Kapitel 27 – Kaia
»Schuhe?« Dienerin Laeticia schaute missbilligend auf Kaias Füße, die rot und blau waren – und schwarz an den beiden kleinen Zehen des linken Fußes, die sie sich abgefroren hatte. »Seit wann gibt es denn Schuhe?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Kaia schüchtern. »Pfarrer Maius hat gesagt, ich soll mir Schuhe holen und dann weiter beim Schneeräumen helfen. Er wollte inzwischen selbst die Wege freiräumen.«
»Selbst?« Dienerin Laeticia ging zum Fenster und spähte hinaus. »Tatsächlich. Nun, das ist ungewöhnlich. Beim letzten Mal, als er das selbst übernommen hatte, war er ein junger Mann, fast noch ein Knabe.« Ihre Augen nahmen einen entrückten Ausdruck an, doch sie fing sich schnell wieder. »Nun, wie auch immer. Wenn er das so angeordnet hat …« Sie drückte Kaia ein paar Schuhe in die Hand. »Und nun schnell wieder hinaus mit dir. Der Herr Pfarrer hat im Haus zu tun und kann nicht deine Arbeit verrichten.«
»Sehr wohl. Vielen Dank, Dienerin Laeticia.« Kaia knickste und rannte wieder nach draußen.
Die Schuhe waren zu klein, aber das war egal. Sie boten Schutz gegen die Kälte, und das war alles, was zählte. Nach all den Monaten im Haus der Dienerinnen hatte Kaia fast vergessen, wie es war, wenn jemand etwas Nettes tat, von dem man es nicht erwartet hatte. Die Schuhe. Reas’ Eisblumen. Gegen ihren Willen huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Er war da gewesen und hatte ihre Wunden versorgt. Den weißen Stoff würde sie überall wiedererkennen. Sie würde nie wieder vergessen, wie der Mantel, der seine Farbe von Grau zu Weiß änderte, sie verwirrt hatte, als sie Reas zum ersten Mal vor über
zehn Jahren gesehen hatte. Und nun? Er war da gewesen, als sie schlief. Er hatte es nicht gewagt, sich bemerkbar zu machen – kein Wunder, nach den Worten, die sie ihm in ihrer Angst und ihrer Trauer entgegengeschleudert hatte. Und trotzdem hatte er sie aufgesucht. Ein einziges Mal. Und dann nie wieder.
Die Schneemagie von eben – wer weiß, ob sie sich das nicht nur eingebildet hatte in ihrem Wunschdenken, er möge doch wieder auftauchen. Gegen alle Regeln des Hauses der Dienerinnen, gegen die Huldigungen des Einzigen und die Verdammnis des Schwarzen – trotz der Bestrafungen, die Abtrünnige erwarteten – hoffte sie nichts weiter, als dass er wieder auftauchen möge. Vielleicht im Frühjahr, wenn seine Arbeit getan war. Vielleicht musste er den Winter über in Hemera weilen und kam deshalb nicht … Aber das stimmte nicht. Er war hier gewesen, im Winter. Die Eisblumen, der Wundverband auf ihrem Rücken … das war er gewesen. Wäre er doch nur ein weiteres Mal gekommen. Sie hätte ihm sagen können, was sie für ihn empfand, gestehen, dass sie im Unrecht war, dass sie ihn nur aus Angst und Verzweiflung weggeschickt hatte …
Im Schnee konnte sie ihm nahe sein. In seinem
Schnee. Der den Schrecken des Eiswinters verloren hatte. Nun drang sogar die Sonne zwischen der Wolkendecke hervor, die Vala seit Wochen bedeckte. Kaia blinzelte lächelnd in die hellen Strahlen, die den Schnee zum Glitzern brachten. Vielleicht war das ja ein Gruß von Reas, wenn er schon selbst nicht hier sein konnte. Sie schob die Tür zum Innenhof auf. Pfarrer Maius … sie sollte beginnen, von ihm als »ihr Vater« zu denken – schließlich war er das, und er hatte sogar einen seiner seltenen Anflüge von Freundlichkeit gehabt – ihr Vater hatte bereits die Wege freigeräumt, und war nun auf dem Rückweg zu Kaia.
Sie lächelte ihn zaghaft an. Sein Blick traf ihren, doch … Kaia schrak zurück. Etwas war da, das vorher nicht existiert hatte.
Alle Wärme in seinem Blick schien ausgelöscht. Sie war zwar nur kurz dagewesen, wie nur wenige Male zuvor, wenn sein trüber Blick geklärt und freundlich auf sie herabgesehen hatte – doch die Dunkelheit war zurück. Kaias Herz krampfte sich zusammen. Er sah nicht glücklich aus, weit davon entfernt. Das war nicht er, dessen war sie sich sicher. Die Wärme, das war er. Die Menschlichkeit, die tief ihn ihm wohnte, das war er. Nicht das hier, nicht der Schatten, der seinen Geist umwölkte.
Sein Blick wanderte zu ihren Füßen. Er riss ihr Kleid hoch. »Was hast du da? Wer hat dir die Schuhe gegeben?«
»D… Dienerin Laeticia«, stotterte Kaia.
Seine blutunterlaufenen Augen hefteten sich auf sie. Kaia begann zu zittern. Egal, wie viel Mühe sie sich gab, es war ihr nicht möglich, keine Angst zu haben. Er war stärker, und er würde es ausnutzen. Es würde Schläge geben. Kaias Schultern verkrampften sich. Das war der Blick, der Schlägen vorausging.
Seine Hand krampfte sich um ihren Rocksaum. Er sah aus, als würde er mit sich kämpfen. Er richtete sich auf, hob die Schneeschaufel und Kaia riss die Arme hoch, um ihr Gesicht zu schützen. Sie schloss die Augen und wartete auf den Schmerz. Die Schneeschaufel traf ihre Arme, doch nicht so hart, wie sie erwartet hatte. Sie öffnete die Augen. Ihr Vater drückte ihr die Schaufel entgegen. »Weitermachen«, stieß er hervor. Dann rannte er ins Gebäude, als wäre jemand hinter ihm her.
Kaia starrte ihm mit offenem Mund hinterher. Was passierte hier? Was waren diese seltsamen Stimmungsschwankungen? Was hatte der Schatten in seinen Augen zu bedeuten? Sie schob den Schnee von den anderen Wegen herunter und dachte an das, was Reas erzählt hatte. Es hatte lange genug gedauert, doch inzwischen konnte sie wieder an ihn denken, ohne ihn oder sich oder die Welt zu hassen. Er war nicht schuld am Tod ihrer Tante, das war Enric, und das Schwein würde eines Tages seine gerechte Strafe erhalten. Ihre Mutter – nun, Kaia hatte selbst
erlebt, wie unbeholfen Reas mit seinen menschlichen Gefühlen umgegangen war. Sie glaubte ihm, wenn er sagte, dass er nicht verstanden hatte, was ihre Mutter für ihn empfand. Und Kaia … Wenn er nur wüsste, dass ihre Gefühle sich nie geändert hatten, dass sie nur unter dem Einfluss der Angst all diese verletzenden Dinge gesagt hatte … Unter Phobos’ Einfluss. Reas und auch Felis hatten vom Gott der Angst erzählt, dessen Mission es war, die Menschen zu unterwerfen. Nun, Phobos hatte einen starken Bann auf Vala gelegt, das war nicht zu leugnen. Ob er auch Hemera in seinem Würgegriff hatte? War das der Grund für den harten Winter? Kam Reas deswegen nicht mehr, nicht einmal, wenn sie schlief?
Sie musste Reas suchen. Zusammen würden sie einen Weg finden, Phobos’ Machenschaften ein Ende zu bereiten. Doch wie kam sie nach Hemera? Sie meinte, sich zu erinnern, dass Menschen in den Träumen nach Hemera gehen konnten. Nicht jedoch sie. Im Schlaf wurde sie von Albträumen gequält, die ihr Enric zeigten, und den Tod ihrer Tante …
Felis. Felis hatte davon geredet, dass ihm die Vögel etwas zutrugen, dass die Anemoi in Menschengestalt auf Vala wandelten … Wie verlässlich war sein Wissen? Reas’ Brüder waren von Phobos gefangen, oder nicht? Aber die Vögel … Felis war die einzige Chance, die Kaia hatte, etwas über den Weg nach Hemera herauszufinden. Sie würde warten, bis der Schnee ein wenig getaut war, sodass sie das Dorf verlassen konnte. Dann würde sie nach Felis suchen. Aber nicht allein. Allein wäre sie dort draußen verloren.
»Fiora!« Kaia schlich in die Küche, wo Fiora mit dem Abwasch beschäftigt war. »Fiora, hör mal. Du bist doch nur hier, um von Enric wegzukommen, oder?«
Fiora runzelte die Stirn. »Ursprünglich, ja. Wieso?«
Kaia überlegte. Fiora war zu rational, zu erwachsen, obwohl sie beinahe zehn Jahre jünger als Kaia war … Wie sollte sie
glauben, was selbst in Kaias Ohren wie ein Hirngespinst klang? Egal. Sie musste es versuchen. »Fiora, was weißt du über die Anemoi?«
»Die Windgötter?« Fiora lachte. »Ammenmärchen. Warum fragst du?«
»Ich bin einem von ihnen begegnet.« Kaia hielt gespannt die Luft an.
Fiora lachte. »Ich dachte, dein Fieber wäre längst gesunken.«
»Ich mache keine Witze.«
»Ich auch nicht. Du glaubst doch nicht wirklich daran? Wo willst du denn bitteschön einem imaginären Gott begegnet sein? Hier?« Sie ließ ihren Blick in der winzigen Küche umherschweifen. »Wohl kaum.«
»Auf dem Gutshof.«
»Kaia.« Fiora ging zu ihr und sah ihr prüfend in die Augen. »Geht es dir gut? Bist du krank?«
»Ich bin gesund! Mir fehlt nichts!« Kaia musste sich zusammenreißen, um nicht wie ein kleines Mädchen mit dem Fuß aufzustampfen. »Erinnerst du dich an den Tag, an dem Pfarrer Maius mit einem neuen Jungen an unseren Hof kam? Der mit den langen, braunen Haaren?«
»Der dürre Bettler? Aus dem Armenhaus?« Fiora zuckte mit den Schultern. »Sicher. Und?«
»Das war er. Reas. Er war es auch, der in der Nacht bei mir war … Die Nacht, in der ich mit Pfarrer Maius ging.«
»Dein Liebhaber? Der grauhaarige Kerl? Der soll der gleiche gewesen sein wie der Bettler? Nimm es mir nicht übel, Kaia, aber ich glaube, du fantasierst dir da etwas zusammen. Pfarrer Maius –«
»Pfarrer Maius kennt ihn auch! Als Anemos, aber er redet nicht darüber. Wenn man ihn fragt …« Kaias Stimme brach weg.
»Die Peitsche, ich weiß. Deswegen hörst du lieber auf, dir eine Wunschwelt zusammenzuspinnen, und legst eine zusätzliche Gebetsstunde für den Einzigen ein.«
»Du glaubst doch nicht wirklich an den Einzigen? Fiora, das ist Phobos, der Gott der Angst, der die Menschen im Griff hat und uns damit regiert!«
»Hör auf!« Fiora hielt sich die Ohren zu. »Hör auf, Unfrieden reinzubringen. Ich will das alles nicht hören. Hier ist jetzt mein Zuhause und ich spiele nach den Regeln. Ich möchte nichts anderes hören!«
Kaia zog Fioras Hände herunter und hielt sie fest. »Wir können weglaufen, wir beide zusammen, wir helfen uns gegenseitig. Ich weiß, wo Felis sich aufhält, und dort können wir auch Arbeit finden und in Ruhe leben. Nicht wie hier, wo man permanent bestraft wird! Fiora …« Ihre Stimme wurde flehend. »Bitte hilf mir und hilf dir dadurch selbst! Du willst doch nicht wirklich hierbleiben?«
Fiora zog ihre Hände aus Kaias Griff. »Lass mich, Kaia, ich fange nicht nochmal ein neues Leben an, dafür habe ich nicht die Kraft. Einmal reicht. Es ist erträglich hier, das reicht.«
»Erträglich? Aber wenn es doch woanders viel schöner sein kann? Menschlicher? Ohne Angst?«
»Dass du nie genug kriegen kannst!« Fiora schrie beinahe. Sie biss sich auf die Lippen. »Du, die das beste Leben von allen hatte. Deine Tante hatte dich dein Leben lang beschützt, Enric hatte seine Drecksfinger von dir gelassen, alles war perfekt. Und du nimmst dir einen Liebhaber und ruinierst dir alles! Du bist genau dort, wo du hingehörst. Hör endlich auf, nach etwas zu streben, was Frauen wie uns nicht zusteht!«
Der Hass in ihrer Stimme ließ Kaia erstarren. War Fiora etwa eifersüchtig? »Fiora, ich …«
»Ich, immer nur ich!« Fiora stapelte die gespülten Teller aufeinander, dass sie klirrten. »Es geht immer nur um dich. Wie es anderen geht, bedenkst du nicht.«
Tränen liefen Kaias Wangen herunter. »Aber ich will dich doch mitnehmen. Wir können frei sein.«
»Frei.« Fiora wandte sich wieder dem Abwasch zu. »Frei werden wir erst durch den Tod.«