Kapitel 17 – Reas
Er schloss die Augen und ließ sich von einer Welle des Wohlgefühls überspülen. Er hatte sie nicht zerstört. Sie konnte noch lieben, zumindest versuchte sie es. Sie hatte verstanden, dass er nicht anders gekonnt hatte. Sie vertraute ihm, trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war. Er erwiderte ihren Kuss vorsichtig, um nichts kaputtzumachen. Die Bilder in seinem Kopf, wo sie nur das dünne Unterkleid trug, schob er beiseite. Vorsichtig, zärtlich. Nicht zu stürmisch. Seine Hände umfassten ihre Schultern und wanderten ihren Rücken hinunter. Ihre Lippen öffneten sich in einem leisen Stöhnen, das seine Gedanken rasen ließ.
Sie löste sich aus dem Kuss, und er öffnete verwirrt die Augen. Sie war einen halben Schritt zurückgewichen und zog die Bänder auf, die ihr Kleid im Nacken verschlossen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in schnellen Atemzügen.
Er ließ seinen Blick über ihren Körper wandern, dann wieder zu ihren Augen, die im schwachgoldenen Licht kastanienbraun schimmerten. »Bist du dir sicher?« Seine Stimme fühlte sich rau an.
»Nein.« Ihr Blick versank in seinem, als sie das Kleid zu Boden fallen ließ. Nur noch der dünne Stoff des Unterkleides bedeckte ihren Körper und er wusste nicht, wohin er schauen oder was er denken sollte, um sich zurückzuhalten. »Aber bevor du mich wieder verlässt, möchte ich neue Erinnerungen schaffen.« Sie schob ihn zum Bett. »Etwas, das mich an dich erinnert, wenn du fort bist. Ich will, dass du der erste bist.« Als das Holz gegen seine Waden drückte, setzte er sich aufs Bett. Sie beugte sich über ihn und küsste seine Stirn. Ihre Finger fuhren durch sein Haar, das silbern glänzend seinen Rücken hinabhing.
Seine Lippen liebkosten ihr Kinn, fanden ihren Hals und wanderten tiefer. Seine Zunge strich sanft über ihr Schlüsselbein. Noch nie in seinem Leben, egal ob Mensch oder Gott, hatte er so etwas Köstliches geschmeckt. Ihre Haut duftete nach dem süßesten Waldhonig, und dazu kam ein wilder Geruch, den er nicht einordnen konnte. Alles, was er wusste, war, dass es immer schwieriger wurde, an seinen klaren Gedanken festzuhalten. In ihm kämpfte Zärtlichkeit mit Lust, doch die Traurigkeit ihrer Worte überschattete alles. Er wollte schwören, dass er sie nie verlassen würde, niemals mehr. Doch es war eine ungünstige Zeit für die Liebe, und eines Tages mochte es so weit sein, dass sie ihn nicht mehr bei sich haben wollte. Er hatte das zuvor bei den Menschen beobachtet. Also sagte er: »Ich werde dich erst verlassen, wenn du es wünschst.« So, wie sein Atem bei diesen Worten über ihre Brust strich, stellten sich ihre Brustwarzen auf, und er umschloss sie zärtlich mit seinen Lippen.
»Das werde ich nie.« Sie presste sich an ihn und gemeinsam sanken sie auf das Bett.
Er zog ihr das Kleid aus, umfasste ihre Hüften und drehte sie so, dass sie unter ihm lag. Ein zögernder Blick in ihre Augen, und er sah seine Lust darin widergespiegelt. Hier und jetzt würden sie zu einer Einheit verschmelzen, und niemand konnte sie je wieder trennen. Seine Hände strichen an der Innenseite ihrer Beine entlang, bis sie die schmale Öffnung fanden.
Kaia schlang die Beine um ihn und drückte sich ihm entgegen. »Ich will dich in mir spüren«, hauchte sie in sein Ohr. »Dich, den Menschen Reas. Den Mann.« Er riss sich hastig die Hose vom Körper und dann hielten beide die Luft an, als er ihrem Wunsch nachkam. Ihr keuchender Atem ging im Einklang mit seinem, als beide sich zu einer Musik bewegten, die nur sie hören konnten. Draußen zog ein Sturm auf. Der Wind heulte zwischen den Dachbalken und ertränkte das Keuchen, das von
Reas’ Lippen kam. Kaias Lippen liebkosten sein Ohr, und Reas hörte nichts außer Kaias Atem, als der Sturm an den Fensterscheiben rüttelte. Seine Hüften bewegten sich schneller, und Kaia grub ihre Finger in seinen Rücken, als sie ihn führte.
Ein lautes Krachen übertönte seinen Aufschrei. Eisiger Wind toste um seinen Körper. Alle Sinne und Gedanken und Gefühle explodierten zur gleichen Zeit in seinem Kopf. Seine Kraft verließ ihn und er sank auf Kaia herab, die ihn hielt, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Er spürte, wie sie keuchend atmete und stützte sich auf einen Arm, um sie zu entlasten. Sie zog ihn wieder zu sich, und ihre schwitzenden Körper verschmolzen einmal mehr zu einer Einheit, langsamer diesmal, unterbrochen von sanften Küssen auf ihre Lippen, ihr Haar, ihren Hals. Reas nahm sich die Zeit, jede Stelle ihres Körpers mit seinen Lippen zu erkunden. Er würde sie nie wieder vergessen. Er würde das hier nie wieder vergessen. Die Gefühle, die Sinne, das Leid … Ein menschliches Dasein brachte so viel Durcheinander in seine einst geordnete Welt, doch diese Freude und dieser Frieden hier waren alles wert.
Schneeflocken segelten durch das aufgeschlagene Fenster herein und brachten die Härchen auf seinen Armen dazu, sich aufzustellen. Er beobachtete gebannt, wie die Kristalle sich auf Kaias Haut legten, dort schmolzen und winzige Wassertropfen zurückließen. Hatte er den Schnee verursacht? Er lachte leise und küsste einen nach dem andern die Tropfen von ihrer Haut. Die Tropfen, die sich in der kleinen Vertiefung an ihrem Hals gesammelt hatten, liefen zwischen ihren Brüsten hinunter, als sie sich leicht aufrichtete. Seine Zunge folgte der Spur des Wassers und umkreiste zärtlich ihren Bauchnabel. Ihr Stöhnen entfachte einen neuen Schneesturm, und Reas hielt inne. »Wir …« Er konnte kaum sprechen.
»Nicht aufhören«, murmelte Kaia. Ihre Lippen waren blau und zitterten.
Reas zog sich zurück. »Die Kälte … Das war ich, es tut mir leid … Wir müssen das Fenster schließen …« Er stand auf und ging zum Fenster. Es klemmte ein wenig, doch nach einer Weile schaffte er, es zu schließen. Er kroch zurück ins Bett. Kaia hatte inzwischen ihre Kleider wieder angezogen und sich zitternd unter der Bettdecke versteckt. Er legte sich zu ihr und zog sie an sich. Sanft streichelte er ihren Rücken, bis er sicher sein konnte, dass das Zittern nur noch ein wohliges Schaudern war, keine Kälte.
Sie kuschelte sich an seine Brust. Er hielt sie fest in seinen Armen und strich über ihr Haar. Er atmete ihren Duft ein, nach Gras und Blumen … Nach Frieden. So konnte es bleiben. Sein ganzes Leben lang sollte es so bleiben, alle Sorgen sollten in der Leidenschaft der Nacht schmelzen wie der Schnee auf Kaias Haut. Er schloss die Augen und ließ sich von Kaias Duft und vom Schlaf davontragen.
Sonne schien durch seine geschlossenen Augenlider. Wie konnte das sein? Es war tiefe Nacht auf Vala, und er lag neben Kaia … Er streckte seine Hand nach ihr aus. Seine Finger berührten kalten Stein. Das war nicht das Bett, in dem er eben noch gelegen hatte. Er schlug die Augen auf.
Wie ein Mensch war er in seinen Träumen nach Hemera hinübergeglitten, sein Zuhause, das in oder über oder zwischen der Menschenwelt existierte. Die einzigen Grenzen waren Bewusstsein und Körper, und beides hatte er auf Vala zurückgelassen und stand hier, in Hemera. Seine menschliche Hülle war durchscheinend, doch er konnte seine Körperlichkeit spüren, in der er eben noch mit Kaia verbunden gewesen war wie noch nie zuvor in seinem ewigen Leben. Der Thronsaal schien unverändert: Der runde Tisch, die Stühle, auf denen seine Brüder einst gesessen und mit ihm die Geschicke der Welten gelenkt hatten … Pflanzen, die sich um runde Säulen rankten, das Dach, das sich hoch wie ein Himmelszelt über
ihm aufspannte. Doch etwas war anders. Reas kniff die Augen zusammen. Risse zogen sich durch den hellen Marmor der Decke. Staubkörnchen rieselten herunter und rollten kratzend über den Boden. Die Pflanzen an den Säulen waren vertrocknet und an einigen Stellen zerfressen. Das Holz der Möbel wirkte stumpf, als hätten Jahrhunderte von kalten Herbststürmen an ihnen genagt und den einstigen Glanz abgetragen.
»Zephyros«, murmelte er. Sein Bruder musste hier sein, er würde ihm erklären können, was passiert war. Der Gott des Westwindes würde Antworten haben, die Reas’ menschlichen Augen verborgen blieben. »Zephyros!«, rief er, doch bis auf das stetige Rieseln des Staubes gab es im Thronsaal keine Geräusche. Und auch der dritte, nunmehr eindringliche Ruf nach seinem Bruder verhallte ungehört. Der stumpfe Stein gab nicht einmal ein Echo von sich, sondern schwieg. Die Stille drückte auf Reas’ Ohren und schien ihm den Atem zu nehmen. War das … Konnte dies Phobos’ Werk sein? Sah so Hemera aus, wenn Phobos die Macht an sich gerissen hatte? War das hier die Gegenwart – oder eine Zukunft, die Reas nicht miterleben wollte?