Kapitel 28 – Reas
Es war der dritte Abend in Folge, an dem Reas den Pfarrer abends in seinem Zimmer beobachtete. Da es ihm verboten war, nach Vala zu kommen, musste er sich auf das Beobachten beschränken, doch er war nach wie vor sicher, dass der Pfarrer der Schlüssel war, Phobos’ Macht zu brechen. Allerdings musste er vorsichtig sein. Der Pfarrer hatte Kaia in seiner Gewalt, und Phobos hatte bewiesen, dass er Einfallsreichtum bei den Methoden besaß, Menschen zu brechen.
Reas ließ sanften Schnee auf den Hof niedergehen. Wenn Kaia morgen früh wieder Schnee räumen musste, konnte sie wenigstens Schuhe tragen – und er konnte ihr nah sein. Nicht wirklich, nicht körperlich, aber er hatte gelernt, bis zu einem gewissen Grad seine Kräfte zu beherrschen und ihr mit behutsamen Bewegungen der Schneemassen zu zeigen, dass es ihn wirklich gab, und dass er an ihrer Seite war. Manchmal sprach sie leise mit ihm und wurde gelobt, dass sie sogar beim Schneeräumen Gebete zum Einzigen sprach.
Ein leichtes Lächeln umspielte Reas’ Mundwinkel. Wenn die anderen wüssten …
Er konzentrierte sich wieder auf den Pfarrer, der geistesabwesend hinaus in das sachte Schneetreiben starrte. Der Schatten hatte seine Augen verlassen, und ob Phobos bei anderen Menschen seine Untaten ausüben oder in einem Augenblick bei Reas auftauchen würde, konnte keiner wissen. Reas musste den Zeitpunkt nutzen. Er stellte sich vor, wie das Fenster kalt wurde. Noch kälter. Dazu Feuchtigkeit. Und Staub.
Eine einzelne Eisblume kroch am Fenster empor. Reas blickte den Pfarrer an, der gebannt auf den wachsenden Kristall starrte. Irgendetwas war da … eine Sehnsucht … Reas konnte Gefühle spüren, die nicht seine eigenen waren. Wieder diese seltsame Traurigkeit, die nichts mit ihm zu tun hatte, sondern es waren die Gefühle jenes Menschen dort drüben. Reas nahm wahr, wie seine dunkelgoldene Hülle anfing, hell zu leuchten. Da war wieder dieses rote Pulsieren in seiner Brust. Sein Herz, das er seit seiner Verbannung verleugnet hatte, schlug stetig in seiner Brust. Er ließ sich von dem Gefühl einnehmen, und der farnförmige Eiskristall wuchs zu einer Ringelblume.
Reas blinzelte verwundert. Das war keine Form, die Eisblumen annehmen konnten. Und doch war eine solche Blume hier, am Fenster des Pfarrers, der immer noch gebannt hinsah. Seine Augen begannen zu glitzern, und eine einzelne Träne lief seine Wange herunter. Obwohl jener Mann Greueltaten vollbracht hatte, die Reas schaudern ließen, pochte Reas’ körperloses Herz schmerzhaft. Seine goldene Hülle verlor ihr Leuchten und wurde … Reas hielt den Atem an. Als er ihn nach einer gefühlten Ewigkeit ausstieß und nach Luft rang, hob und senkte sich der Brustkorb – seiner menschlichen Hülle. Er schlang die Arme um seine Brust und spürte Widerstand. Sein Körper war zurück. Sein Menschenkörper, der nur auf Vala existierte. In Hemera waren die Götter körperlos, und doch war er hier, nicht auf Vala.
Er sah an sich herunter, und silberne Strähnen fielen in seine Augen. Eindeutig sein Körper. Seine Haut, sein Haar, seine Lunge, sein … Herz, das übervoll war mit eigenen, verwirrten Gefühlen und der Traurigkeit des Pfarrers. Reas blickte zurück nach Vala. Der Pfarrer hatte seine Hand an die Eisblume gelegt. Die Kälte färbte seine Fingerspitzen blau, doch er zog seine Hand nicht fort. »Ariana«, flüsterte er. »Vergib mir.« Tränen begannen nun ungehindert über sein Gesicht zu laufen, und Reas’ Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Wo die Körperwärme des Pfarrers das kalte Fenster berührte, schmolz der Eiskristall, und Wassertropfen liefen wie Tränen am Fenster herab. Reas wollte die Blume nachwachsen lassen, doch seine Kräfte gehorchten ihm nicht. Er musste sich mehr konzentrieren, er war durch das Mitgefühl abgelenkt gewesen. Anscheinend eine Nebenwirkung des Menschenkörpers. Doch er hatte gelernt, seine Kräfte von Hemera aus zu kontrollieren, er würde auch lernen, aus einem Menschenkörper heraus seine Kräfte zu wirken, es war nur eine Frage der Konzentration. Kälte, das Fenster, die Feuchtigkeit, die zu einer Blume wachsen musste. Kälte …
Ein Schrei erschütterte Hemera. So viel Zorn lag darin, dass Reas stolperte und zu Boden stürzte. Das Fenster im Zimmer des Pfarrers zersprang und tobender Eisregen flutete das Zimmer. Phobos erschien neben Reas, und es war sein schwarzer Nebel, der den Schrei geformt hatte. »Verflucht seist du, Reas! Hat dir unsere Abmachung nicht gereicht? War es nicht genug, dass ich deine Menschenfrau von den schlimmsten Albträumen verschont hatte, dass ich deinen Bruder nur im Brunnen und nicht auf der Streckbank festhielt, dass ich dir erlaubt habe, den Winter abzuschwächen?« Er durchmaß mit großen Schritten den Raum. »Nein, du musstest mich herausfordern, musstest in deine menschlichen Gefühle eintauchen, sogar Mensch werden – hier, in Hemera! Seit Anbeginn der Zeiten hat es das nicht gegeben, dass ein Gott seinen Menschenkörper nach Hemera holte! Hast du kein Schamgefühl?«
Reas stützte sich auf dem Boden ab und richtete sich halb auf. »Ich habe unsere Abmachung nicht verletzt«, keuchte er. »Ich bin in Hemera geblieben. Du kannst es mir nicht verdenken, dass ich lerne, mit meiner Verbannung klarzukommen.«
»Klarkommen, ja. Ausnutzen, nein!« Phobos’ Stimme war nur noch ein schrilles Kreischen und zerriss die Trommelfelle in Reas’ menschlichen Ohren. Warmes Blut floss seinen Hals herunter, und bevor Reas seine Verwunderung über die körperliche Reaktion wirklich zur Kenntnis nehmen konnte, war Phobos verschwunden. Reas wollte den Eisregen aufhalten, doch seine Kräfte gehorchten ihm nicht. Er hielt seinen Kopf und versuchte, die Schmerzen auszublenden, doch sie schossen durch seinen Körper und ließen ihn wieder zu Boden sinken. Durch halbgeschlossene Augen sah er, wie Phobos auf Vala wütete. Notos wurde aus dem Brunnen geholt und in die Folterkammer gezerrt, Kaia schrie und weinte in Albträumen, der Pfarrer riss das Kaminbesteck von der Wand, stürmte in den Schlafsaal der Dienerinnen und begann, wahllos auf die Frauen einzuschlagen. Und alles, während draußen ein wilder Schneesturm die weiße Decke der Unschuld über Vala breitete.
Kaia wurde durch die Schreie wach, nahm mit einem schnellen Blick wahr, was geschah, sprang auf und rannte auf die Tür zu. Das Kaminbesteck traf sie an der Schulter und riss eine blutige Wunde in ihren Oberarm. Sie taumelte, stützte sich an der Tür ab und war draußen. Im Schneetreiben sah Reas sie kaum noch. Kaia rannte die Straße entlang, auf der sich der Schnee immer höher auftürmte. »Reas! Hör auf!«, schrie sie. »Hör auf, bitte …« Ihre Stimme knickte weg, als eisige Kälte nach ihrer Kehle griff. Sie taumelte zurück ins Haus und schloss die Tür hinter sich. Reas schob seinen eigenen Schmerz zur Seite und beschwor seine Kräfte, ihm zu gehorchen, den Schnee weniger werden zu lassen, den Wind niederzulegen, doch nichts änderte sich. Die Verzweiflung schloss ihren eisernen Griff um seine Brust, doch Reas würde nicht nachgeben. Es würde eine Lösung geben, es gab immer eine. Was machte es schon, dass er im Menschenkörper seine Kräfte nicht von Hemera aus kontrollieren konnte? Das hatte er früher auch nicht gekonnt.
Er würde nach Vala gehen, schließlich hatte er seinen Körper und Phobos konnte ihn nicht halten. Das Schlimmste war schon geschehen, schlimmer konnte es nicht kommen. Phobos’ Drohungen hatten keine Wirkung mehr, sie konnten ihn nicht an Hemera binden. Ein Gedanke würde reichen, und er würde auf Vala sein, mit seinem Menschenkörper, wie immer. Wie seit dem Anbeginn der Zeit. So war es immer gewesen, so würde es jetzt sein. Er würde Kaia beistehen, und gemeinsam würden sie Phobos in die Schranken weisen – als Menschen auf Vala.
Ein Gedanke. Ein einziger Gedanke, vielleicht zwei. Oder drei.
Nichts geschah. Er konnte nicht nach Vala.
Es musste funktionieren. Es hatte immer funktioniert, und nur, weil er als Gott Gefühle zuließ, durfte ihn das nicht all seiner Kräfte berauben. Aber es beraubte ihn nicht. Der Gedanke kroch eiskalt seine Wirbelsäule empor, bis er in seinem Bewusstsein angekommen war. Er war im Besitz seiner Kräfte – konnte sie nur nicht kontrollieren. Das war der Grund, warum es Göttern verboten war, den Menschen zu nahe zu kommen. Was Phobos ihm als Spott entgegengeworfen hatte, war die reine Wahrheit gewesen, und Reas musste es auf bittere Weise erfahren. Er war ein Mensch, in Hemera. Sein Körper legte ihn in stärkere Ketten, als sein Geist es je gekonnt hatte.
Dieser verdammte Menschenkörper! Reas schlug wütend auf den Boden und spürte, wie die Knochen in seinen Fingern brachen. Als alles um ihn herum schwarz wurde, hörte er noch Kaias Stimme: »Ich gehe zu Felis und dann werden wir dich finden. Du wirst das alles beenden, du verfluchter Strohkopf.«
Reas’ Gedanken wurden trübe und wirr. Ein Lächeln spielte durch den Nebel der Benommenheit um seine Lippen. Sie hatte ihn vorher schon »Strohkopf« genannt, und es waren schöne Erinnerungen gewesen. Er schloss genießerisch die Augen und der Schmerz hörte auf.