brust denken. Nicht … »Oh nein ...« Seine Hand war nass, und die weiße Flüssigkeit, die aus ihm heraustrat, benetzte nun auch seine Beine. Er war nicht vertraut mit menschlichen Ausscheidungen – er war nie menschlich genug dafür gewesen – doch nun wusste er, warum Menschen dafür einen Ort aufsuchten, an dem sie allein waren. Angenehm war das nicht, aber wenigstens hatte der Druck nachgelassen.
Kaia hatte inzwischen ihre Stimme wiedergefunden. »Du … du wagst es …« Ihr Atem ging schwer, und zusammen mit dem Funkeln in ihren Augen weckte dies Gefühle in Reas, die anscheinend unangebracht waren – vor allem, da sich ihre Wut gegen ihn zu richten schien. »Du … wagst es, hier aufzukreuzen … nach allem … nach allem, was passiert ist?« Sie schien mehr mit seinem Körper zu sprechen als mit ihm. Reas runzelte die Stirn.
»Wie kannst du nur?« Kaia blickte ihm wieder in die Augen. Es schien sie all ihre Willenskraft zu kosten. Sie senkte ihre Stimme zu einem leisen Zischen. »Wie kannst du … mir das antun?« Sie betrachtete ihn kopfschüttelnd, und ihr Blick streifte wieder seine Beine und –
Sie schloss die Augen und holte tief Luft. Dann rieb sie sich mit den Händen über die Augen und griff nach ihrem Schultertuch. »Bedecke dich wenigstens.« Sie warf ihm ihr Schultertuch zu. Dann trat sie einige Schritte zurück und stützte sich auf den Waschtisch.
Reas legte sich das Tuch über die Beine und sah Kaia hilflos an. Was hatte sie nur? Was hatte er falsch gemacht? Phobos’ Worte drangen wie aus weiter Ferne an sein Ohr: »Was ist mit der Angst des Menschenmädchens? Du nährst sie, indem du ihr Hoffnungen machst und sie dann wieder verlässt. Du hast ihr
Vertrauen so stark erschüttert, dass sie nie wieder ohne Angst lieben kann.« War es das, was sie ihm vorwarf? Glaubte sie …
Sie schnappte sich ihr Kleid, zog es über und drehte sich wieder zu ihm um. »Bewege dich nicht von der Stelle«, sagte sie mit anklagend ausgestrecktem Zeigefinger. »Ich bin noch nicht fertig mit dir.« Sie verließ den Raum.
Reas saß da und wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Er hatte es endlich geschafft, er war hier, bei Kaia, endlich wiedervereint – doch das Wiedersehen war gänzlich anders abgelaufen, als er sich es ausgemalt hatte. Sein Körper war erschöpft, sein Arm schmerzte, dass es ihm fast den Verstand raubte, sein Inneres war aufgewühlt, sein Kopf glühte … Er stand auf, legte Kaias Tuch sorgfältig zusammen und trat hinüber an dem Waschtisch. Mit einer Hand schöpfte er sich kaltes Wasser ins Gesicht. Welche Wohltat! Es ging ihm gleich besser. Mehr Wasser. Mit der Hitze in diesem so fremd wirkenden Menschenkörper vertrieb die Kälte auch die Unsicherheit. Er fühlte sich langsam wieder wie er selbst, wie sein früheres menschliches Ich – abgesehen von dem gebrochenen Arm, der zwar heilte, aber immer noch zu langsam. Es würde sicher noch die ganze Nacht dauern, bis er diese menschliche Hülle wieder vollumfänglich würde nutzen können.
Die Tür öffnete sich. Reas fuhr herum. Kaia ließ die Kleidung, die sie in den Händen hielt, fallen. »Verflucht, Reas!«, flüsterte sie. Sie schloss die Tür und sammelte die Kleidung ein. »Verstehst du das unter ›bewege dich nicht von der Stelle‹?« Ohne ihn anzusehen, drückte sie ihm die Kleidung in die Hand. »Sachen von Felis, die dürften dir passen.«
Reas spürte, wie seine Wangen glühten. Er nahm die Kleidung entgegen und schlüpfte hinein.
»Fertig?«, grummelte Kaia.
Er nickte, dann fiel ihm ein, dass sie das nicht sehen konnte. »Ja.«
Er ging wieder zum Bett und setzte sich. Kaia lehnte sich gegen den Waschtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nun?« Als er nicht antwortete, stemmte sie die Hände in die Hüften. »Was hast du mir zu sagen?«
Reas musste prüfen, ob Phobos mit seinen Vermutungen recht hatte. »Ich habe dir Hoffnungen gemacht und dich verlassen. Das hat dein Vertrauen zerstört.«
»Messerscharf kombiniert«, antwortete Kaia bitter. Ihr zorniger Gesichtsausdruck wurde verzweifelt. »Und sonst nichts? Mehr fällt dir nicht dazu ein?«
»Es tut mir leid.« Wenn sie nur wüsste, wie sehr es ihm wirklich leidtat. Wenn das die Wahrheit war und er ihr Vertrauen zerschmettert hatte, sodass sie nie wieder lieben konnte – welch furchtbares Verbrechen hatte er begangen! Welche Schuld hatte er auf sich geladen! Ein eiserner Ring legte sich um seine Brust, und er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er atmete tief durch. Er musste es erklären. Sie musste verstehen. Nur so konnte sie mit dieser Wahrheit leben … und ihm vielleicht eines Tages vergeben.
»Das ist alles?« Kaia blickte ihn ungläubig an. »Mehr nicht?«
»Doch.« Reas blickte sie freimütig an. »Was ich getan habe, hatte einen Grund. Ich will dir alles erklären … wenn ich darf.« Er hielt den Atem an.
»Ich bin gespannt.« Kaia ließ die Arme sinken.
Wo sollte er anfangen? »Am Anfang … als du mich gesehen hast. Du warst noch ein Kind.«
Sie nickte. »Du warst da, jeden Sonntag. Und dann nicht mehr.«
»Weil du nicht mehr an mich geglaubt hast. Das ist der einzige Grund, den die Anemoi kennen. Menschen sehen uns nur, wenn sie an uns glauben. Was war passiert? Denk nach!« Er wollte sie nicht drängen, doch er musste es wissen.
»Ich habe Pfarrer Maius über dich ausgefragt. Ich dachte …« Sie wirkte beinahe verlegen. »Ich dachte, du wärst ein Engel des Einzigen.«
»Das wäre ich fast geworden«, entgegnete er düster. »Der Einzige, weißt du, wer das ist? Das ist Phobos, der Gott der Angst. Einer aus unseren Reihen, der nun versucht, Vala zu unterwerfen. Und Hemera. Der Pfarrer ist ihm schon lange zum Opfer gefallen. Der schwarze Schatten der Angst begleitet ihn, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen habe.« Nur, wo war das gewesen? Ihm fiel ein, wie der Pfarrer ihn zu erkennen geglaubt hatte, als er in Bettlerkleidung vor ihm gestanden hatte. Und auch er, Reas, glaubte, ihm früher schon einmal begegnet zu sein.
»Und doch hast du beim Pfarrer im Armenhaus gelebt«, unterbrach Kaia. »Wie bist du nur dorthin gelangt, Reas? Und warum bist du zu ihm zurückgekehrt?«
»Meine Brüder.« Reas spürte, wie Tränen in seinen Augen aufstiegen. »Phobos hat meine Brüder in seiner Gewalt.«
Er erzählte ihr alles. Bis auf wenige entrüstete Zwischenrufe schwieg sie. Als er von seiner Zeit in dem Brunnen berichten wollte, mit welchen Vorwürfen Phobos ihn quälte, winkte sie ab. »Es reicht. Mehr brauche ich nicht zu hören.«
Er musste es ihr sagen. Musste beichten, dass er am Tod ihrer Mutter schuld gewesen war. Nicht, weil er es absichtlich hatte herbeiführen wollen, sondern weil er einfach nicht verstanden hatte, was Gefühle mit den Menschen machten. Er musste wissen, ob er sie in die gleiche Gefahr gebracht hatte. Nun, da er ihr verbittertes Gesicht gesehen hatte, stieg eine Ahnung in ihm auf, was Ablehnung wirklich bedeuten konnte.
»Kaia, du –«
Sie hob die Hand. »Still. Ich muss nachdenken.«
Er sank auf dem Bett zusammen und starrte seine nackten Füße an. Was tat er hier eigentlich? Er saß auf diesem
Bett, in Menschenkleidung gehüllt, mit einem verletzten Arm, mit verwirrenden Gefühlen, die sich widersprachen und ihn keinen klaren Gedanken fassen ließen. Was war nur mit seiner Göttlichkeit passiert? Alles war so einfach gewesen. Nun dieses Leben, als Mensch … Fühlten sich die Menschen immer so … unvollständig? Er sah zu Kaia hinüber und stellte sich vor, wie es hätte sein können, wenn all die Trennungen nie gewesen wären. Sie beide hätten zusammen leben können, wie zwei Menschen. Seine Hülle war menschlich genug, und alles andere, das zu einem Menschenleben gehörte, konnte er sicherlich lernen.
Doch er hatte alles zerstört. Phobos hatte ihn dazu gebracht, die Liebe in seinem Leben zu verletzen, und diese Liebe heilte nicht einfach wie sein Arm innerhalb einer Nacht. Die Angst war stärker, selbst hier in diesem Raum. Phobos hatte Kaia in seiner Gewalt – die Angst würde sie nie wieder lieben lassen. Er betrachtete dieses Mädchen, das ihn geküsst hatte, als er noch ein Bettler gewesen war. Nun hatte er sein Gedächtnis wieder, seine Kräfte – sein Arm war beinahe verheilt – und doch war er ärmer als jener Bettler. Er hatte er das Wichtigste in seinem Leben verloren.
Er kämpfte gegen die Tränen an. Was machte es schon, wenn er seine Schwäche zeigte? Es war die Realität, er war schwach, ohne Kaia war er nur eine menschenähnliche Hülle ohne Gefühle. Das rote Pulsieren in seiner Brust erstarb. Das goldene Licht wurde schwächer. Er konnte kaum noch Kaias Gesicht erkennen. »Bitte verzeih mir«, flüsterte er. »Bitte verliere nicht den Glauben an die –« Seine Stimme brach.
Er erhob sich und räusperte sich, damit sie hören konnte, was er sagte. »Verliere nicht den Glauben an die Liebe. Nicht meinetwegen. Ich konnte nicht anders, Phobos hat mich gezwungen, mich zwischen denen zu entscheiden, die ich mehr als alles in der Welt liebe. Ich liebe dich, Kaia, ich habe dich geliebt, seit wir uns kennen. Doch ich sehe nun, dass ich dir
nicht guttue – nicht, solange Phobos dort draußen noch sein Unwesen treibt. Wenn du möchtest, gehe ich. Du bist noch jung, du kannst mich vergessen …« Er konnte nicht weitersprechen. Seine sorgsam zusammengehaltene Fassung stürzte in sich zusammen.
Sie trat zu ihm. »Möchtest du denn gehen?«
Wie konnte sie das nur fragen? »Niemals«, flüsterte er heiser. »Ich wollte es nie, und ich will es nie.«
Sie sah ihm lange in die Augen. »Ich stimme dir zu, es ist eine ungünstige Zeit für die Liebe.«
Seine Hoffnungen brachen. Er nickte langsam. »Verstehe.« Er warf einen letzten Blick auf sie und wandte sich zur Tür.
Sie ergriff seine Hand, und durch den Sturm aus Funken, den ihre Berührung verursachte, bemerkte er überrascht, dass sein Arm verheilt war. »Eine ungünstige Zeit«, wiederholte sie. »Doch die einzige Zeit, die uns gegeben ist.« Sie zog ihn zu sich heran und küsste ihn.