Kapitel 19 – Kaia
»Lebe wohl, Reas.« Sein Name verbrannte ihre Lippen, sie würde ihn nie wieder aussprechen. Nie würde sie ihm verzeihen können, was er getan hatte. Wäre er nicht gewesen, hätte sie ihre Mutter noch gehabt, dann wäre all das nicht passiert. Doch sie wusste, dass es nicht stimmte. Er trug keine Schuld. Sie allein war schuld. Der Pfarrer hatte versucht, ihr den rechten Weg aufzuzeigen, Tante Iselda hatte sie gewarnt, wieder und wieder, und Kaia hatte alle Bedenken in den Wind geschlagen. Sie hatte sich mit Reas abgegeben, und das hatte ihre Tante das Leben gekostet. Hätte sie nicht die Nacht mit ihm verbracht, wäre Tante Iselda noch am Leben.
Kaia war schwach gewesen. Trotz aller Warnungen, trotz aller Anzeichen, wie alles enden würde, war sie nicht von ihm losgekommen. Sie hatte den Tod Tante Iseldas auf dem Gewissen, und es würde sie nie wieder auch nur eine einzige Stunde ihres Lebens loslassen. Sie war schuld.
In ihrem Inneren sollte Leere sein. Die Gefühle, die sie mit … ihm … geteilt hatte, waren verschwunden und die Erinnerung verblasste bereits. Doch es blieb keine Leere zurück, auch keine Traurigkeit. Da war ein Gefühl, dass sie nicht kannte. Es füllte sie aus wie ein schwarzer Dunst aus Abscheu und Wut.
Pfarrer Maius trat zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. Kaia zuckte zusammen, doch es wäre unanständig, ihren Retter – verdammt, ihren Vater – abzuschütteln. Also konzentrierte sie sich darauf, weiterzuatmen. Seine Stimme drang wie aus weiter Ferne an ihr Ohr. »Hasse dich nicht für das, was passiert ist, das macht es nicht ungeschehen.«
Hass. Das war es. Der Selbsthass breitete sich in ihr aus und zerfraß alle lieblichen Gefühle, die gewesen waren. Sie hasste den Mann, den sie einst geliebt hatte, selbst wenn er nichts dafür konnte. Ihm die Schuld zu geben war leichter, als sich selbst zu hassen. Leichter, als die Schuld zu tragen, die sie nie würde abzahlen können.
Der Pfarrer – sie konnte es nicht über sich bringen, an ihn als Vater zu denken – sprach weiter: »Du kannst es nicht rückgängig machen, doch wenn du von nun an dem Einzigen dienst, wirst du über die Jahre deine Schuld mindern. Komm mit mir und tritt in den Dienst des Einzigen, der Herr ist über Vala.«
Kaia blickte zu dem Mann hinüber, den sie einst geliebt hatte. Er hatte sich über ihre Tante gebeugt und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Er sollte sie in Ruhe lassen! Kaia rannte zu ihm und packte ihn am Arm, um ihn von ihrer Tante wegzuzerren. Sie versuchte darüber hinwegzusehen, dass er bis auf die Hose keine Kleidung trug. Ihre Berührung ließ ihn zusammenzucken. Er trat zurück. Über ihrer Tante bildete sich, von der Stirn ausgehend, eine dünne Eisschicht. Der Mann ging zum Fenster und schloss es. Der Sturm draußen legte sich, die Schneewehen im Zimmer schmolzen. »Mein letzter Dienst, wenn du gestattest.« Er verbeugte sich leicht, und sprach förmlich mit ihr wie ein Fremder, der nicht heute Nacht mit ihr das Bett geteilt hatte. »Iselda wird unter Eis liegen, bis du Zeit findest, sie Vala zu übergeben. Dann werde ich mich für immer aus deinem Leben zurückziehen.«
Hätte ihr Herz Platz für ein anderes Gefühl außer Hass gehabt, wäre es bei diesen Worten gebrochen. Doch sie nickte nur. »Besser so«, sagte sie, und sie war überrascht, wie spröde und kalt ihre Stimme klang.
Sein Blick ruhte lange auf ihr, und seine silbrigen Augen waren von dunklen Schatten durchzogen. Eine Träne rollte seine Wange herunter und gefror zu Eis, bevor sie klirrend auf dem Boden aufschlug. Er hatte die Lippen zusammengepresst und schluckte schwer. Dann nickte er langsam. »Lebe wohl«, flüsterte er. Kaia war sich nicht sicher, ob er das wirklich gesagt hatte oder ob seine Stimme der Eiswind war, der mit seinen Worten durch den Raum fegte. Der Mann, den sie einst geliebt hatte, war verschwunden.
»Lass uns gehen«, sagte der Pfarrer. Er führte sie mit sich fort, und Kaia ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Als sie den Hof betrat und auf die kalten Pflastersteine trat, wollte sie umkehren und ihre Schuhe und das Schultertuch holen, doch Pfarrer Maius hielt sie zurück. »Die erste Buße für deine Schuld«, sagte er, als er auf sein Pferd stieg. »Auch der Einzige kam in unsere Welt ohne Schuhe und ohne Mantel. Auf dem Weg kannst du deiner Sünden gedenken und die Güte des Herrn dein Herz ausfüllen lassen.«
Kaia nickte. Es hörte sich richtig an. Sie musste den gleichen Weg gehen wie der Einzige, auch wenn sie ihre Füße nach wenigen Schritten kaum mehr spürte und der Eiswind um ihren Hals pfiff und Tränen in ihre Augen trieb. Der Wind verschwand mit der ersten Träne, die er von ihren Wangen pflückte. Die klare Eiseskälte einer Winternacht wurde von der feuchten Herbstkälte abgelöst, doch es reichte immer noch, um in ihre Füße zu schneiden und den Weg doppelt so lang erscheinen zu lassen, wie er war. Wolken zogen vor den Mond, und Kaia sah nicht mehr, wohin sie trat. Sie tat ihr Bestes, den Geräuschen der Pferdehufe zu folgen, und stolperte über Steine und Wurzeln. Als sie im Dorf ankamen, musste sie ihre Lippen fest zusammenkneifen, um keinen Seufzer der Erleichterung auszustoßen. Sie hatte es geschafft. Die erste Buße war überstanden. Irgendwann würde sie ihre Schuld beglichen haben.
Der Druck in ihrem Inneren ließ ein wenig nach. Es war nur eine Frage der Zeit, und sie würde frei sein von der Schuld, ganz sicher. Sie betraten den Kirchplatz, auf den eine einsame Laterne ein schwaches Licht warf, in dem sie die Umrisse des Pfarrers erkennen konnte, auch wenn er in einen dichten Nebel gehüllt zu sein schien. Er drehte sich zu ihr um. »Es wird eine lange Zeit dauern, mein Kind, bis du frei von Schuld bist. Solche Sünden, wie du auf dich geladen hast, sind nicht schnell beglichen. Du wirst von Glück reden können, wenn du am Ende eines langen Lebens geläutert dem Einzigen gegenübertreten kannst.«
Kalte Angst legte erneut ihre Finger um Kaias Brust. Ein ganzes Leben lang sollte sie büßen? Für wenige Augenblicke des Glücks? Denn Glück war es gewesen, oder? Es würde ein Leben in Sühne wert gewesen sein, oder? Doch so, wie der schwarze Schatten in ihr Inneres kroch, verblassten die Erinnerungen. »Glück«, was war das schon. Ein Tropfen Freude in einem Ozean aus Leid. Weniger wert als ein Tropfen Wasser auf einem sonnenverbrannten Feld. Und nun würde sie den Rest ihres Lebens Buße tun, angefangen mit der heutigen Nacht. Die wenige Hoffnung, die gegen jede Vernunft in ihrem Herzen festsaß, verkümmerte wie eine Blume ohne Wasser.
Sie folgte dem Pfarrer in die enge Gasse, am Armenhaus vorbei, zu einem unscheinbaren Gebäude am Ende der Sackgasse. Seit sie denken konnte, hatte sie beinahe jeden Sonntag das Dorf besucht und vor oder nach dem Kirchgang gelegentlich mit ihrer Tante einen Spaziergang durch die Gassen gemacht, aber dieses Gebäude war ihr noch nie aufgefallen. Es war, als wäre es all die Jahre lang unsichtbar gewesen. Pfarrer Maius holte einen gewaltigen Schlüsselbund aus der Tasche und schloss drei Schlösser an der Tür auf. Er betrat einen dunklen Gang, und Kaia folgte ihm. Sie schaute sich neugierig um. Das würde also ihr neues Zuhause sein. Es war nicht allzu schlimm. Besser als auf dem Gutshof auf jeden Fall. Der Boden war blitzsauber geschrubbt, die Wände frisch gekalkt, die Vorhänge reich bestickt, die Kerzenleuchter poliert, auch wenn nur zwei einzelne Kerzen einsam vor sich hin leuchteten. Kalt war es, aber es war Nacht. Sicherlich würde morgens geheizt werden, und dann könnte es fast gemütlich sein.
»Dani!« Pfarrer Maius’ Stimme gellte durch den Gang, dass Kaia zusammenzuckte. »Komm her, auf der Stelle!«
Ein kleines Mädchen, vielleicht zehn oder elf Jahre alt, huschte barfuß über die Fliesen. Ihre Kutte wehte. Sie verbeugte sich vor dem Pfarrer. »Ihr wünscht, Herr?«
»Was soll das mit den Kerzen?« Er deutete anklagend auf den Leuchter.
»Nun … ich …« Das Mädchen zog ihre Kapuze enger um ihren Kopf. »Es war so kalt. Dienerin Ivona fror so stark, und sie ist krank …«
»Hast du deswegen den Kamin angemacht?«
Ihre hellen Augen blickten den Pfarrer flehentlich an. »Nur einen einzigen Holzscheit, wirklich, Herr! Nur einen einzigen –«
»Dankt ihr mir so meine Wohltätigkeit? Indem ihr euch über meine Anweisungen hinwegsetzt, kaum, dass ich mich eine Nacht außer Haus befinde?« Er packte sie und schüttelte sie, dass ihr die Kapuze vom Kopf rutschte. Kaia starrte sie an, und Entsetzen verdrängte alle anderen Gefühle. Die Haare des Mädchens waren abrasiert worden, und auf ihrem Kopf leuchtete der Kreis des Einzigen in einer dunklen Farbe, die … Kaia wollte nicht darüber nachdenken. Es sah aus, als wäre es eine Wunde, deren Blut eingetrocknet war.
Der Pfarrer atmete tief durch und ließ das Mädchen los. »Bedecke das Zeichen deiner Sünde«, befahl er, und Dani zog rasch die Kapuze über den Kopf. »Du bist noch nicht lange bei uns, Dienerin Dani, daher lasse ich dir dieses Vergehen ein letztes Mal durchgehen. Bei weiteren Verstößen wirst du bestraft wie die anderen, ist das klar?«
Über Danis Wangen strömten Tränen. Sie verbeugte sich so tief, dass ihr die Kapuze ins Gesicht rutschte. »Sehr wohl, Herr. Danke, Herr.«
Der Pfarrer hob die Hand, und Dani flüchtete den Gang hinunter. Sein Blick heftete sich auf Kaia, die dem Mädchen hinterherstarrte. »Besser, du gewöhnst dich schnell ein. Ich würde es hassen, mein eigenes Kind bestrafen zu müssen.« Er packte Kaia am Handgelenk und zog sie mit sich fort. Er klopfte an eine Holztür, die in eine kleine Kammer mündete. Ein einzelnes Bett stand darin, dazu ein Waschtisch und eine Truhe. Wenigstens wurde man hier anständig untergebracht. Kaia atmete auf. Die Kammer war zwar weit davon entfernt, gemütlich zu sein, aber hier konnte sie es aushalten. Auch ein ganzes Leben, wenn sie musste.
Eine Frau löste sich aus dem Schatten. »Dienerin Laeticia«, sagte sie mit einer kleinen Verbeugung. Unter ihrer Kutte lugte ebenfalls ein kahlgeschorener Kopf hervor.
»Dienerin Laeticia ist die Mutter Oberin in unserem Hause«, erklärte Pfarrer Maius. »Ihre Unterkunft ist weitaus reicher ausgestattet als die der anderen Dienerinnen, gewöhne dich nicht zu sehr an diesen Anblick. Dienerin Laeticia, dieses Mädchen hat sich schwer gegen den Einzigen versündet, und es wird all unserer Anstrengungen bedürfen, sie wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Wenn Ihr mir helfen würdet, dem Mädchen seinen Platz zuzuweisen …«
Laeticia – nein, Dienerin Laeticia – nahm die brennende Kerze von ihrem Waschtisch. »Mit Freuden. Komm Mädchen. Wie ist dein Name?«
»Kaia.«
»Dienerin Kaia«, berichtigte der Pfarrer. »Wiederhole es.«
War sie ein Kind, das gescholten werden musste? Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch ein Blick aus den schattenumwölkten Augen des Pfarrers genügte, um sie an ihre Tat zu erinnern und den Hass auf sich selbst zu richten, statt auf die Menschen, die lediglich um ihr Wohl besorgt waren. Sie schluckte. »Dienerin Kaia.«
»Sehr gut.« Dienerin Laeticia nahm sie bei der Hand und zog sie wieder in den Gang hinaus. Sie gingen in eine angrenzende Kammer, die bis auf eine Reihe von Kutten an der Wand keinerlei Ausstattungsgegenstände enthielt. Dienerin Laeticia stellte die Kerze auf den Boden. »Knie nieder, Dienerin Kaia.«
Kaia gehorchte. Ihre Augen folgten dem Pfarrer, der zu den Kutten trat und von einem weiteren Haken an der Wand eine Schere nahm. Schlagartig wurde ihr bewusst, was hier passieren würde. »Nein«, flüsterte sie. »Nein, bitte nicht.« Sie hob die Hände zum Kopf und fuhr mit den Fingern durch ihre Locken.
»Langes Haar«, Pfarrer Maius rümpfte die Nase, »dient nichts anderem als der eigenen Eitelkeit sowie der Versuchung des anderen Geschlechts. Es muss fort, sonst bleibst du weiterhin ein Sündenherd.«
»Nein, nicht meine Haare, bitte …« Kaia dachte daran, wie zum Beginn der Nacht ein Mann seine langen Finger durch ihr Haar hatte gleiten lassen, wie sich weißer Schnee auf den roten Strähnen niedergelassen hatte und weggeküsst worden war … Der Pfarrer hatte recht. Es musste weichen. Sie war bereits schuld am Tod ihrer Tante – ihre eigene Eitelkeit und die Wollust eines Mannes durften sie nicht zu weiteren Sünden verführen. Sie schloss die Augen und nickte.
Das metallische Geräusch der Schere erklang an ihrem Ohr. Wieder und wieder, bis eine Strähne nach der anderen auf den Boden fiel. »Verbrenne sie«, sagte der Pfarrer.
Kaia öffnete die Augen. Sie saß inmitten von roten Locken, die schwach im Kerzenlicht schimmerten. »Was?«
Er schob mit dem Fuß die Kerze zu ihr hin. »Verbrenne das Zeichen deiner Schuld.«
Mit zitternden Fingern nahm Kaia eine Haarsträhne und hielt sie in die Flamme. Es zischte, und die Strähne war bis zu ihren Fingerspitzen geschmolzen. Schmerz zuckte in ihren Fingern. Kaia ließ den Rest fallen.
»Weiter!«, drängte Dienerin Laeticia.
Kaia schluckte die Tränen herunter, die sich in ihren Augen gesammelt hatten, und hielt die nächste Strähne in die Kerze. Wieder das Zischen, wieder der stechende Schmerz, Strafe für ihre Schuld. Und so würde es weitergehen, bis ihr Leben ein Ende finden würde.
»Ich sehe, Ihr habt das im Griff.« Der Pfarrer nickte Dienerin Laeticia kurz zu und verließ den Raum.
»Weiter, Dienerin Kaia.«
Kaia hob die nächste Strähne auf und verbrannte sie. Und die nächste. Die Haut auf ihren Fingern brannte rot wie die Flamme, doch sie durfte nicht aufhören. Die nächste Strähne. Der Schmerz stach nicht mehr mit einzelnen Nadelstichen in ihre Haut, er war allumfassend in ihren Händen. Und in ihrer Seele.