Kapitel 24 – Reas
Das traurige Lächeln, mit dem er Kaia verlassen hatte, spielte noch um seine Lippen, als sein Körper sich in die Schattenhülle Hemeras wandelte. Mit Erstaunen nahm er wahr, dass im Schwarz seiner Umrisse dunkles Gold schimmerte. Phobos war zurückgedrängt. Wo Liebe war, war kein Platz für die Angst. Reas’ Brust schmerzte vor Sehnsucht, aber es war der süße Schmerz der Liebe. Er würde Phobos besiegen. Für Kaia würde er es schaffen.
Als sich der schwarze Schatten vor ihm manifestierte, wich Reas nicht zurück. Phobos konnte ihm nichts anhaben, wenn sein Herz mit Liebe gefüllt war.
»Das muss aufhören.« Phobos hatte die Stirn gerunzelt, und die gefährliche Unruhe, die Reas bereits gespürt hatte, als sie beide über Euros’ toten Körper gestanden hatten, war in der Luft greifbar. »Gib auf, Boreas. Beende es.« Er durchmaß den Thronsaal mit großen Schritten, hin und her, als müsste er seinen Frust in den Boden stampfen.
Reas lächelte. Liebe war also der Schlüssel, es war ganz offensichtlich. Phobos ging die Geduld aus. Er war angreifbar, und er wusste es. Er wandte sich um und musterte Reas aus seinen schwarzen Augen. Eine Müdigkeit stand in den blicklosen Augen, die Reas nie zuvor gesehen hatte. »Es dauert so lange, so lange! Angst und Panik rennt wie ein Feuer, in das Öl gegossen wird, doch du meinst immer noch, du wärest stärker. Das bist du nicht, Boreas. Nicht du, nicht deine Brüder. Glaubst du, du bist so viel besser als sie?«
»Nein«, erwiderte Reas. »Aber ich wage, zu lieben. Richtig zu lieben. Wie die Menschen. Das unterscheidet mich.«
»Und darauf bildest du dir etwas ein? Das ist lächerlich. Liebe treibt die Menschen zu ebenso vielen Verbrechen wie Angst. Letztendlich dient mir selbst die Liebe, das wirst du schon noch erkennen.«
»Das, was du beschreibst, ist keine wirkliche Liebe. Echte Liebe lässt uns niemanden verletzen.« Er dachte daran, wie er Kaia wieder und wieder verlassen hatte. »Zumindest nicht absichtlich.« Er schluckte. »Ich glaube, Liebe lässt einen nur das Gute für die andere Person wünschen, und die eigenen Bedürfnisse treten zurück. Ich sehe nicht, wo das ein Verbrechen sein soll, das dir dient, Phobos.«
»Angst vor Verlust. Schuldgefühle. Daraus entstehen Taten, die dich schaudern ließen, wenn du nur die Augen öffnen würdest.«
»All dies ist keine Liebe. Zumindest nicht so, wie ich es erlebe. Angst und Schuld ersticken die Liebe, sie sind nicht auf einer Stufe.«
Phobos verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn wütend an. »Du bist verdammt halsstarrig, Boreas, weißt du das? Was braucht es denn noch, um dich einsehen zu lassen, dass du verloren hast? Reicht es nicht, dass Notos und Euros unter meinem Bann stehen, ebenso die Nachbarreiche … Dass deine Menschenfrau nur noch ein Schatten ihrer Selbst ist, weil du sie in den Ruin getrieben hast mit deiner sogenannten Liebe?« Er seufzte. »Du unterschätzt meine Macht immer noch, trotz allem, was ich dir gezeigt habe – verflucht nochmal, was ich dich habe spüren lassen! Bist du so arrogant – oder einfach nur dumm?«
Er deutete auf das Haus der Dienerinnen, das durch den dünnen Schleier der Weltengrenzen sichtbar war. Ein Schrei ließ den Schleier erzittern. Die Wände schmolzen, und sie sahen in den Schlafsaal. Fiora hielt Kaia im Arm, die unkontrolliert schluchzte. Phobos Stimme mischte sich mit dem Weinen. »Du glaubst, sie hat süße Träume von Hemera? Du glaubst, sie wird nach dir suchen? Du Narr! Ich lasse sie in ihren Träumen von dem glatzköpfigen Gutsbesitzer vergewaltigen, ich lasse ihre Tante wieder und wieder durch deine Hand sterben, ich zeige ihr, wie du ihre Mutter verführst und dann zum Sterben verdammst und anschließend mit ihr deine unmenschliche Lust befriedigst! Denkst du immer noch, sie würde nach dir suchen? Meinst du, sie glaubt an die Liebe, so wie du?«
Reas stolperte zum Tisch, an dem er einst mit seinen Brüdern gesessen hatte. Er klammerte sich an die Platte. Seine Knie gaben nach und er sank zu Boden. »Lügen«, flüsterte er. »Das sind alles Lügen!«
»Das spielt keine Rolle. Träume reichen aus, um den Menschen den Verstand zu rauben, und keine ferne Götterwelt kann sie davor bewahren.«
»Wir sind nicht fern, wir sind hier! Die Menschen können zu uns kommen und Frieden finden, sie müssen nur glauben!«
Phobos beugte sich über ihn. »So, wie Ariana geglaubt hat?« Er richtete sich auf und lachte. »Ich werde deine Menschenfrau dazu bringen, sich das Leben zu nehmen. Ein weiteres Opfer deiner Sturheit, wie würde dir das gefallen? Ich treibe sie in den Wahnsinn, und dann bringe ich sie um. Langsam. Genüsslich. Der Pfarrer ist mir vollkommen untertan und wird mir da gern zur Hand gehen. Er hat längst seine Menschlichkeit verloren und lässt sich vollständig von mir ausfüllen – eigentlich … ja, eigentlich seit Ariana. Sie war der Schlüssel. Er war so verliebt und konnte einfach nicht verstehen, wie sie sich einem wie dir zuwendete. Als ich ihm dann die Gelegenheit gab, sich zu nehmen, was er wollte, konnte er nicht widerstehen. Natürlich habe ich ein wenig nachgeholfen, von selbst wäre er nicht so weit gegangen, sie zu vergewaltigen, aber wie heißt es so schön? In der Liebe und im Krieg sind alle Mittel erlaubt.«
Sein gackerndes Lachen hallte von den Wänden des Thronsaales wider. »Seine Lust und seine Scham öffneten mir das Tor zu Vala. Du und deine Brüder, Boreas, sind mein Tor zu Hemera. Und ich werde beides regieren, so wie ich die Götter- und die Menschenwelten der Nachbarreiche regiere. Du wirst mir nicht im Weg stehen, und das Verschwinden deines Bruders Zephyros auch nicht. Er mag sich vor mir verstecken, doch ich werde ihn finden. Allein hat er zu wenig Macht, um sich mir entgegenzustellen. Oder weshalb wäre er sonst geflohen? Er weiß, dass du dich mir unterwerfen wirst, und er weiß auch, dass er allein keine Chance gegen mich haben wird.«
Er klatschte in die Hände. »Zum Geschäftlichen. Ich stelle Bedingungen.« Er sprang auf den Tisch, an dem der Rat einst getagt hatte. »Du hast zwei Möglichkeiten: Ich bringe deine Menschenfrau um – nicht ohne weitere Folter, versteht sich – oder du unterwirfst dich mir vollends. Es sind einfache Bedingungen, nicht? Ich verlange nicht zu viel, nur das, was mir zusteht. Es ist deine Wahl.«
Reas stützte sich auf dem Boden ab und richtete seinen Oberkörper auf. »Du erpresst mich mit Kaias Leben?« Er starrte auf seine Hände und Arme, die von dunklem Nebel umwoben waren. Nein, nicht umwoben … Sie bestanden aus dunklem Nebel. Die Angst kroch durch seinen Körper, aber das durfte nicht passieren. Er durfte keine Angst haben.
»Wenn du nicht freiwillig zu mir kommst, ja.« Phobos baumelte mit den Beinen vor Reas’ Gesicht. »Was glaubst du, warum sich Götter nicht verlieben? Warum ihr solch eine Distanz zu den Menschen wahrt? Warum ihr euch aus der Ferne anbeten lasst, aber niemals menschlich werdet? Gefühle machen euch verwundbar. Durchlässig für jene Gefühle, die euch mir unterwerfen: Angst, Verzweiflung, Schuld … oder die Leere. Du hast davon gekostet, aber sie nie wirklich durchlebt. Es ist Zeit, damit anzufangen. Du wirst in Hemera bleiben und keinen Fuß mehr nach Vala setzen. Um deinen Bruder Notos werde ich mich rührend kümmern, genau wie um die Frau. Ich werde sie nicht umbringen, nein, das wäre eine Erlösung, die ich nicht herbeiführen werde. Ich werde dir hier einige Aufgaben zum Zeitvertreib geben, und wenn du sie nicht zu meiner Zufriedenheit erfüllst, sorge ich dafür, dass meine Träume die Frau besuchen. Vielleicht bekommt das Monster, das sie vergewaltigt, dein Gesicht, wie wäre das? Silberne Strähnen, die über ihren Rücken streichen, während du ihr Gesicht in den Schlamm presst, während du sie gegen ihren Willen nimmst … Die letzten Erinnerungen an die Liebe auslöschen, ja, das könnte ich tun …«
Er sprang vom Tisch, stellte sich breitbeinig vor Reas, packte ihn an der Schulter und drückte ihn auf den Boden. Seine Lippen näherten sich Reas’ Ohr. »Und wenn du eines Tages genug von ihren Schreien hast, kannst du ihrem Leben immer noch ein Ende bereiten – ich würde dir da nicht im Weg stehen.« Er grinste selbstgefällig und richtete sich auf. »Und, was sagst du, Boreas? Haben wir einen Handel? Du trittst in meine Dienste, und ich lasse deine Menschenfrau in Frieden. Hin und wieder, zumindest.«
Reas schluckte. Er wollte antworten, doch keine Worte kamen aus seinem Mund. Er starrte wie betäubt den Schatten an, der in ihm hochkroch und ihn vollständig ausfüllen wollte. Er konnte nichts dagegensetzen. Er wollte kämpfen, schreien … doch es war zwecklos. So lange Kaia lebte, hatte Phobos ihn in der Hand.
Moment: Solange Kaia lebte? Ein Menschenleben war kurz im Vergleich zu der Ewigkeit in Hemera. Er musste nur warten. Wie alt war Kaia jetzt? Mitte Zwanzig. Sie hatte die Mitte ihres Lebens auf Vala bereits erreicht. Ihr blieben noch zwanzig Jahre, vielleicht dreißig. Keine allzu lange Zeit für einen Menschen – und lediglich ein Tropfen im Ozean der Zeit für einen Gott. Es war zu schaffen. Er musste nur in Hemera ausharren, Phobos’ Aufgaben erfüllen und darauf warten, dass die Zeit verstrich. Er konnte Kaia mit tanzenden Schneeflocken und Eisblumen erfreuen. Er würde nie mit Kaia zusammen sein können, doch er konnte retten, was zu retten war. Phobos’ Visionen verloren langsam ihren Schrecken.
Er sah zu Phobos auf und nickte langsam. »Einverstanden.« Er streckte seine Hand aus.
Phobos sprang lachend auf ihn zu, zog ihn auf die Füße und schüttelte seine Hand. »Abgemacht! Prächtig. Erste Aufgabe, und die ist einfach: Lasse über Vala den Winter hereinbrechen.«
Das war alles? Reas runzelte die Stirn. Zu leicht. Es war zu leicht. Er streckte sein Bewusstsein nach dem Menschenkörper aus, den er nutzte, um auf Vala zu wandeln.
»Halt.« Phobos versperrte ihm den Weg. »Du bleibst in Hemera, schon vergessen? Du kannst den Winter von hier aus nach Vala schicken.«
»Ich kann den Winter von Hemera aus nicht kontrollieren«, erwiderte Reas. Dann wurde ihm bewusst, warum Phobos ihm diese Aufgabe auferlegt hatte.
»Ich habe ja auch nicht gesagt, dass du ihn kontrollieren sollst«, sagte Phobos, und sein Mund verzog sich zu einem grausamen Lächeln. »Ich habe nur gesagt, lasse über Vala den Winter hereinbrechen.«